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Schwerpunkt
Sport für adipöse Kinder
Adipositas ist weltweit ein Kernproblem des Gesundheitswesens. Gemäss Definition der Weltgesundheitsorganisation handelt es sich um eine «nicht infektiöse Epidemie» von erheblicher Bedeutung, die auch Kinder betrifft. (1) Die Zahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher hat sich in den letzten Jahrzehnten in Europa vervierfacht. In der Schweiz sind bereits mehr als 20 Prozent der Kinder übergewichtig, 5 bis 8 Prozent sind adipös.
*Pädiatrische Kardiologie, Universitätsspital Genf
Von Dr. med. Nathalie J. Farpour-Lambert*
D ie Ätiologie der Adipositas ist multifaktoriell und basiert auf einer positiven Energiebilanz. Weitere Faktoren, die dazu beitragen, sind: die Erbanlagen; die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft; eine adipöse oder diabetische Mutter; die Abnahme körperlicher Bewegung und die Zunahme sitzender Beschäftigungen wie Fernsehen. Dazu kommen ein mangelndes Ernährungsgleichgewicht, der Verzehr grösserer Portionen, Ängstlichkeit und Schlaflosigkeit. Seltener ist, dass Kinder nach chronischer Krankheit, erlebten Traumen oder in Verbindung mit einem genetischen Syndrom adipös werden.
Wie wirkt sich Adipositas auf das Kind aus?
Bei Kindern und Jugendlichen verursacht das Übergewicht in medizinischer und psychosozialer Hinsicht kurz- und langfristige Komplikationen (1). Das körperliche Erscheinungsbild zieht soziale Ausgrenzung sowie ein vermindertes Selbstwertgefühl nach sich, was sich unmittelbar auf die psychische Entwicklung und das Verhalten auswirken kann. Dazu kommt, dass vor der Pubertät bereits Risikofaktoren für kardiovaskuläre Krankheiten (2) und Typ-2-Diabetes (3) in Erscheinung treten können, wie Dyslipidämie, Hyperinsulinämie, Glukoseintoleranz, Bluthochdruck, endotheliale Dysfunktion und Linksherzhypertrophie. Ausserdem können weitere Komplikationen auftreten wie beispielsweise Schlafapnoe, orthopädische Probleme (z.B. femorale Epiphysiolyse), Hautkrankheiten, Lebererkrankungen oder Cholezystolithiasen sowie psychische
Störungen (Ängstlichkeit, Depression). Die Wahrscheinlichkeit, dass die Adipositas mit ihren Komorbiditäten bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt, ist insbesondere bei Jugendlichen erhöht. Die Behandlung sollte daher so früh wie möglich beginnen.
Behandlungsprinzipien
Behandlungsziel bei Adipositas im Kindesalter ist die korrekte langfristige Einstellung von Gewicht und Körperfettmasse, damit Wachstum und körperliche Entwicklung möglichst normal verlaufen. Dies erfordert vermehrte körperliche Aktivität und eine bessere Ernährung – nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für deren Eltern, was nicht so einfach zu bewerkstelligen ist (4, 5). Die Behandlung muss auf das Alter des Kindes, den Umfang der Adipositas und seinen Entwicklungsstand und auf vorhandene Risikofaktoren und mögliche Komplikationen sowie auf die Motivation der Familie abgestimmt werden. Jahrelang bestand die Behandlung im Wesentlichen darin, die Kalorienzufuhr zu reduzieren und eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen; dabei wurde allerdings nicht nur der Fettanteil gesenkt, sondern auch Muskelmasse und Grundumsatz. Darüber hinaus verursachen restriktive Diäten manche Frustrationen und Komplikationen in den betroffenen Familien, was wiederum zu Störungen des Essverhaltens führen kann. Insgesamt liegen nur wenige qualitativ einwandfreie Studien über reine Ernährungsinterventionen vor, die im Übrigen nur beschränkte Erfolge zeitigen. Dennoch sind energiereiche und
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nährstoffarme Nahrungsmittel (Kekse, Kuchen, Snacks, zuckerhaltige Getränke usw.) eindeutig als Kausalfaktoren der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen erkannt worden, wobei dazu kommt, dass diese Alterstufe gezielten Marketingaktivitäten ausgesetzt ist. Die Behandlung sieht demnach vor, die Auswahl der Lebensmittel zu verbessern (Obst, Gemüse, Verzicht auf industriell verarbeitete Produkte), die Fallgruben der an Kinder appellierenden Werbung zu vermeiden, altersgemässe Portionen einzuführen, die Mahlzeiten zu strukturieren und den Genuss zuckerhaltiger Getränke einzuschränken. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass Änderungen des individuellen Lebensstils sehr schwer umsetzbar sind, vor allem solange gewisse Werbeaktionen nicht gesetzlich limitiert werden. Körperliche Aktivitäten sind für die Wirksamkeit einer Langzeitbehandlung absolut ausschlaggebend (6). Tatsächlich ist die Abnahme des täglichen Energieverbrauchs einer der Faktoren, die zur weltweiten Verbreitung der Adipositas beitragen. Der Energieverbrauch durch körperliche Aktivität spielt in der Energiebilanz – die Gewicht und Zusammensetzung des Körpers bestimmt – eine massgebliche Rolle. Körperlich aktiv zu sein während der Kindheit, hat zudem unmittelbare gesundheitsfördernde Wirkungen auf Herz, Blutdruck und Blutlipide sowie auf die Knochendichte und Muskelkraft, auf Geschwindigkeit und die Koordination sowie das seelische Wohlbefinden und die Selbstachtung, sorgt aber auch dafür, dass körperliche Aktivität im Erwachsenenalter nicht zu kurz kommt (7). Den nationalen Empfehlungen gemäss sollte sich ein Kind zur Förderung seiner Gesundheit täglich mindestens 60 Minuten bewegen, der Erwachsene mindestens 30 Minuten (www.hepa.ch). Die Mehrheit der Bevölkerung erfüllt diese Kriterien jedoch nicht. Mehr als 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen nutzen motorisierte Transportmittel, um zur Schule zu gelangen. Dabei weiss man, dass Kinder, die den Schulweg zu Fuss oder mit dem Velo zurücklegen, physisch wesentlich trainierter und ausdauernder sind. Sitzende Tätigkeiten wie Fernsehen, Videospiele
oder Computerarbeit sind heute fester Bestandteil des Alltagslebens von Kindern und Jugendlichen und stehen in eindeutigem Zusammenhang mit der Adipositas. In der Schweiz verbringen Kinder durchschnittlich 21/2 Stunden pro Tag vor dem Fernseher und 1 Stunde am Computer. Weil jede zusätzliche Stunde, die sitzend verbracht wird, das Adipositasrisiko – wegen mangelnder Bewegung und der ständigen Knabbereien zwischendurch – verdoppelt, sollten die Eltern dafür sorgen, dass ihre Sprösslinge höchstens 1 Stunde pro Tag vor dem Bildschirm verbringen. Adipöse Kinder und Jugendliche verbringen meist weniger Zeit mit Bewegung oder anstrengenderen sportlichen Aktivitäten als normalgewichtige Kinder, und zwar wegen der damit verbundenen Ermüdung und der fehlenden kardiorespiratorischen Ausdauer, aber auch wegen mangelnder Selbstachtung, sozialer Ausgrenzung oder orthopädischer Probleme. Bewegungsprogramme sollten also der Leistungsfähigkeit des Kindes angepasst werden, um der Mutlosigkeit und dem Vereinsamungsgefühl entgegenzuwirken; in Sportvereinen ist das häufig nicht möglich, da hier der Wettbewerb im Vordergrund steht. Bewegungsprogramme, die auf übergewichtige Kinder und Jugendliche zugeschnitten sind, sollten es ihnen ermöglichen, ihre körperlichen Fähigkeiten zu verbessern und sich in einer Gruppe Übergewichtiger wohlzufühlen, ohne sich spöttischen Blicken aussetzen zu müssen (www.sportsmile.ch). Die positive Wirkung mässiger körperlicher Bewegung auf die Körperzusammensetzung und die kardiovaskulären Risikofaktoren zeichnen sich oft schon nach der sechsten Trainingswoche ab, wenn zwei- bis dreimal wöchentlich jeweils 45 bis 60 Minuten trainiert wird. Wird ein solches Programm mehr als vier Monate konsequent durchgeführt, ist es natürlich wesentlich effektiver, vor allem wenn die Übungen durch eine entsprechende Ernährungserziehung ergänzt werden. Noch gibt es nicht genügend Evidenz, dass eine intensivere Schulung auch bessere Auswirkungen zeitigt. Allerdings gehen die positiven Ergebnisse sehr schnell zurück, sobald das Bewegungsproramm eingestellt wird.
Tabelle:
Behandlungsziele
1. Die Ursachen des Übergewichts verstehen (Lebensweise, persönliche und familiäre Anamnese).
2. Körperliche Aktivitäten in der Familie fördern; lernen, den Körper und seine Bedürfnisse wahrzunehmen, sitzende Tätigkeiten einschränken (Fernsehen, elektronische Spiele, Computer).
3. Die Essgewohnheiten der Familie verbessern (Kenntnis und Wahl der Nahrungsmittel, Zeitplan der Mahlzeiten, Grösse der Portionen, Getränke, Zwischenmahlzeiten, Küche).
4. Selbstachtung und Konfliktfähigkeit fördern. 5. Die Elternrolle verstärken. 6. Den Body-Mass-Index (BMI), den Fettanteil
und die Taillenweite reduzieren und die entsprechenden Veränderungen langfristig stabilisieren. 7. Die Entwicklung von Komorbiditäten verhindern oder verzögern.
Aktionen zur Primärprävention mit dem Ziel, die körperliche Aktivität im Alltagsleben zu fördern (Schule, Ortswechsel, Parks, Sportplätze, Freizeit und Sport usw.), sind wichtig, um die Wirksamkeit langfristiger Behandlung zu stärken. Allerdings reichen schulische Interventionen, auch wenn sie alle Schüler einbeziehen, oft nicht aus, um ein übergewichtiges Kind zu behandeln – sie sind jedoch ein ordentlicher Ansporn zur Änderung des Lebenstils.
Die Rolle der Familie
Die Familie ist nach wie vor die Basis für die psychische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, deren Verhalten, Gesundheit und Lebensqualität sie beeinflusst. Übergewicht oder Adipositas bei den Eltern ist demnach ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des kindlichen Übergewichts, der wiederum mit anderen Faktoren wie Erbanlagen, Umwelteinflüssen und elterlichem Verhalten zusammenhängt. In den letzten Jahrzehnten hat unsere Gesellschaft eine grundlegende Wandlung erfahren, die sich auch auf die Lebensweise der Familien ausgewirkt hat; aus diesem Grund ist die Verhaltenstherapie der Familie ein vielversprechender Ansatz. Damit lassen sich der häusliche Lebensstil und die
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häusliche Mikroumwelt verändern und die Elternrolle stärken (Tabelle). Diese Therapie hat einen interdisziplinären Charakter und erlaubt es, die Mittel der Fortbewegung, die familiäre Freizeitgestaltung sowie die Ernährung und die Nahrungsaufnahme (Mahlzeiten und Portionen) zu modifizieren. Obwohl diese Therapie vielversprechende Ergebnisse zeigt, ist die Umsetzung in der Praxis nicht einfach. Voraussetzung für das Gelingen ist die Beteiligung mehrerer professioneller Gruppenleiter und Therapeuten, die sich der Familien annehmen, die Entwicklung der Kinder bewerten und die gemeinsamen Sitzungen moderieren. Auch in der Schweiz sind individuelle oder kombinierte Gruppentherapieprogramme entwickelt worden, der Langzeiteffekt muss allerdings noch nachgewiesen werden.
Übernahme der Therapiekosten durch die Krankenkassen in der Schweiz
Im Januar 2008 wurden ambulante interdisziplinäre Therapieprogramme in die Leistungsverordnung KLV aufgenommen, sodass sie künftig zu den obligatorischen Leistungen der Krankenkassen gehören. Nach einer langen Verhandlungsperiode wurde soeben von Santésuisse, der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), dem Fachverein Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ) und der FMH eine Vereinbarung unterzeichnet. Die Patienten, die an den von der SGP und der AKJ zertifizierten ambulanten interdisziplinären Gruppentherapieprogrammen teilnehmen, erhalten nunmehr ein Jahr lang die Therapiekosten von den Krankenkassen erstattet. Besagte Programme müssen bestimmten klar definierten Kriterien bezüglich Patientenauswahl, Qualität und Bewertung genügen (8, 9). Die Therapieprogramme müssen sowohl medizinische Fachbereiche als auch körperliche Bewegung, Ernährung und Psychologie einbeziehen und umfassen eine interdisziplinäre Betreuung der Kinder und ihrer Eltern, meist im Gruppenverband. Die ganze Familie wird aktiv in den Prozess der Verhaltensänderung eingebunden und lernt, wie sie das Kind in
seinem Alltagsleben wirksam unterstützen kann. Bevor das Programm gestartet wird, muss eine umfassende Bewertung des Gesundheitszustandes sowie der Lebensgewohnheiten des Kindes und seiner Familie vorgenommen werden, gemäss den Leitlinien der nationalen Bewertungskommission. Dazu gehören eine ausführliche persönliche und familiäre Anamnese, eine klinische Untersuchung, eine Blutanalyse, körperliche Leistungstests sowie Fragebogen zur Motivation, zur körperlichen Tätigkeit, zur Ernährung, zu den Gewohnheiten der Familie und zur Lebensqualität. Diese Tests werden nach 6, 12 und 24 Monaten wiederholt; die Ergebnisse werden anonymisiert in eine nationale Datenbank aufgenommen, sodass die Programme miteinander verglichen werden können. Damit sie zertifiziert werden können, müssen die neuen Programme vor dem 15. März oder 15. September mit einem entsprechenden Gesuch bei der Zertifizierungskommission SGP-AKJ (www. swiss-paediatrics.org oder www.akj-ch.ch) angemeldet werden. Über das Gesuch wird innert drei Monaten nach Einreichung entschieden. Um die Behandlung zu optimieren und eine Qualitätskontrolle auf nationaler Ebene zu gewährleisten, koordinieren die Zertifizierungsund Bewertungskommissionen ihre jeweiligen Aktionen. Die Zertifizierung kann rückgängig gemacht werden, falls ein Programm den Anforderungen der nationalen Regelung nicht mehr entspricht.
Schlussfolgerungen
Adipositas bei Kindern und Jugendlichen erfordert dringenden Handlungsbedarf seitens des öffentliche Gesundheitswesens. Die Zeit wird knapp, denn Prävalenz und Komorbiditäten entwickeln sich rasch. Es ist daher unbedingt erforderlich, präventive Massnahmen zu treffen, um die Umwelt der betroffenen Kinder zu verbessern. In allen Bereichen sollten die körperliche Bewegung unterstützt und eine ausgewogene gesunde Ernährung gefördert werden. Diese Massnahmen erlauben zudem, die Wirksamkeit der Behandlung eines übergewichtigen Kindes zu verstärken. Thera-
pien mit dem Ziel, den Lebensstil einer ganzen Familie zu verändern, scheinen hier vielversprechend. Allerdings sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um den langfristigen Nutzen dieser Massnahme zu untersuchen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Nathalie J. Farpour-Lambert Médecin adjointe Présidente du Programme de soins Contrepoids Unité de cardiologie pédiatrique Département de l’enfant et de l’adolescent Hôpitaux Universitaires de Genève Rue Willy Donzé 6, 1211 Genève 14 Tel. 022-382 45 93, Fax 022-382 45 04 E-Mail: nathalie.farpourlambert@hcuge.ch
Literatur: 1. Ebbeling CB, Pawlak DB, Ludwig DS. Childhood obesity: public-health crisis, common sense cure. Lancet. 2002; 360 (9331): 473–482. 2. Aggoun Y, Farpour-Lambert NJ, Marchand LM, Golay E, Maggio A, Beghetti M. Impairment of endothelial and smooth muscle functions appear before puberty in obese children and are associated with elevated ambulatory blood pressure. Eur Heart J. 2008; 29 (6): 792–829. 3. Weiss R, Dziura J, Burgert TS, Tamborlane WV, Taksali SE, Yeckel CW, Allen K, Lopes M, Savoye M, Morrison J, Sherwin RS, Caprio S. Obesity and the metabolic syndrome in children and adolescents. N Engl J Med. 2004; 350 (23): 2362–2374. 4. Spear BA, Barlow SE, Ervin C. Recommendations for treatment of child and adolescent overweight and obesity. Pediatrics. 2007 Dec. 120 Suppl 4: S254–S288. 5. Farpour-Lambert N, Nydegger A, Kriemler S, L’Allemand D, Puder JJ. Comment traiter l’obésité de l’enfant? Importance de la prévention primaire. Rev Med Suisse. 2008: 4. 533–536. 6. Epstein LH. Exercise in the treatment of childhood obesity. Int J Obes Relat Metab Disord. 1995;19 Suppl 4: S117–S121. 7. Strong WB, Malina RM, Blimkie CJ, Daniels SR, Dishman RK, Gutin B, Hergenroeder AC, Must A, Nixon PA, Pivarnik JM, Rowland T, Trost S, Trudeau F. Evidence based physical activity for school-age youth. J Pediatr 2005; 146 (6): 732–737. 8. Farpour-Lambert NJ, l’Allemand D, Sempach R, Laimbacher J. Définition, diagnostic et indications thérapeutiques de la surcharge pondérale de l’enfant et de l’adolescent: Recommandations nationales. Paediatrica 2006, 17 (5): 7–12. 9. Farpour-Lambert NJ, Sempach R, L’Allemand D, Laimbacher J. Thérapie de l’obésité de l’enfant et de l’adolescent: propositions de programmes interdisciplinaires. Paediatrica 2007;18(2): 37–40.
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