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Differenzialdiagnose von Schmerzen des Bewegungsapparats bei Kindern und Jugendlichen
Von PD Dr. med. Rotraud K. Saurenmann
Schmerzen des Bewegungsapparats, Hinken oder Weigerung zu stehen oder zu gehen sind die Hauptkonsultationsgründe bei 6 bis 8 Prozent der Konsultationen in der pädiatrischen Grundversorgung (1, 2). Bei älteren Kindern sind sogar bis zu 36 Prozent der Konsultationen auf muskuloskeletale Schmerzen zurückzuführen (3). Trotzdem fristen die Ausbildung zur Untersuchung des Bewegungsapparats von Kindern und die Kenntnisse über die Differenzialdiagnose der dort anzutreffenden Störungen ein Mauerblümchendasein, sowohl im Medizinstudium als auch in der pädiatrischen Ausbildung. Eine Unter-
suchung in England zeigte, dass bei Klinikeintrittsuntersuchungen eine Prüfung des Bewegungsapparats nur in 4 Prozent der Fälle dokumentiert ist, die Untersuchung von Herz und Lunge dagegen in weit über 90 Prozent. In diesem Artikel soll versucht werden, einerseits ein paar generelle Überlegungen zur Genese und Bedeutung von Schmerzen des Bewegungsapparats bei Kindern zu machen und andererseits einen praktischen Weg zum konkreten Vorgehen bei der Abklärung aufzuzeigen.
M an kann sich der Differenzialdiagnose von Schmerzen am kindlichen Bewegungsapparat auf verschiedene Weise nähern: über die zugrunde liegende Pathologie, dann über die anatomische Lokalisation und schliesslich zusätzlich über das Alter des betroffenen Kindes. Je nach Präsentation eines Falles wird man sich auf verschiedenen Wegen zur Diagnose vortasten müssen, weshalb alle Aspekte für den Kliniker wertvoll sind. Das Symptom Schmerz tritt im Allgemeinen nicht allein auf, sondern wird von
anderen Veränderungen begleitet, die für das Finden der richtigen Diagnose entscheidende Hinweise liefern. Allein der Schmerz wird nur im Ausnahmefall zu einer Diagnose führen, da die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung individuell so verschieden ist, dass der Faktor Schmerz nur sehr schlecht mit der Art und dem Schweregrad einer somatischen Störung korreliert. So werden zum Beispiel bei Kindern mit juveniler Arthritis Schmerzen nur in 30 Prozent der Fälle angegeben (4). Sobald jedoch neben dem Schmerz noch andere Veränderungen wie
eine Schwellung, Rötung, Überwärmung, Muskelatrophie oder Funktionseinschränkung festzustellen sind, wird eine somatische Ursache der Schmerzen hochwahrscheinlich, wohingegen bei einer alleinigen Manifestation mit Schmerzen in 90 Prozent der Fälle die Diagnose einer unspezifischen mechanischen Überlastung (overuse syndrome) gestellt wird (4).
Ursache von Schmerzen des Bewegungsapparats im Kindesalter
Trauma Traumata aller Art wie Frakturen, Distorsionen, Luxationen und Weichteilverletzungen sind die Ursache für fast die Hälfte aller Konsultationen wegen Schmerzen des Bewegungsapparats bei Kindern und Jugendlichen (3). In den meisten Fällen werden das Kind selbst oder seine Begleitpersonen bereits eine Ursache respektive Erklärung für die Schmerzen liefern, und die Diagnose stellt keine wesentlichen Probleme. In einzelnen Fällen kann aber die Anamnese irreführend sein, indem beispielsweise kein Trauma erinnerlich ist (Fremdkörper, Ermüdungsfrakturen) oder fälschlicherweise ein zeitlich assoziiertes Bagatelltrauma in Ermangelung einer anderen leicht ersichtlichen Ursache für den auslösenden Faktor gehalten wird. In diesen Fällen besteht die ärztliche Kunst darin, zu entscheiden, ob Schmerzen und die gefundene Pathologie mit dem geschilderten Unfallhergang hinreichend erklärt sind.
Infektionen Eine wichtige und dringliche Differenzialdiagnose sind Infektionen. Neben den
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offensichtlichen Situationen mit lokalen meist von einer Hautverletzung ausgehenden Infektionen sind insbesondere die septische Arthritis und die Osteomyelitis wichtige und dringliche Differenzialdiagnosen. Obwohl als Regel gilt, dass eine septische Arthritis umso wahrscheinlicher ist, je jünger das Kind ist, kommen beide bakterielle Infektionen in jedem Alter vor und müssen differenzialdiagnostisch erwogen werden. Fremdkörper können per se oder durch eine durch sie hervorgerufene Entzündung mit oder ohne Infektion zu Schmerzen führen. Auch hier kann die Anamnese entscheidend sein, um die Möglichkeit eines Fremdkörpers zu erwägen. Neben den lokalen Manifestationen sind natürlich auch systemische Infektzeichen wie Fieber, reduzierter Allgemeinzustand und erhöhte Infektparameter wichtige differenzialdiagnostische Hinweise. Abhängig von der Virulenz des Erregers kommen aber auch immer wieder Fälle mit tagebis wochenlangem Verlauf und ausgesprochen wenig systemischen Infektzeichen vor. Spezialformen der bakteriellen Infekte sind die Lyme-Borreliose und die Tuberkulose, die beide zu verschiedenen Skelettmanifestationen führen können. Die Borrelien werden von Zecken übertragen, die bis zu einer Höhe von 1000 m über Meer in Mitteleuropa ubiquitär vorkommen. Ein Zeckenbiss und/oder Erythema chronicum migrans ist nur in etwa 50 Prozent der Fälle erinnerlich. Bei typischer Klinik – rezidivierende Arthritis in einem oder mehreren grossen Gelenken – wird die Diagnose durch den Nachweis hochspezifischer Antikörper gegen Hüllenproteine des Bakteriums (Western- oder Immunoblot) gestellt. Eine aktive Tuberkulose kann zu einer parainfektiösen Reaktion mit Arthralgien und sogar Polyarthritis führen. Sekundäre Tuberkulosemanifestationen wie tuberkulöse Arthritis und Spondylitis sind bei immunkompetenten Kindern rar. Sehr häufig hingegen sind parainfektiös auftretende, transiente Entzündungsreaktionen am Bewegungsapparat, wie Arthralgien, Arthritiden und Myositiden, manchmal auch Vaskulitiden, die unabhängig von der Art des Erregers im Rahmen der immunologischen Reaktion auf-
treten können und normalerweise kurzdauernd und selbstlimitierend verlaufen.
Neoplasien Neoplasien können lokalisierte (Osteosarkom und Ewing-Sarkom, Weichteilsarkom, benigne Knochenzysten, Osteoid-Osteom, kartilaginäre Exostosen/Osteochondrome) oder diffuse skeletale Beschwerden verursachen, sei es durch Metastasen (z.B. Neuroblastom), primär diffusen Knochenbefall (z.B. Histiozytose) oder Zellhyperplasie im Markraum (Leukämie, Neuroblastom). Gerade die Leukämien gehören deshalb zur wichtigen Differenzialdiagnose bei muskuloskeletalen Beschwerden im Kindesalter. Typischerweise indolent ist das häufig als Malignom verdächtigte, aber benigne und selbstlimitierende Granuloma anulare, ein sehr derber, subkutan oder kutan gelegener Knoten, der sich beim Wachstum zentral abheilend in einen Ring wandelt und histologisch ähnlich einem Rheumaknoten aus Riesenzellen besteht.
Entzündlich-rheumatische Krankheiten Die juvenile idiopathische Arthritis ist die häufigste rheumatische Erkrankung im Kindesalter. Anders als oft vermutet liegt der Erkrankungsgipfel im Kleinkindesalter (1–4 Jahre). Auch die juvenile Dermatomyositis und der juvenile systemische Lupus erythematodes manifestieren sich sehr häufig mit Gelenk- und Muskelschmerzen. Ebenso präsentieren sich die Vaskulitiden – ob spezifisch wie die Purpura Schönlein-Henoch, das Kawasaki-Syndrom oder die unspezifischen parainfektiösen Vaskulitiden – häufig mit Gelenk- und Gliederschmerzen, oft verbunden mit Schwellungen.
Mechanisch-orthopädische Störungen Verschiedenste anatomische Varianten wie zum Beispiel ein Scheibenmeniskus, tarsale Koalitionen und ossäre Entwicklungsstörungen wie Osteonekrosen sowie Osteochondritis dissecans und Apophysitiden können zu Beschwerden des Bewegungsapparats führen und manifestieren sich in unterschiedlichen Altersabschnitten. Etwa ab dem Schulalter gehören
Abbildung 1: Fremdkörper: 11-jähriges Mädchen, Zuweisung aufgrund seit 3 Monaten bestehender schmerzhafter Schwellung der Grosszehe links. Gefragt nach der genauen Situation, in der sie den Schmerz zum ersten Mal verspürt hat, berichtet die Patientin, sie sei mit ihrer Freundin auf dem unbehandelten Holzfussboden im Dachstock herumgesprungen, als sie plötzlich einen starken stechenden Schmerz verspürt habe. Sie habe einen Holzsplitter vermutet, aber an der Zehe nichts sehen können ausser einem kleinen Blutstropfen. Die Mutter habe kurz darauf gar keine Veränderung an der Zehe mehr finden können.
auch mechanische Überlastungssyndrome, klassisch beispielsweise das Anterior-knee-pain-Syndrom bei jungen Mädchen, zu den häufigsten Ursachen für Schmerzen am Bewegungsapparat (3). Neurogene Schmerzen des Bewegungsapparats sind selten. Mögliche Ursachen sind Nervenkompression (z.B. Carpaltunnelsyndrom, Diskushernie, Spondylolisthesis) oder Neuritiden (z.B. parainfektiös, kindliche Periarteritis nodosa). Hämatologische Störungen mit häufigen muskuloskeletalen Beschwerden sind in erster Linie die Hämophilien sowie die Sichelzellanämie. Aber auch die Thalassämie kann eine schmerzhafte Arthropathie hervorrufen. Andere angeborene Störungen mit häufigen Skelettmanifestationen sind die kongenitalen Osteochondrodysplasien, die Mukopolysaccharidosen und Sphingolipidosen.
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Auch verschiedene Stoffwechselstörungen wie Hypo- und Hyperthyreose oder Diabetes mellitus können mit Arthralgien einhergehen, deren Ursache letztlich noch weitgehend unklar ist. Primäre arterielle Durchblutungsstörungen als Ursache für Schmerzen des Bewegungsapparats sind bei Kindern eine Rarität. Der Vollständigkeit halber erwähnt sei die Takayasu-Arteriitis, die meistens zu einer langsamen Verengung/Verschluss von aortennahen Arterien führt. Typischerweise sind die Brachialarterien vom Verschluss befallen, was der Krankheit den Namen «pulseless disease» gegeben hat. Betroffen sind überwiegend Mädchen ab der Pubertät. Allerdings kann auch ein Kawasaki-Syndrom neben den Koronararterien grosse Körperarterien befallen und dort zu Aneurysmen und im Verlauf allenfalls zu arteriellen Verschlüssen führen. Thrombophilien, angeboren oder erworben, oder eine Sichelzellanämie müssen bei einem thrombotischen Verschluss differenzialdiagnostisch erwogen werden.
«Wachstumsschmerzen» Eine häufig gestellte, wissenschaftlich aber nach wie vor unklare Diagnose sind die sogenannten Wachstumsschmerzen. Sie sind gekennzeichnet durch ein unregelmässiges Auftreten ausschliesslich am Abend oder in der Nacht, wechselnde Lokalisation in einem oder beiden Beinen (die Arme sind sehr selten betroffen), Fehlen von fassbaren körperlichen Veränderungen und völlige Beschwerdefreiheit am nächsten Morgen. Je nach Studie sind bis zu 36 Prozent der Kinder davon betroffen, der Altersgipfel dieser Symptomatik liegt im Vorschul- bis Kindergartenalter (5). Bezüglich der Genese wurden verschiedenste Hypothesen geprüft, mit der Schlussfolgerung, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um ein ursächlich einheitliches Krankheitsbild handeln dürfte. Möglich ist ein Zusammenhang mit einem Restless-LegsSyndrom bei einem Teil der Betroffenen, wohingegen Durchblutungsstörungen oder ein Zusammenhang mit dem Wachstumshormonspiegel unwahrscheinlich sind (6, 7). Das Beschwerdebild verläuft selbstlimitierend und ohne Folgeschäden, kann aber im Einzelfall wegen
der gestörten Nachtruhe für die betroffenen Familien sehr belastend sein.
Chronische regionale Schmerzsyndrome (chronic regional pain syndromes) Dieser Begriff hat sich in den letzten Jahren als Oberbegriff für eine Reihe von Krankheitsbildern eingebürgert, die gekennzeichnet sind durch ausgeprägte Schmerzen ohne morphologisch fassbares Korrelat wie zum Beispiel kindlicher M. Sudeck, Reflex Sympathetic Dystrophy, Erythromelalgie und so weiter. Häufig, aber nicht immer, sind auch unterschiedlich ausgeprägte vegetative Veränderungen, Störungen der Durchblutungsregulation und Dysästhesien vorhanden, die teilweise im Anschluss an ein meist leichtes Trauma der betroffenen Region auftreten. Charakteristisch ist die Zunahme der Schmerzsymptomatik über Tage bis Wochen, das Nichtansprechen auf Analgetika aller Art. Auch eine Ruhigstellung in Schiene oder Gips – obwohl sehr häufig als wohltuend empfunden – führt nicht zur Heilung. Obwohl der Pathomechanismus letztlich noch nicht geklärt ist, dürfte es sich am ehesten um ein multifaktorielles Geschehen mit einer gestörten zentralen Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung handeln, für das neben Umweltfaktoren auch eine genetische Prädisposition nötig ist. Die Behandlung besteht in einer Kombination von aufbauender Physiotherapie mit Schmerzdesensibilisierung, Schulung der Körperwahrnehmung und unterstützender Psychotherapie. In den meisten Fällen handelt es sich um eine vorübergehende, pubertäre Störung. Die Prognose ist – insbesondere verglichen mit Schmerzsyndromen im Erwachsenenalter – grundsätzlich sehr gut, obwohl die Genesung in Einzelfällen sehr lange dauern kann.
Differenzialdiagnose aufgrund des Alters des Kindes
Viele Krankheiten haben eine bestimmte Altersprädilektion, die man sich bei der Differenzialdiagnose zu Nutzen machen kann. So wird man bei einem Neugeborenen mit akuten Schmerzen im Hüftgelenk in erster Linie an eine septische Ar-
thritis denken, bei einem sechsjährigen Patienten an eine Osteonekrose (M. Perthes) und bei einem 13-Jährigen an eine Epiphysiolyse. Die Tabelle gibt einen Anhaltspunkt über die altersabhängig häufigsten Differenzialdiagnosen.
Vorgehen bei der Abklärung
Anamnese Anatomische Lokalisation des Schmerzes Ältere und vor allem verbal ausdrucksfähige Kinder können ihren Schmerz so gut beschreiben, dass es nicht schwierig ist, die Lokalisation auszumachen. Je jünger das Kind und je unreifer seine Ausdrucksfähigkeit und seine Körperwahrnehmung sind, desto schwieriger kann es aber sein, die genaue schmerzhafte Stelle zu lokalisieren. Umso wichtiger sind in solchen Fällen die Beobachtungen der Betreuungspersonen:
In welchen Situationen hat das Kind Schmerzen? Können die Schmerzen durch Manipulationen oder Bewegungen ausgelöst werden? Was hilft, die Schmerzen zu beruhigen oder zu vermeiden? Hat sich der Gebrauch von Gliedmassen eingeschränkt oder verändert (Hinken, Krabbeln, Gebrauch der Hände)?
Zeitlicher Verlauf der Schmerzen Anamnestische Angaben über den Verlauf und auch den Tagesverlauf der Schmerzen können differenzialdiagnostisch hilfreich sein:
Akuter oder schleichender Beginn? Schmerzen im Verlauf zunehmend oder stagnierend? Wie sind die Schmerzen im Verlauf des Tages? Sind sie am Morgen oder nach einer längeren Ruheperiode (Mittagsschlaf) besser oder schlechter? Eine morgendliche Steifigkeit oder Schmerzphase deutet auf eine entzündliche Genese der Schmerzen; mechanisch ausgelöste Schmerzen bessern sich während Ruheperioden. Kann das Kind nachts schlafen oder wird es durch die Schmerzen geweckt? Ein gestörter Nachtschlaf kann als Mass für die Beeinträchtigung des Kindes gewertet werden. Ausschliesslich nächtliches Auftreten der Schmerzen ist ein wichtiger
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differenzialdiagnostischer Hinweis (Osteoid-Osteom, «Wachstumsschmerzen»). Funktionelle Einbussen im Zusammenhang mit den Schmerzen geben einen Anhaltspunkt für die Beeinträchtigung des Kindes im Alltag: Ist die Selbstständigkeit des Kindes beeinträchtigt? (Aufstehen aus dem Bett, Anziehen, Körperhygiene, Einnahme von Mahlzeiten, Schulweg) Kann es beim Schulunterricht normal mitmachen? Haben sich die Schulleistungen verändert? Muss es auf Tätigkeiten verzichten, die ihm wichtig sind? Ist der Nachtschlaf gestört? Wie ist die allgemeine Leistungsfähigkeit, Konzentration, Ermüdbarkeit? Wie ist der Appetit? Gewichtsverlust?
Körperliche Untersuchung Prinzipiell soll immer der gesamte Bewegungsapparat untersucht werden, nicht nur die schmerzende Stelle. Zumindest ein kursorischer allgemeinpädiatrischer Status darf natürlich auch nicht fehlen! Eine gute und schnelle Übersicht über den Bewegungsapparat verschafft man sich mit einer normierten Kurzuntersuchung, zum Beispiel dem pGALS, die etwa ab dem fünften Lebensjahr durchgeführt werden kann (8). Eine detaillierte Anleitung zur Durchführung des pGALS kann von der Website der britischen Arthritis Research Campaign: www.arc.org. uk/orders/pubView.asp?ProductID=6965 heruntergeladen werden. Das Kind soll sich für die Untersuchung wenn möglich bis auf die Unterwäsche entkleiden. Die Beobachtung des Anund Ausziehens liefert übrigens häufig nützliche zusätzliche Informationen über funktionelle Einschränkungen, Entwicklungsstand und Selbstständigkeit des Kindes! Bei kleinen Kindern empfiehlt es sich besonders, mit der Untersuchung immer an der am wenigsten schmerzenden Stelle zu beginnen, vorzugsweise möglichst distal an Fingern oder Zehen, um dem Kind Zeit zu geben, sich an die Berührungen und die Nähe des oder der Untersuchenden zu gewöhnen. Zunächst soll versucht werden, die anatomische Lokalisation der Schmerzen näher einzugrenzen. Hinweise geben die Art des Hinkens respektive der Aus-
Abbildung 2: Ermüdungsfraktur: 15-jähriger begeisterter Fussballspieler mit bekannter juveniler Arthritis. Seit 3-4 Wochen schmerzhafte Schwellung im rechten Fuss ohne erinnerliches Trauma. Der Patient vermutet einen Arthritisschub im rechten Sprunggelenk. Eine selbst eingeleitete Therapie mit NSAR führte zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden. Bei der körperlichen Untersuchung werden Schwellung und Überwärmung im Mittelfuss rechts mit Punctum maximum in der Mitte der Metacarpalia III und IV festgestellt.
weichbewegungen: Wie wird der Fuss abgerollt? Schmerzen beim Abrollen führen zu einer Rotation des Fusses nach aussen, wodurch ein Gang ohne Bewegungen im Sprunggelenk, Mittelfuss und Vorfuss möglich wird. Werden die Kniegelenke beim Gehen vollständig gestreckt respektive kann das Kind normal in die Hocke gehen/kauern? Schmerzen in den Kniegelenken führen zu einem Gang mit leicht flektierten Knie- und Hüftgelenken, die Hock- oder Kauerstellung mit maximal flektierten Knien wird vermieden, stattdessen setzt sich das Kind auf den Boden oder spreizt beim Kauern das schmerzhafte Bein seitlich ab. Auf welche Seite neigt sich der Oberkörper beim hinkenden Kind? Um die Gewichtsbelastung beim Gehen möglichst kurz und gering zu halten, wird der Oberkörper normalerweise vom schmerzhaften Bein wegbewegt. Nur bei Beschwerden im Hüftgelenk bewegt sich der Oberkörper über das schmerzhafte Bein, da aufgrund der Konfiguration des Hüftgelenks so der Hebelarm und damit die Gewichtsbelastung verringert werden. Kann das Kind beschwerdefrei sitzen?
Hat es Schmerzen beim Husten, Niesen, Lachen oder beim Hochheben des Gesässes (Windelwechsel)? Schmerzen ausgehend von der Wirbelsäule sind sehr schwierig zu fassen. Häufig findet man einen diffus schmerzreduzierten Allgemeinzustand, zum Teil mit Geh- und Stehverweigerung, aber ohne fassbaren Schmerzpunkt an den Extremitäten. Eine gezielte Untersuchung der Wirbelsäule und gezielte anamnestische Fragen können in solchen Fällen weiterhelfen. Danach folgt eine detailliertere Untersuchung der schmerzhaften Region: Finden sich sekundäre Veränderungen wie Hautverfärbungen, Ausschläge, Schwellung, Überwärmung, Muskelatrophie, lokale Lymphknotenschwellungen? Geht der Schmerz vom Gelenk, vom Knochen oder von der Muskulatur aus? Eine Arthritis ist gekennzeichnet durch eine Schwellung des Gelenks mit oder ohne Gelenkerguss, eine Druckdolenz der Gelenkkapsel (über dem Gelenkspalt testen!) und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung, die bei maximaler Bewegung, also der sogenannten Endphase der Bewegung (Dehnung der Gelenkkapsel), am
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Tabelle:
Altersabhängige Differenzialdiagnose von Schmerzen des Bewegungsapparats bei Kindern
Jedes Alter Trauma parainfektiöses Geschehen Osteomyelitis septische Arthritis Neoplasien (inkl. Leukämie) Spondylodiszitis
Kleinkinder 0–3 Jahre septische Arthritis/Koxitis Hüftdysplasie unbemerkte Frakturen juvenile idiopathische Arthritis
Kinder 4–10 Jahre Osteonekrose (M. Perthes, M. Köhler) Coxitis fugax juvenile idiopathische Arthritis Ermüdungsfrakturen diskoider Meniskus
Adoleszente 11–16 Jahre Epiphysiolyse M. Osgood-Schlatter anteriores Knee-Pain-Syndrome tarsale Koalitionen Ermüdungsfrakturen Osteochondritis dissecans akute Spondylolyse/-listhesis Diskushernie chronische Schmerzsyndrome
deutlichsten ist. Bei muskulären Schmerzen findet sich ein Druck- oder Kompressionsschmerz der Muskulatur, meistens auch eine schmerzhafte Muskelschwäche. Ein Achsenstossschmerz weist auf einen ossären Ursprung der Schmerzen hin. Was bewirken aktive und passive Bewegungen der Region, sind Bewegungsumfang, Stabilität und Funktionen erhalten oder eingeschränkt? Altersspezifische Besonderheiten
Die körperliche Untersuchung kann je nach Alter sehr einfach bis fast unmöglich sein. Vor allem bei Kleinkindern kann die Beobachtung beim Spielen sehr nützlich sein und manchmal mehr Hinweise geben als eine körperliche Untersuchung an einem schreienden und sich wehrenden Kind. Allenfalls können die Eltern angeleitet werden, ihr Kind zu bestimmten Bewegungen oder Handlungen zu animieren, damit eine bessere Beurteilung möglich wird. Kleine Kinder sind ausserordentlich anpassungsfähig. Obwohl sie auf akuten Schmerz heftig reagieren, passen sie sich bei einem chronischen Schmerz der neuen Situation relativ schnell an, ändern ihr Spielverhalten respektive passen ihre physischen Aktivitäten an und lernen rasch, mit Hinken oder Schonen einer Schmerzexazerbation auszuweichen. Die Eltern können ein solches Verhalten dann fälschlicherweise als Besserung interpretieren. Hier ist die objektive Beurteilung des Bewegungsverhaltens durch die Kinderärztin zentral, um den Eltern das Verhalten des Kindes richtig zu deuten und ihnen die trotz vermeintlicher Verbesse-
rung der Symptome anhaltende Dringlichkeit weiterer Abklärungen oder Behandlung verständlich zu machen. Während der Pubertät wiederum können Jugendliche Schwierigkeiten haben, ihre Körperwahrnehmungen zu interpretieren und in einen adäquaten Kontext zu stellen. Jugendliche machen sich sehr viel häufiger, als allgemein angenommen wird, Gedanken darüber, ob ihr Körper oder ihre Gedanken und Phantasien überhaupt «normal» sind. Die Menge und Qualität von Angaben, die von Jugendlichen bei einer Konsultation zu erfahren sind, hängt in diesem Alter stark von der Kommunikationskultur ab, die von den Hauptbezugspersonen – oftmals Gleichaltrige – gepflegt wird. Oft wollen Jugendliche vom Arzt vor allem wissen, ob ihre Sorgen um ihren Körper berechtigt sind oder nicht. Zusammengefasst ist die Differenzialdiagnose der Schmerzen des Bewegungsapparats bei Kindern und Jugendlichen ausserordentlich vielfältig und spannend. Neben dem Wissen um die möglichen Pathologien und ihr unterschiedliches Auftreten im Laufe der Entwicklung des Bewegungsapparats ist aber auch grundsätzliches Wissen um die Variabilität der Entwicklungsabläufe am wachsenden Skelett und die gesamte psychosomatische Entwicklung des Kindes notwendig, um zur korrekten Diagnose zu kommen.
Korrespondenzadresse: PD Dr. Rotraud K. Saurenmann Leitende Ärztin Rheumatologie Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich E-Mail: traudel.saurenmann@kispi.uzh.ch
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