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Schwerpunkt
Schlaf und Atmung bei Kindern: Zeit aufzuwachen!
In den letzten Jahrzehnten war Dr. med. Alexander Möller1, PD Dr. med. Johannes H. Wildhaber2
das Interesse an der pädiatrischen Schlafmedizin vor allem auf den plötzlichen Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome – SIDS) fokussiert – gesunde Kinder, die schlafen gehen und nie mehr aufwachen. Dies ist in der Tat die dramatischste Form einer schlafbedingten Atemstörung beim Kind. Dagegen blieben die klassischen und häufigen Präsentationen einer schlafbedingten Atemstörung im Kindesalter, das Schnarchen und das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom, wie auch klinische Folgen weitgehend unbeachtet und unterschätzt. Der
I m Kontrast zu den schnarchenden Erwachsenen wurde das Schnarchen beim Kind bisher lediglich als geräuschvolle Atmung ohne wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit angesehen. Dies gilt ebenfalls, wenn auch zu einem geringeren Grad, für das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS). Die manchmal doch dramatischen Folgen eines persistierenden OSAS, wie zum Beispiel das Cor pulmonale und kognitive Entwicklungsverzögerungen, haben zumindest darauf hingedeutet, dass das kindliche OSAS eine relevante Erkrankung ist und wesentliche Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes haben kann. Dies hat zu einem in den letzten Jahren zunehmenden Interesse an den schlafbedingten Atemstörungen im Kindesalter geführt, sei es vom klinischen Gesichtspunkt aus oder aus wissenschaftlicher Sicht. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass schlafbedingte Atemstörungen im Kindesalter sich von schlafbedingten Atemstörungen beim Erwachsenen relevant unterscheiden und dass auch milde bis moderate Formen grosse Auswirkungen auf die kindliche Gesundheit haben, vor allem auf die kognitive Entwicklung.
folgende Artikel gibt einen Überblick über zwei grosse Gruppen von schlafbedingten Atemstörungen: den plötzlichen Kindstod und schlafbedingte obstruktive
Plötzlicher Kindstod
Der plötzliche Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome; SIDS) umfasst Todesfälle im jungen Säuglingsalter, die auch nach einer gründlichen Überprüfung unerklärt bleiben.
Atemstörungen beim Kind.
1Leiter Pneumologie, Universitäts-Kinderklinik Zürich 2Chefarzt der Pädiatrie, Abteilung für Kinderheilkunde, Kantonsspital Freiburg
Die Resultate aus grossen epidemiologischen Untersuchungen von Risikofaktoren für SIDS haben weltweit zu Präventionskampagnen geführt, die zu den erfolgreichsten überhaupt gehören und zu einer eindrücklichen Verminderung der Inzidenz des plötzlichen Kindstods geführt haben. So hatte die «Back-toSleep»-Kampagne Anfang der Neunzigerjahre in Grossbritannien, den Niederlanden, Australien und Neuseeland einen spektakulären Erfolg und führte zu einer Halbierung der SIDSFälle. Präventionskampagnen gegen den plötzlichen Kindstod vermischen aber oft generelle Gesundheitsempfehlungen mit SIDS-spezifischen Empfehlungen. Beide haben einen Einfluss auf Todesfälle im Säuglingsalter. Ein kürzlich erschienener Übersichtsartikel hat diese Vermischung beleuchtet und die Evidenz für SIDS-spezifische Präventionsmassnahmen diskutiert (1).
Schlafposition Es bestehen kausale Beziehungen zwischen Bauchlage und dem plötzlichen Kindstod. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der «Back-to-Sleep»Kampagne (die eine klare Empfehlung für die Rückenlage ausgesprochen hatte) und der Reduktion der SIDS-Inzidenz sowie der Gesamtmortalität im frühen Säuglingsalter unterstützt diese Kausalität. Die meisten Studien zeigen auch einen Zusammenhang zwischen Seitenlage und SIDS (Verdoppelung des Risikos).
Mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft Mehr als 60 Studien haben gezeigt, dass mütterliches Rauchen während der
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Abbildung 1: Polysomnografie eines Kindes mit OSAS mit häufigen obstruktiven Apnoen und Desaturationen. Es sind vier obstruktive Apnoen zu sehen mit fehlendem oro-nasalem Flusssignal, gemessen mit einem Termistor, bei weiterhin bestehendem thorakalem und abominalem Effort. Zwischen den einzelnen obstruktiven Apnoen zeigt sich eine paradoxe Atmung mit diskordanten thorakalen und abdominalen Atembewegungen. Eine Episode einer signifikanten Desaturation ist mit einem lila Rechteck markiert. EEG: Elektro-Enzephalogramm; EOG: Elektrookulogramm; EKG: Elektrokardiogramm; TcCO2: Transkutanes CO2
Abbildung 2: Polysomnografie von einem Kind mit primärem Schnarchen. Es zeigt sich eine paradoxe Atmung als Hinweis für eine vermehrte Atemarbeit durch die obere Atemwegsenge, ferner eine Flusslimitierung im nasalen Flusssignal. Auffälliges Schnarchen synchron zur Atmung. Keine Desaturationen.
Schwangerschaft zu einer Erhöhung des SIDS-Risikos führt. Das Ausmass des Einflusses der intrauterinen Nikotinexposition scheint seit der Reduktion der generellen SIDS-Inzidenz noch an Bedeutung gewonnen zu haben. Interessant ist, dass der grösste Benefit erreicht wird, wenn leichte Raucherinnen aufhören zu rauchen und nicht etwa dadurch, dass schwere Raucherinnen ihren Konsum reduzieren. Die Empfehlung, dass Partner nicht in der Nähe der werdenden Mutter rauchen sollen, beruht auf einer sehr limitierten Evidenz.
Postnatale Tabakrauchexposition Das Quotenverhältnis (Odds Ratio) des postnatalen Passivrauchens auf SIDS wurde auf 1,47 geschätzt. Es besteht also im Vergleich zur intrauterinen Nikotinexposition ein deutlich geringerer Zusammenhang.
Umgebungstemperatur Die SIDS-Empfehlungen sehen vor, dass das Kind vor Überwärmung geschützt werden soll. Dabei scheint der Einfluss der Umgebungstemperatur auf Säuglinge, die in Bauchlage schlafen, beschränkt zu sein.
Vermeidung des Überdeckens im Schlaf Fallserien haben gezeigt, dass 25 bis
40 Prozent der Säuglinge, die tot aufgefunden wurden, den Kopf von Bettdecke oder Leintuch überdeckt hatten. Allerdings konnte nie gezeigt werden, ob diese Überdeckung ein agonales Ereignis war oder ursächlich für den Säuglingstod verantwortlich ist.
Schlafen im Elternbett Das Schlafen im Elternbett erhöht das Risiko für plötzlichen Kindstod. Allerdings ist das Risiko für Kinder von nicht rauchenden Müttern klein im Verhältnis zu Kindern von rauchenden Müttern. Das Teilen des Betts mit anderen Geschwistern ist hingegen deutlich gefährlicher.
Schlafen auf dem Sofa Säuglinge, die auf dem Sofa schlafen, haben ein erhöhtes Risiko. Dieses besteht auch, wenn sie das Sofa mit einem Erwachsenen teilen.
Krankheiten und Infekte Der Effekt von Krankheiten, wie beispielsweise Infektionskrankheiten, wird durch die Schlafposition ganz deutlich modifiziert, was bedeutet, dass Infekte vor allem für Säuglinge in Bauchlage ein Risiko für SIDS sind.
Impfungen Die Impfungen im ersten Lebensjahr fallen zeitlich etwa mit dem Alterspeak der
höchsten SIDS-Inzidenz zusammen. Daher ist es nicht unerwartet, dass vereinzelte Todesfälle in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung auftreten können. Dies hat zur Annahme geführt, dass Impfungen für den plötzlichen Kindstod verantwortlich sein könnten. Mehrere Studien haben diese Zusammenhänge untersucht, die meisten haben gezeigt, dass das SIDSRisiko bei geimpften Kindern geringer ist als bei ungeimpften Säuglingen.
Schlafumgebung Säuglinge, die mit einem Kissen schlafen, scheinen ein erhöhtes SIDS-Risiko zu haben.
Flaschenernährung Fast alle epidemiologischen Studien zeigen einen protektiven Einfluss des Stillens.
Neben dem wissenschaftlichen Fokus auf die Epidemiologie von Risikofaktoren für SIDS hat sich die Forschung auch auf die pathophysiologischen Mechanismen des plötzlichen Kindstods konzentriert. Das erste Lebensjahr ist charakterisiert durch die Reifung des kindlichen Gesamtorganismus und insbesondere auch der autonomen Kontrolle des HerzKreislauf- und des Atemsystems. Das respiratorische System zeigt im ersten Lebensjahr klare altersspezifische struk-
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reduzierter Muskel-
tonus und die er-
höhte Compliance
der Thoraxwand pa-
radoxe, asynchrone
Bewegungen. Eine
paradoxe Atmung
ist mit einer 30-pro-
zentigen Reduktion
des intrathorakalen
Gasvolumens, einem
erhöhten Sauer-
Abbildung 3: Polysomnografie von einem Kind mit einem Upper Airway Resistance Syndrom (UARS) mit häufigen Arousals. Es zeigen sich eine paradoxe Atmung als Hinweis für eine vermehrte Atemarbeit durch die obere Atemwegsenge und tiefe Sauerstoffsättigungswerte zwischen 76 und 88 Pro-
stoffverbrauch, vermehrt variablen Blutsauerstoffsättigungen sowie einer
zent. Das transkutan gemessene CO2 ist leicht erhöht mit Werten um
höheren und varia-
6,2–6,3 kPa. Zwei Arousalepisoden sind markiert.
bleren Atemfre-
quenz und einem
höheren Atemminu-
tenvolumen verbun-
turelle und funktionelle Charakteristi- den. Diese Eigenschaften könnten den
ken. Die Atemwegsdurchmesser sind plötzlichen Kindstod auch als ein Resultat
klein, die Atemmuskulatur enthält weni- eines respiratorischen Missverhältnisses
ger Typ-1-Fasern, die Rippen sind hori- erklären. Die zentrale Steuerung der
zontal gestellt, der Brustkasten ist rund Ventilation und Alterationen im exzitatori-
und hat eine hohe Compliance. Die schen peripheren karotidalen Chemo-
Thoraxform und die hohe Compliance rezeptoreninput führen zu einer alters-
führen zu einem verminderten Anteil der spezifischen biphasischen hypoxischen
Thoraxmuskulatur an der Atmung im ventilatorischen Antwort (2).
Vergleich zum Zwerchfell. Diese physio- Säuglinge erwachen unter hypoxischen
logischen und funktionellen Besonder- Bedingungen leichter als spontan. Das
heiten führen zu einem erhöhten Atem- Ausmass der Hypoxie beeinflusst aller-
wegswiderstand, einer verkleinerten dings die Arousalantworten in einem re-
funktionellen Residualkapazität und ei- levanten Ausmass. Die oben beschriebe-
nem reduzierten Atemfluss.
nen physiologischen Vorgänge mit
Diese altersspezifischen funktionellen Ei- erhöhtem Sauerstoffverbrauch im akti-
genschaften werden in hohem Grad durch ven Schlaf könnten auch die erhöhte
die Schlafstadien beeinflusst. Im ruhigen Weckbarkeit während dieser Schlafphase
Schlaf sind die thorakalen und abdomina- erklären. Mütterliches Rauchen führt zu
len Atembewegungen weitgehend syn- einer Verminderung des respiratorischen
chron. Im aktiven Schlaf verursachen ein Drives und einer verminderten respirato-
Tabelle 1: Empfehlungen zur SIDS-Prävention
Legen Sie Ihr Baby zum Schlafen auf seinen Rücken Lassen Sie niemanden im selben Zimmer rauchen, in dem das Baby schläft Stoppen Sie das Rauchen während der Schwangerschaft – auch der Vater! Vermeiden Sie eine Überwärmung Ihres Babys Lassen Sie den Kopf des Babys unbedeckt Das Baby soll nicht im Elternbett schlafen, wenn Sie oder Ihr Partner Alkohol getrunken haben, Sie Drogen konsumiert haben oder wenn Sie rauchen Während der ersten Lebensmonate ist der sicherste Ort zum Schlafen für Ihr Kind ein Kinderbettchen in Ihrem Schlafzimmer Wenn Sie den Eindruck haben, es gehe Ihrem Kind nicht gut, suchen Sie ärzlichen Rat
rischen Antwort auf eine Hypoxie. Dies wird durch nikotinische cholinerge Rezeptoren erklärt, die in die kardiorespiratorische Kontrolle involviert sind. Eine verminderte Weckbarkeit (arousability) wird auch bei Kindern mit einer chronischen Lungenkrankheit der Frühgeborenen (CLD), Säuglingen mit einer Anamnese von Apnoen und scheinbar lebensdedrohlichen Ereignissen (ALTE) und bei Kindern mit Kokainexposition beobachtet (3). Gestillte Kinder erwachen leichter aus dem aktiven Schlaf als nicht gestillte Kinder (4). Diese Erkenntnisse können den plötzlichen Kindstod auch als Konsequenz einer reduzierten Weckbarkeit (arousability) erklären. Dies kann zur Annahme führen, dass die Weckbarkeit ein wichtiger Überlebensmechanismus ist.
Schnarchen, Upper Airway Resistance Syndrom und obstruktives Schlafapnoe-Syndrom
Bereits im späten 18. Jahrhundert gab es Beschreibungen über Atemstörungen im Schlaf und deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung: «On some causes of backwardness and stupidity in children» durch W. Hill (1889), während Osler 1892 schrieb: «At night the child’s sleep is greatly disturbed: the respirations are long and snorting, and there are sometimes prolonged pauses, followed by deep, noisy inspirations – in long-standing cases, the child is very stupid-looking, responds slowly to questions, and may be sullen and cross» (5). Trotz dieser frühen Kenntnisse von schlafbedingten Atemstörungen und ihrem Einfluss auf die Gesundheit des Kindes wurde die erste nachfolgende Beschreibung dieses Problems erst durch Guilleminault im Jahre 1976 publiziert. Die meisten Arbeiten zu diesem Thema sind allerdings in den letzten zehn Jahren erschienen (6). Das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom, im Weiteren als OSAS abgekürzt, wird definiert als respiratorische Anomalie im Schlaf, die über eine komplette oder partielle Atemwegsobstruktion zu einer Störung der Ventilation und der Schlafarchitektur führt. Abbildung 1 zeigt einen typischen polysomnografischen Befund: ein Sistieren des
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Atemwegsflusses bei weitergehenden thorakalen und abdominalen Atembewegungen. Das Kind versucht, gegen die obere Atemwegsobstruktion zu atmen. Das primäre Schnarchen ist dagegen charakterisiert durch eine geräuschvolle Atmung bei erhaltener Schlafarchitektur und normaler Sauerstoffsättigung (Abbildung 2). Das Upper Airway Resistance Syndrom (UARS) ist charakterisiert durch ein lautes Schnarchen, häufige EEG-Arousals, fragmentierten Schlaf, aber ohne ersichtliche Atemflussreduktion (keine Hypopnoen oder Apnoen) und nicht notwendigerweise mit Sauerstoffsättigungsabfällen (diese können allerdings vorkommen [Abbildung 3]). 8 bis 10 Prozent der Kinder schnarchen, 0,7 bis 3 Prozent der Kinder zeigen ein UARS, und etwa 2 Prozent leiden an einem OSAS. Die höchste Inzidenz des OSAS findet sich bei den Zwei- bis Sechsjährigen; Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von OSAS konnten bisher keine aufgezeigt werden. Der häufigste Grund für Schnarchen oder ein OSAS ist die Adenoid- und Tonsillenhypertrophie. Die Familienanamnese für ein OSAS ist häufig positiv, vor allem bei afroamerikanischen Kindern. Das primäre Schnarchen wurde lange Zeit als absolut harmloses Symptom betrachtet. Aber neuere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass das primäre Schnarchen die kognitive Entwicklung negativ beeinflussen kann (7). Nur in einer kleinen Subgruppe von Kindern mit einer klinischen Diagnose eines primären Schnarchens kann ein OSAS in der polygrafischen Untersuchung nachgewiesen werden. Diese Untergruppe zeichnet sich durch eine chronische Mundatmung, ein praktisch jede Nacht hörbares Schnarchen, beobachtete Zyanoseanfälle, eine erschwerte Atmung im Schlaf und elterliche
Befürchtungen betreffend den Schlaf ihres Kindes aus. Klinisch und anamnestisch ist es sehr schwierig, das «benigne» primäre Schnarchen vom Schnarchen zu differenzieren, das zu signifikanten Konsequenzen wie rezidivierenden Sauerstoffsättigungsabfällen während des Schlafs und neurokognitiven Alterationen führt. Es gibt aber auch Hinweise aus neueren Studien, dass neurokognitive Alterationen bei Kindern mit habituellem Schnarchen unabhängig davon auftreten können, ob sie ein signifikantes OSAS zeigen oder nicht (8). Es ist nicht notwendig, alle schnarchenden Kinder in einem Schlaflabor abzuklären, aber es ist wichtig, dass Kinder mit primärem Schnarchen hinsichtlich Tagessymptomen, neurokognitiver Funktion und Verhalten enger beobachtet werden.
Obstruktives SchlafapnoeSyndrom
Die meiste Aufmerksamkeit in der Literatur und Forschung bei Kindern mit einer Atemstörung im Schlaf hat das OSAS erhalten. Dennoch wurden in der Regel die Erkenntnisse bei Erwachsenen einfach auf die Kinder übertragen. Aber es gibt einige grundsätzliche Fragen zu den pathophysiologischen wie auch klinischen Unterschieden in der Präsentation des OSAS bei Kindern und Erwachsenen:
Welches sind die Normwerte der polygrafischen Parameter für die Kinder? Sind die diagnostischen Kriterien von Erwachsenen auf Kinder übertragbar? Gibt es Unterschiede in der Pathophysiologie des OSAS bei Kindern und Erwachsenen?
Tabelle 2: Diagnostische klinische Zeichen für ein OSAS
Häufige Zeichen Nächtliches Schnarchen Mundatmung Unruhiger Schlaf mit und ohne Erwachen Atempausen Häufige respiratorische Infekte Chronische Rhinorrhö Nächtliches Schwitzen
Seltene Zeichen Tagesmüdigkeit Reduzierter Appetit Gedeihstörung Häufiges Erbrechen Schluckstörungen Verhaltensauffälligkeiten Rezidivierende Otitis media Enuresis nocturna (1° und 2°)
Normalwerte für die Polygrafie
Marcus et al. untersuchten die Frage der polygraphischen Normalwerte und diagnostischen Kriterien für Kinder in einer grundlegenden Studie (9). In ihrem Kollektiv von 50 Kindern fand sie nur 9 Kinder mit einer oder mehreren obstruktiven Apnoen, und sämtliche dieser obstruktiven Apnoen dauerten weniger als 10 Sekunden. 15 Kinder wiesen 1 bis 5 zentrale Apnoen auf, die im Schnitt 10 bis 18 Sekunden dauerten. Nur 1 Kind zeigte während einer zentralen Apnoe eine Blutsauerstoff-Desaturation knapp unter 90 Prozent. Aus diesen Beobachtungen folgerte sie, dass die diagnostischen Kriterien für ein OSAS beim Erwachsenen (Dauer einer obstruktiven Apnoe > 10 s, Apnoe-Index von > 5 Apnoen/h) nicht auf Kinder übertragbar sind. Aus diesen Daten resultieren die folgenden Grenzwerte für Kinder:
Apnoe-Index (Apnoen/h totaler Schlafzeit) > 1/h Sauerstoffsättigung > 92% und endtidal CO2 > 45 mmHg
Diagnostische Kriterien
Während eine vermehrte Tagesmüdigkeit für gewöhnlich bei Erwachsenen mit OSAS anzutreffen ist, ist diese deutlich seltener bei Kindern mit OSAS. Häufiger finden sich dafür, falls überhaupt Tagessymptome zu verzeichnen sind, Verhaltensauffälligkeiten (Tabelle 2). Im Jahre 1993 untersuchten Goldstein et al. die diagnostische Wertigkeit der Anamnese, der klinischen Untersuchung und der Beurteilung eines durch die Eltern aufgenommenen Videos vom schlafenden Kind im Vergleich zur Polysomnografie (PSG [10]). Aus dieser Untersuchung muss gefolgert werden, dass die PSG der Goldstandard der Diagnostik beim Kind mit schlafassoziierten Atemproblemen sein muss. Die notwendigen Ressourcen sind aber beschränkt, und die Nachfrage ist steigend (11). Die Anamnese wie auch die klinische Untersuchung kann Kinder mit OSAS nicht von Kindern mit benignem primärem Schnarchen unterscheiden. Bei Kindern mit einer hohen Prä-Test-Wahrscheinlichkeit für ein OSAS ist eine positive Sauerstoffmessung über Nacht zwar hoch prädiktiv für das Vorlie-
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gen eines OSAS. Aber eine negative nächtliche Sauerstoffmessung schliesst bei diesen Patienten ein OSAS nicht aus und muss entsprechend von einer tiefer gehenden Abklärung gefolgt werden, in der Regel von einer PSG.
Pathophysiologie
Die Obstruktion der Atemwege ist beim Kind deutlich distaler als beim Erwachsenen. Kinder weisen aufgrund eines erhöhten Muskeltonus eine im Vergleich zu Erwachsenen verminderte Kollabierbarkeit der oberen Atemwege auf. Zusätzlich zeigen Kinder mit OSAS schneller auftretende und relevantere Desaturationen, auch bei kurzen Apnoe- und HypopnoeEpisoden. Gleichzeitig zeigen sie deutlich weniger mit obstruktiven Episoden verbundene Arousals (Weckreaktionen). Die Hauptursache eines OSAS beim Kind ist die Adenoid- und Tonsillenhypertrophie, aber nicht alle Kinder mit grossen Tonsillen haben auch ein OSAS. Zudem weisen einige der Kinder auch nach einer Adenotonsillektomie weiterhin schlafbedingte Atemprobleme im Sinne eines OSAS auf oder entwickeln nach einer beschwerdefreien Zeit in der Adoleszenz erneut Symptome. Dies suggeriert, dass eine Pathologie im Bereich des neuromuskulären Tonus bei Kindern an der Ätiologie eines OSAS mitbeteiligt sein könnte. Adipöse Kinder stellen eine neue Risikopopulation für die Entwicklung eines OSAS im mittleren Kindesalter und in der Adoleszenz dar. Eine durch den Schlaf gestörte Atmung ist auch bei verschiedenen chronischen Erkrankungen anzutreffen. Beispiele sind neuromuskuläre Erkrankungen wie die spinale Muskelatrophie oder die Duchenne-Muskeldystrophie, andere neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen. Daneben führen metabolische Krankheiten wie die Mukopolysaccharidosen häufig zur Entwicklung von Atemstörungen im Schlaf. Eine spezielle Erkrankung ist das zentrale Hypoventilationssyndrom, auch UndineSyndrom genannt. Weitere Risikofaktoren für ein OSAS sind kraniofaziale Malformationen, die Frühgeburtlichkeit, das Down-Syndrom und die Spina bifida.
Die Hauptkomplikationen eines OSAS sind Gedeihstörung, kardiovaskuläre Probleme und vor allem Verhaltensauffälligkeiten und Einschränkungen in der kognitiven Entwicklung (auch bei milden Formen des OSAS). Einige Studien haben ähnliche Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit OSAS gefunden, wie sie bei Patienten mit ADHD beschrieben werden. Die Gründe für die häufig anzutreffende Gedeihstörung werden kontrovers diskutiert: Eine verminderte Kalorienaufnahme und ein vermehrter Kalorienverbrauch durch die erhöhte Atemarbeit werden ebenso in Betracht gezogen wie hormonelle Veränderungen mit einer Reduktion von Wachstumshormon durch die gestörte Schlafarchitektur und eine reduzierte Expression der Rezeptoren für Insulin-like Growth Factor. Bei Erwachsenen ist das OSAS mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden, vor allem mit der Entwicklung einer arteriellen Hypertonie sowie einer ischämischen Herzerkrankung. Es ist gut bekannt, dass Arousals aus dem Schlaf zu einer Aktivierung des sympathischen Nervensystems und einer entsprechenden Erhöhung des Blutdrucks führen. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass auch Kleinkinder mit OSAS messbare Alterationen in der vaskulären Reaktivität aufweisen (12). Diese Auffälligkeiten sind in Übereinstimmung mit der Beobachtung von Änderungen in der Herzfrequenzvariabilität, die bei einer kleinen Gruppe von Kindern mit schlafbedingter Atemstörung beobachtet wurden (13). Die Langzeitfolgen einer Dysfunktion des autonomen Nervensystems durch die persistierenden Weckreaktionen aufgrund der schlafbedingten Atemstörung sind noch weitgehend unbekannt, aber es besteht das Risiko, dass diese Störungen zumindest teilweise irreversibel sein könnten und entsprechend zu lebenslangen Konsequenzen führen könnten.
Zusammenfassung
Schlafassoziierte Atemstörungen sind ein relativ häufiges Problem im Kindesalter. Es gibt keine Evidenz dafür, dass Kinder, die am plötzlichen Kindstod versterben, an einer schlafbedingten Atemstörung
gelitten haben (14). In einzelnen Fällen weisen schlafbedingte Atemstörungen auf eine zugrunde liegende Abnormalität der oberen Luftwege hin. Atemstörungen im Schlaf können zur Störung der neurokognitiven Entwicklungsprozesse führen, mit dem Risiko von bleibenden Effekten. Die Behandlung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms bei Kindern ist relativ einfach und meistens effektiv. Andere häufige Schlafstörungen wie zum Beispiel Parasomnien oder eine inadäquate Schlafhygiene können sich mit vermehrten Arousals aus dem Schlaf präsentieren und ohne polysomnografische Untersuchung als schlafassoziierte Atemstörung fehlinterpretiert werden. Die frühzeitige Erkennung einer schlafbezogenen Atemstörung hat das Potenzial, hohe ökonomische Kosten zu reduzieren und die Gesundheitsergebnisse wie auch die Lebensqualität betroffener Kinder zu verbessern.
Offene Fragen
Trotz des zunehmendes Wissens über schlafbezogene Atemstörungen beim Kind sind einige Fragen weiterhin unbeantwortet, die das klinische Bild, die Beziehung zum adulten OSAS, die Pathophysiologie und die Behandlung betreffen (15). Es werden longitudinale Studien mit grösseren Kohorten gefordert, um in Zukunft diese Fragen beantworten zu können:
Ab welchem Schweregrad führt eine schlafbedingte Atemstörung zu Konsequenzen, respektive wann kann ein Benefit von einer entsprechenden Behandlung erwartet werden? Haben Kinder mit einem OSAS, die einer Adenotonsillektomie unterzogen wurden, ein erhöhtes Risiko, im Erwachsenenalter erneut ein OSAS zu entwickeln? Was ist der natürliche Verlauf von unbehandeltem primärem Schnarchen oder einem milden OSAS beim Kind? Welche Faktoren sind beteiligt daran, dass Adeonid- und Tonsillengewebe derart wachsen, dass sie zu einer Beeinträchtigung der Atmung führen? Gibt es eine Assoziation zwischen der Häufigkeit von Arousals aus dem Schlaf und den Konsequenzen am Tag?
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Die Polysomnografie ist der Goldstandard in der Diagnostik von schlafbezogenen Atemstörungen, ist aber zurzeit für Kinder nicht breit verfügbar. Wie sollen chirurgische Wartelisten priorisiert werden und wie soll das perioperative Risiko ohne eine PSG adäquat abgeschätzt werden?
Korrespondenzadresse: Dr. med. Alexander Möller Universitäts-Kinderklinik Zürich Fachbereich Pneumologie und Kinderschlafzentrum Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: alexander.moeller@kispi.uzh.ch
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