Transkript
Adipositas
Bewegungsprogramm für übergewichtige Kinder: ein Waadtländer Beispiel
Obwohl der Wissensstand zu
Von Dr. med. Michel Cauderay
Übergewicht bei Kindern bedeutend höher ist als früher, ist es für ein übergewichtiges Kind enorm schwierig, sich des Problems anzunehmen. Ein wichtiger Faktor zur Problemlösung ist deshalb die Definition des Ziels, denn eine solche ermöglicht allen Beteiligten, ihre Erwartungen zu verbalisieren. Die Programme der Stiftung USCADE haben zum Ziel, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche ihre Bewegungsfähigkeit zurück-
Nach einer genauen Analyse der Situation werden verschiedene Schritte vorgeschlagen, wobei diese von einfachen Ratschlägen bis hin zur Beteiligung an einem der USCADE-Programme gehen. Die körperliche Aktivität ist dabei das tragende Element zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten (1, 2). Eine interdisziplinäre Gruppe, bestehend aus Fachleuten der Bereiche Gesundheit und Sport, begleitet die Kinder während mindestens einem Jahr (3). Seit 2001 wird dieses spezifische USCADE-Programm auf kantonaler Ebene durchgeführt. Sieben Interventionszentren sowie eine zentrale Auswertungsstelle versuchen, auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen des Kantons Waadt und der angrenzenden Regionen einzugehen. Jedes Zen-
trum verfügt über eine Sportstätte, Schwimmbad oder Turnhalle, sowie über eine Ernährungsberatung. Im Jahr 2007 wurde das gesamte Programm ausgewertet, insbesondere auch seine Auswirkungen auf die Fitness (4, 5).
Methode
Die Studie umfasst Kinder im Alter von mehr als 10 Jahren, deren BMI die übliche Kurve um 3 Punkte übersteigt (6). Die an der Studie teilnehmenden Kinder hatten während des Überwachungsjahrs alle Sportkurse zu besuchen. Zu den verschiedenen Fitnesstests gehörte auch die Messung der HerzLungen-Ausdauer durch indirekte Kalorimetrie mit Hilfe eines Ergospirometriegerätes (Sensormedics VMax 229).
erlangen und auch psychisch in Kommentar
der Lage sind, die Auswirkungen des Übergewichts zu verringern und von den angebotenen Präventionsprogrammen zu profitieren.
Im Beitrag «Es bewegt sich etwas in der Therapie übergewichtiger Kinder» (Pädiatrie 1/08) wird auf die Anforderungen an multiprofessionelle Gruppentherapieprogramme hingewiesen: Einhaltung der publizierten Empfehlungen, Zertifizierung durch SGP/AKJ-Kommission sowie Verpflichtung zur Teilnahme an der nationalen Evaluationsstudie. Zurzeit existieren etwas mehr als 20 Gruppentherapieprogramme, die die Anforderungen des neuen Zertifizierungsreglements erfüllen. Daneben gibt es einzelne Therapieprogramme, die noch kein Zertifizierungsgesuch gestellt haben oder das Verfahren noch nicht abgeschlossen haben. Ausserdem gibt es eine Reihe von Präventionsprogrammen, zu denen das hier vorgestellte der Stiftung USCADE gehört. Diese sind klar von den Gruppentherapieprogrammen zu unterscheiden und werden nicht nach der neuen Leistungsverordnung abrechnen können. Sie sind somit auch nicht verpflichtet, sich an der nationalen Basisevaluation zu beteiligen. Gleichwohl ist es aus wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Sicht ausserordentlich wichtig, diese Programme zu unterstützen und ihre Wirksamkeit mit fundierten Studien zu überprüfen, die Ergebnisse zu veröffentlichen und in den wissenschaftlichen Diskurs einfliessen zu lassen.
Dr. phil. Robert Sempach Präsident Schweizer Fachverein Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ) MGB Direktion Kultur und Soziales Josefstrasse 214, 8005 Zürich Tel 044-277 25 23, E-Mail: robert.sempach@mgb.ch, Internet: www.akj-ch.ch
Pädiatrie 2/08 • 20
Adipositas
Beim Eintritt und nach 12 Monaten wurden zwei separate Tests, ein maximaler und ein submaximaler Test (50% und 80% der VO2 max.), durchgeführt. Die gemessenen Werte wurden in % VO2max angegeben. Für jeden dieser Werte wurde der O2Puls (PO2 = VO2/FC, mlO2/Schlag) berechnet (7–9).
Ergebnisse
55 Jugendliche im Alter von 12,9 ± 1,5 Jahren wurden in die Studie aufgenommen (Tabelle 1). 16 Jugendliche haben das Programm frühzeitig nach zirka acht Monaten abgebrochen («Gruppe out» = 29% der Gesamtgruppe). Bei den zum Zeitpunkt des Eintritts gemessenen Werten, die in Tabelle 2 zusammengefasst sind, war die VO2 an der ventilatorisch anaeroben Schwelle (VO2vat) zwischen 52,0 ± 13,0% von VO2max. Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen der «Gruppe in» und der «Gruppe out» (51,7 ± 13,0% von VO2max vs. 52,7 ± 12,0% von VO2max ns.). Nach einem Jahr hat sich dieser Wert bei der «Gruppe in» nicht signifikant verbessert (51,5 ± 13,1 von VO2max vs. 51,7 ± 13,0% von VO2max. ns). Signifikant verbessert haben sich jedoch die Werte des PO2 bei 50% und 80% von VO2max (6,6 ± 1,6 mlO2/ Schlag vs 7,1 ± 1,4 mlO2/Schlag, p = 0,04. 8,2 ± 1,5 mlO2/Schlag vs. 8,8 ± 1,5 mlO2/ Schlag, p = 0,01 (p < 0,05).
Diskussion
In einer Gruppe, die körperliche Aktivität als therapeutische Massnahme hat, ist die Analyse der Herz-Lungen-Reaktion interessant. Sie ermöglicht es, die physiologische Reaktion auf eine gegebene Körperbelastung durch Aktivität zu erfassen. Die Messung der VO2max ist ein weit verbreitetes Mittel zur Messung der aerobischen Kapazität der Patienten. Sie wird aber durch Alter, Gewicht, Geschlecht und Pubertät beeinflusst, weshalb der absolute Wert wenig aussagekräftig ist (10). Viel interessanter ist es, wenn man auf submaximale Werte unabhängig der Magermasse zurückgreift, da diese eine Erfassung des Trainingseffektes ermöglichen (9). Die ventilatorisch
Tabelle 1: Anthropometrische Anfangsdaten aller Patienten
Anzahl Alter in Jahren Gewicht in kg
SDS Körpergrösse in cm
SDS BMI kg/m2
SDS Blutdruck systolisch mmHg diastolisch mmHg
all n = 55 55 12,9 ± 1,5 76,7 ± 15,1 3,3 ± 1,0 158,9 ± 8,9 0,7 ± 1,2 30,1 ± 3,7 2,7 ± 0,4
118,3 ± 13,0 59,6 ± 8,7
in n = 39 39 12,8 ± 1,3 75,5 ± 14,4 3,3 ± 0,9 158,3 ± 8,1 0,7 ± 1,2 29,9 ± 3,7 2,7 ± 0,4
118,5 ± 13,8 59,4 ± 8,3
out n = 16 16 13,2 ± 1,8 79,9 ± 16,6 3,4 ± 1,1 160,4 ± 10,9 0,7 ±1,3 30,7 ± 3,9 2,7 ± 0,4
117,6 ± 11,2 60,1 ± 10,0
Signifikanzniveau*
ns ns ns ns ns ns ns
ns ns
Gruppe in: Personen, die das Programm beendet haben. Gruppe out: Personen, die frühzeitig aus dem Programm ausgestiegen sind. *Gruppe out vs. Gruppe in
Tabelle 2: Kardiovaskuläre Reaktion auf maximalen Belastungstest
VO2vat l/min % VO2max
VO2max l/min Herzfrequenz ‘/min Vat VO2max O2Pulse ml/Schlag PO2vat PO2max
all n = 55 0,96 ± 0,25 52,0 ± 1,3 1,87 ± 0,37
138,9 ± 15,8 186,5 ± 10,0
6,9 ± 1,5 10,0 ± 2,0
in n = 39 0,94 ± 0,20 51,7 ± 1,3 1,88 ± 0,39
139,0 ± 17,1 186,8 ± 10,3
6,8 ± 1,3 10,6 ± 2,0
out n = 16 0,99 ± 0,35 52,7 ± 1,2 1,84 ± 0,40
Signifikanzniveau* ns ns ns
138,0 ± 17,2 185,7 ± 9,5
ns ns
7,0 ± 1,8 9,9 ± 2,1
ns ns
*Gruppe out vs. Gruppe in
anaerobe Schwelle, die beim Eintritt mit 51,5 ± 13,1% gemessen wurde, ist deutlich tiefer als die in anderen Studien gemessene Schwelle (9, 11). Dieser tiefe Wert kann jedoch kaum einem Messfehler zugeschrieben werden. VO2vat zeigt keinen signifikanten Unterschied zu VO2 bei 50% von VO2max, obwohl die beiden Werte unterschiedlich berechnet werden und in zwei separaten Tests gemessen wurden. Beim Übergewichtigen erklärt sich eine Verringerung der ventilatorisch anaeroben Schwelle durch die Kombination von möglichen Veränderungen der Muskelzusammensetzung und insbesondere einer Abnahme der Bewegungsfähigkeit (9). Eine solche Abnahme der Bewegungsfähigkeit zeigt sich nicht nur in den Werten, sondern auch im Alltag. Übergewichtige reagieren schneller auf Anstrengungen, und ihre Belastungsgrenze ist im Vergleich zu ihren nicht
übergewichtigen Altersgenossen tiefer. Dieser Faktor zeugt objektiv von den Schwierigkeiten bei Anstrengung, welche von den Jugendlichen angesprochen wurden. Die signifikante Verbesserung des O2Pulses bei 50% von VO2max ist als Erfolg des Programms zu bewerten. Die Art der körperlichen Aktivität, eine Stunde pro Woche, die während des Jahres mehrmals unterbrochen wurde, lässt eine noch stärkere Verbesserung der aerobischen Kapazität nicht zu. Aus energetischer Sicht ist es interessant festzustellen, dass dieses Aktivitätsniveau einer üblichen körperlichen Aktivität entspricht (12). Abschliessend kann also gesagt werden, dass eine regelmässige körperliche Aktivität mit niedriger Intensität es ermöglicht, die Bewegungsfähigkeit des übergewichtigen Jugendlichen zu verbessern.
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Zusammenfassung
Obwohl bei der Problembehandlung von Übergewicht bei Kindern bedeutende Fortschritte erzielt wurden, bestehen noch zahlreiche Fragen in Bezug auf die Wirkung der vorgeschlagenen Massnahmen. Aufgrund dieser verschiedenen Unsicherheiten ist es wichtig, dass jede Massnahme genau analysiert wird. Das USCADE-Programm für Kinder und Jugendliche im Kanton Waadt und in den anliegenden Regionen wurde 2007 ausgewertet. Aus Sicht der körperlichen Aktivität scheint es, dass Bewegung mit geringer Intensität bei regelmässiger Durchführung während eines Jahres dem Kind ermöglicht, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, die es zur Ausführung der täglichen Aktivitäten benötigt.
Korrespondenzadresse: Dr. Michel Cauderay Spéc. FMH Endocrinologie & Diabétologie pédiatrique Vice-Président FondationUscade Chemin de Chantemerle 10, 1009 Pully
Referenzen: P. Sutter and N. Ruckstuhl. Obesity during growth in Switzerland: role of early socio-cultural factors favouring sedentary activities. Int J Obes 2006; 30: S4–S10, 2006. M. Maziekas, L. LeMura, N. Stoddard, S. Kaercher, T. Martucci. Follow-up exercise studies in paediatric obesity: implications for long term effectiveness. Br J Sports Med 2003; 37: 425–429. P. Nowicka. Dieticians and exercise professionals in childhood obesity treatment team. Acta Paediatr 2005; 94 (suppl 448): 23–39. M. Cauderay. Effects of one year intervention program on moderately to severe obese adolescents. Swiss Med Wkly 2005; suppl 146: S6. M. Cauderay, C. Dupuis. Effect of one year physical activity program on insulin resistance in obese adolescents. Abstract 25th international congress of pediatrics, Athens 2007. MF. Rolland-Cachera. Body composition during adole-
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