Transkript
Schwerpunkt
Neurorehabilitation im Kindesund Jugendalter
Die Neurorehabilitation befasst
Dr. med. Beat Knecht1, 2, Francisca Eugster Büsch1, 3,
Dr. med. Andreas Meyer-Heim1, 4 sich mit den Folgeproblemen der
durch Krankheit oder Verletzung des Nervensystems betroffenen Menschen, wie sie umfassend in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF-CY) (1) beschrieben sind. Ziel der Neurorehabilitation ist die Verbesserung und im besten Fall Wiederherstellung beeinträchtigter körperlicher, geistiger und emotionaler Funktionen sowie die familiäre, schulische und soziale Integration. Besonders bei Kindern ist eine möglichst breite Förderung und Optimierung des langfristigen Entwicklungspotenzials wichtig (2).
Kinder mit Zerebralparesen haben primär motorische Störungen
Im Kindes- und Jugendalter sind angeborene Zerebralparesen (CP) mit einer Prävalenz von 2 bis 3 pro 1000 Lebendgeburten am häufigsten (3). Weniger häufig sind motorische Folgeprobleme nach Hirnverletzungen, wie beispielsweise nach Verkehrs- oder Sportunfällen. Charakteristische motorische Störungen sind Spastizität, Kraftverlust und Koordinationsstörungen mit Auswirkungen auf Haltung, Bewegung, Gang und Greiffunktion sowie Verminderung der Ausdauer. Muskeldysbalancen können zu invalidisierenden Kontrakturen führen. Motorische Störungen beeinflussen die gesundheitliche Entwicklung (Abbildung 1) und sind oft auch von Beeinträchtigungen der Sinnesempfindung, der Kognition, der Kommunikation und des Verhaltens begleitet. Der Schweregrad der körperlichen Behinderung von Kindern mit infantilen Zerebralparesen kann durch das Gross Motor Function Classification System (GMFCS) einfach und gut in fünf Stufen (level I–V) beschrieben werden (4).
ihnen anvertrauten Patienten hin organisieren. Neurorehabilitation wird je nach Schweregrad und Beachtung der Kontextfaktoren ambulant oder stationär durchgeführt. Zur Behandlung zerebraler Spastizität stehen unterschiedlich wirksame Medikamente zur Verfügung, mit denen Spastizität systemisch, regional oder fokal behandelt werden kann. Bei einer spastischen Tetraplegie werden Antispastika wie Baclofen, Tizanidin, Dantrolen oder Benzodiazepine systemisch eingesetzt. Bei hochgradiger Paraspastizität der Beine kann Baclofen intrathekal mit einer in die Bauchwand implantierten Pumpe verabreicht werden. Bei fokaler Spastizität kann in den verkürzten Muskel Botulinumtoxin injiziert oder ein zuführender rein motorischer Nerv mit Phenol 5 Prozent durch Injektion denerviert werden (5, 6).
Welche Therapien sind wirksam?
1Rehabilitationszentrum Kinderspital Zürich, Affoltern am Albis, 2Chefarzt Rehabilitation 3Leiterin Sporttherapie 4Oberarzt Rehabilitation und Leiter REHABResearchGroup
Jedes Kind soll die geeigneten Therapieumfänge gemäss den vereinbarten Therapiezielen und Therapieinhalte erhalten. Der Therapieplan muss zielgerichtet, flexibel, korrigierbar und berufsgruppenübergreifend vereinbart sein. Am ehesten gelingt dies durch feste interdisziplinäre Teams, die sich zu den
Abbildung 1: Einfluss der Motorik auf die Entwicklung (17)
Pädiatrie 1/09 • 6
Schwerpunkt
Abbildung 2: Pediatric Interactive Training System (PITS)
Die medikamentöse Behandlung reduziert zwar die Spastizität, ist per se jedoch nicht in der Lage, die Funktion zu verbessern. Dazu sind zusätzlich Dehnungs-, funktionelle und Kräftigungsübungen unter Anleitung der Physiotherapie notwendig. Häufig sind ergänzend auch Orthesen wie beispielsweise Unterschenkelorthesen beim Spitzfuss zur besseren Steh- und Gehfähigkeit hilfreich.
Bewegung und Aktivität sind wichtig
Bewegung und Aktivität sind für die Gesunderhaltung und Entwicklung des Körpers von Bedeutung. Dies gilt auch für Kinder und Jugendliche mit zerebralen Bewegungsstörungen. Umgekehrt gibt es guten Grund anzunehmen, dass Inaktivität und fehlende Bewegung zu körperlicher Schwäche des muskuloskelettalen Systems und zur Dekonditionierung von Atmung, Herz und Kreislauf bei fehlender Fitness führen. Menschen mit körperlicher Behinderung werden dadurch in ihren Aktivitäts- und Partizipationsmöglichkeiten zusätzlich eingeschränkt (7). Je nach Alter und Verfügbarkeit werden die meisten Kinder mit den weitverbreiteten traditionellen Konzepten zum Beispiel nach Bobath oder Vojta behandelt, wobei das Evidenz-
niveau der Effektivität dieser Konzepte gering ist.
Motorisches Lernen und Trainingslehre
Motorisches Lernen ist der Erwerb motorischer Fähigkeiten und besteht darin, eine dem Kontext angepasste Bewegung zu planen und auszuführen, um ein bestimmtes Bewegungsziel zu erreichen (8). Die Prinzipien des motorischen Lernens beruhen auf guter evidenzbasierter Wirkung. So wurde gezeigt, dass mit Repetition von motorischen Leistungen Qualität und Geschwindigkeit einer Leistung verbessert werden können (9). Ein wirkungsvolles Feedback führt zur Potenzierung des Lernerfolges. Aus der Sportmedizin wissen wir, dass Motivation und positive Verstärkung eine grosse Rolle bei motorischen Lernerfolgen spielen. Übungen sollten aktiv, nicht passiv sein, und sie sollten nach Möglichkeit an der Leistungsgrenze ausgeführt werden. Variabilität auf dem Weg zum Bewegungsziel spielt eine grosse Rolle, einerseits um Langweile zu vermeiden, anderseits kann dadurch das motorische Gedächtnis nachhaltig verbessert werden. Auch die Dosis der verabreichten Therapie hat eine wesentliche Bedeutung, obwohl wir in vielen Fällen nicht wissen, wie viel Therapie ein Kind benötigt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sterr und Freivogel haben gezeigt, dass täglich 6 Stunden funktionelle Therapie zu bes-
seren Ergebnissen führen als nur 3 Stunden (10). Die Dosis im Kraft- und Ausdauertraining sowie im Spielsport soll nach den Prinzipien der Trainingslehre gesteigert werden. Durch Veränderung der Parameter Intensität, Häufigkeit, Umfang und Dauer werden die Variabilität, das Interesse und die Motivation hochgehalten, was in der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen besonders wichtig ist (11).
Moderne Therapieverfahren
Constraint Induced Movement Therapy (CIMT) ist eine in der Rehabilitation von Patienten mit Halbseitenlähmung bereits mit gutem Erfolg angewandte Therapiemethode zur Rehabilitation der Armfunktion. Das Prinzip der Therapie besteht aus einer Ruhigstellung des nicht betroffenen Armes durch eine Unterarmschiene. Damit wird die betroffene Seite gefordert, aktiv zu werden (12). Neue Therapieverfahren, bei denen Repetition und Feedback das Hauptmerkmal darstellen, sind die roboter- und computergestützten Bewegungstherapien in virtueller Umgebung, wie zum Beispiel das Gangtraining mit dem Lokomat oder das Arm-Hand-Training mit dem Pediatric Interactive Therapy System (PITS) (13). Der Pediatric-Lokomat ist mit einem kinderfreundlichen Biofeedbacksystem ausgerüstet, das den Patienten über ihre
Abbildung 3: Lokomat mit virtual-reality-basierter Unterstützung
7 • Pädiatrie 1/09
Schwerpunkt
Abbildung 4: Therapeutisches Klettern
Gehleistung auf dem Laufband auf einem Bildschirm in Echtzeit visuelle Rückmeldungen gibt (Abbildung 3). Das PITS ist eine computergestützte, interaktive Bewegungstherapie zur Verbesserung der Arm- und Handfunktion in virtueller Umgebung (Abbildung 2). Die Patienten greifen mit Spezialhandschuhen (Cybergloves) an beiden Händen bimanuell und interaktiv nach Objekten, die auf dem Flachbildschirm bewegt in Erscheinung treten. Mit den wiederholten und variierenden praktischen Übungen werden die zielgerichteten Bewegungen der Arme sowie Greif- und Loslassfunktionen der Hände verbessert. Meyer-Heim et al. (14) haben gezeigt, dass mit dem Lokomotionstraining mit dem Lokomat Spastizität vermindert, Muskelkraft generiert und Koordination sowie Ausdauer der Gehfähigkeit verbessert werden können. Diese modernen Therapieverfahren genügen allerdings nicht, um Kindern und Jugendlichen mit zerebraler Bewegungsstörung zu besserer Mobilität und höherer Selbstständigkeit zu verhelfen.
Reichhaltiges Therapieangebot in kindgerechter Umgebung
Nach Nilsson et al. (15) erhöht eine reichhaltige Umwelt (enriched environment) bei adulten Ratten die Neurogenese mit vermehrter Aussprossung der
Hirnnervenzellen und des räumlichen Gedächtnisses. In Analogie zu diesem Konzept werden die modernen Therapien in der Neurorehabilitation mit einem vielfältigen Therapieangebot ergänzt. Während die Physiotherapie beeinträchtigte Bewegungen behandelt, fördert die Sporttherapie in Gruppen Kraft, Koordination und Kondition. Sie unterstützt damit die Selbstständigkeit, die sich entwickelnde Persönlichkeit und die soziale Integration der Kinder und Jugendlichen. Sporttherapeuten leiten die medizinische Trainingstherapie, bei der die Kinder und Jugendlichen an Geräten üben. Sie führen Sportgruppen für (Nordic-)Walking, Joggen, Schwimmen und Sportspiele, bieten aber auch Lektionen zur Entspannung an wie zum Beispiel Yoga. Alltagsrelevante Trainingsinhalte, wie Fahrradfahren zur Schulwegbewältigung, Spielen und Klettern (Abbildung 4) auf dem Spielplatz, bereiten die Kinder und Jugendlichen auf ihren Austritt und die Reintegration in ihr familiäres und schulisches Umfeld vor (16). Kinder haben ein Anrecht (Charta für Kinder im Spital), in einer kindgerechten Umgebung und durch speziell für Kinder ausgebildete Therapeuten und Pflegepersonal behandelt zu werden. In Übereinstimmung mit dem Enrichedenvironment-Konzept soll Neurorehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit vielfältigen Therapieangeboten in einer möglichst motivierend gestalteten Umgebung abwechslungsreich durchgeführt werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Beat Knecht FMH Pädiatrie, Physikalische Medizin und Rehabilitation, Chefarzt Rehabilitation Universitäts-Kinderkliniken Zürich Rehabilitationszentrum Mühlebergstr. 104, 8910 Affoltern am Albis E-Mail: beat.knecht@kispi.uzh.ch
Literatur: 1. International Classification of Functioning, Disability and Health, Children & Youth Version: ICF-CY, WHO 2007. 2. AWMF Leitlinien-Register Nr. 070/009: Leitlinie Neurologische Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter. 3. Infantile Zerebralparesen: Diagnostik, konservative und operative Therapie, von Leonhard Döderlein, Springer 2007.
4. Palisano R, Rosenbaum P, Walter S, Russell D, Wood E, Galuppi B. Development and reliability of a system to classify gross motor function in children with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol 1997; 39: 214–223. 5. Jann B. Die Chemodenervation in der Behandlung neurologischer Spätbilder. arthritis und rheuma 2004; 3: 88–91. 6. Criswell SR, Crowner BE, Racette BA. The use of botulinum toxin therapy for lower-extremity spasticity in children with cerebral palsy. Neurosurg Focus 2006; 21: 1–7. 7. Damiano DL. Activity, Activity, Activity: Rethinking our physical therapy approach to cerebral palsy. Phys Ther 2006; 86: 1534–1540. 8. Physiofachbuch Band 2: Bewegungsentwicklung, Bewegungskontrolle. Herausgeber Hüter-Becker A., Thieme Verlag, Stuttgart, 2005. 9. Schindl MR, Forstner C, Kern H. Hesse S. Treadmill training with partial body-weight support in non-ambulatory patients with cerebral palsy. Arch Phys Med Rehabil 2000; 81:301–306. 10. Sterr A, Freivogel S. Motor improvement following intensive training in low functioning chronic hemiparesis. Neurology 2003; 62: 822–844. 11. Verschuren O, Ketalaar M, Takken T, Helders PJM, Gorter JW. Exercise Programs for Children with Cerebral Palsy. Am J Phys Med Rehabil 2008; 87: 404–417. 12. Horare BJ, Wasiak J, Imms C, Carey L. Constraint induced movement therapy in the treatment of the upper limb in children with hemiplegic cerebral palsy (Review). The Cochrane collaboration, The Cochrane library 2008, Issue 3. 13. Pyk P, Wille D, Chevrier E, Hauser Y, Holper L, Fatton I, Greipl R, Schlegel S, Ottiger L, Rückriem B, Prescatore A, Meyer-Heim A, Kiper D, Eng K. A pediatric Interactive Therapy System for Arm and Hand Rehabilitation. Virtual Rehabilitation 2008, Vancouver, Canada. 14. Meyer-Heim A, Borggraefe I, Ammann-Reiffer C, Berweck ST, Sennhauser FH, Knecht B, Heinen F. Feasibility of robotic-assisted locomotor training in children with central gait impairment. Dev Med Child Neurol 2007; 49: 900–906. 15. Nilsson M, Perfilieva E. Johansson U, Orwar O, Eriksson PS. Enriched Environment increases neurogenesis in the adult rat dentate gyrus and improves spatial memory. J Neurobiol 1999; 39: 569–578. 16. Radlinger L, Bachmann W, Homburg J, Leuenberger U, Thaddey G. Rehabilitatives Krafttraining. Thieme-Verlag, Stuttgart, 1998. 17. Stübing AD. Bewegung, Spiel und Sport als Aufgabe in der Erziehung drei bis sechsjähriger Kinder. In: Clauss A (Hrsg). Förderung entwicklungsgefährdeter und behinderter Heranwachsender, Beiträge der Sportmedizin, Band 12, 1981. Perimed. Fachbuch-Verlagsgesellschaft, Erlangen.
Pädiatrie 1/09 • 8