Transkript
Schwerpunkt
Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Aktueller Stand der Therapie
Nach wie vor steht für die
von Dr. med. Beatrice Kuhlmann
Behandlung des Typ-1-Diabetes des Kindes und Jugendlichen nur das Insulin zur Verfügung, welches immer noch gespritzt werden muss. Die technischen Fortschritte in der Diabetesdiagnostik erlauben es jedoch, die Insulindosierung schneller anzupassen. Dies ermöglicht es, dass Kinder und Teenager mit Diabetes sich ihren Lebensalltag flexibler einrichten können, was nicht zuletzt auch der Akzeptanz der Krankheit zugute kommt und ein weit gehend «normales» Aufwachsen zulässt.
D ie Neuerkrankungen an Typ-1Diabetes, also dem primär insulinpflichtigen Diabetes, nehmen weltweit an Häufigkeit zu. Eine neuere Erhebung der Zahlen aus Schweizer Kinderkliniken (unter der Leitung von Prof. Dr. med. Eugen Schönle, Kinderspital Zürich) ergab über 940 neu entdeckte Diabetiker in den Jahren 1991 bis 1999. Dabei fand sich bei allen unter 15-Jährigen eine jährliche Zunahme von 5,1 Prozent. In der Altersgruppe der 0- bis 4-Jährigen erstaunte ein sehr starker Anstieg von jährlich 23,4 Prozent Neuerkrankungen. Diese beunruhigende Verschiebung des Beginns der Diabeteserkrankung ins Kleinkindesalter darf nicht nur rein medizinisch betrachtet werden. Die Neudiagnose eines Diabetes mellitus bedeutet auch einen sehr grossen Einschnitt im Leben des Kindes selbst und eine nicht zu unterschätzende Belastung für die von Krankheit und Begleitumständen mitbetroffene Familie. Die bisher bekannten Häufigkeitsgipfel des Diabetes beim Kind und Jugendlichen lagen im frühen Schulalter und dann typischischerweise auch zu Beginn der Pubertätsentwicklung. Die klassischen Symptome einer grossen Trink- und Urinmenge sowie von Gewichtsverlust und Müdigkeit sind beim Kleinkind oft schwieriger zu erkennen, sodass die Diagnose bei einem sowieso noch bettnässenden Kind gelegentlich verzögert oder auf Umwegen erfolgt.
Veränderte Lebensumstände
Die Diagnose eines Diabetes bedeutet für die Familie immer eine Umstellung der bisher üblichen Gewohnheiten und Lebensumstände. Vieles muss neu ge-
lernt werden: mehrfach tägliche Blutzuckerkontrollen und Insulingaben, Anpassen der Insulindosierung, Erkennen von Hypoglykämien und eventuell beginnender Entgleisung des Blutzuckers. Aber auch die kohlenhydratbilanzierte Ernährung nach stärker geregeltem Zeitplan verlangt eine Anpassung des bisherigen Lebensrhythmus. Der Verantwortungsdruck der Eltern ist gross, und häufig kommen am Anfang Unsicherheiten und Ängste auf, welche sich auf das betroffene Kind übertragen können. Hier ist die Beruhigung der Eltern und der ganzen Situation sehr wichtig. Dabei helfen Gespräche mit dem zuständigen Arzt oder Diabetologen, der Ernähungsberaterin und der Diabetesschwester. Auch die Möglichkeit, bei Fragen und Unsicherheiten jederzeit telefonisch Rücksprache nehmen zu können, hilft den Eltern, heikle Situationen zu meistern und dadurch eigene Erfahrungen und Sicherheit im Diabetesmanagement aufzubauen. Von Anfang an muss es auch erklärtes Ziel aller Beteiligten sein, das diabetische Kind oder den Jugendlichen möglichst «normal» aufwachsen zu lassen und es wie alle Gleichaltrigen an den täglichen Aktivitäten in der Schule (z.B. Schulreise, Klassenlager) und Freizeit (z.B. Sport, Geburtstagseinladung, Ausgang) teilhaben zu lassen. Der Diabetiker soll also keine Sonderstellung erhalten, sondern trotz oder mit seinem Diabetes möglichst den normalen Lebensrhythmus weiterführen können. Wichtig: Nicht den Patienten dem Diabetes anpassen, sondern umgekehrt das Management des Diabetes an das Leben eines Kindes/Jugendlichen anpassen! Dies erfordert viel
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Schwerpunkt
Tabelle 1:
Insulinarten
(nur humane Insuline, Semilente und Analoginsuline)
individuelles Einfühlen und häufige Anpassungsbereitschaft von allen Beteiligten.
Technische Fortschritte
Die DCCT-Studie von 1993 (Diabetes Complication and Control Trial), welche den Erfolg der intensivierten Insulintherapie bezüglich Verhinderung oder Verzögerung von diabetischen Spätfolgen (z.B. Retinopathie, Nephropathie) nachweisen konnte, hatte eine rasante Entwicklung leistungsfähiger Hilfsmittel in der Diabetesdiagnostik zur Folge. Damit kann heute dem Ziel einer intensivierten Diabetestherapie mit mindestens vier Blutzuckermessungen pro Tag und schneller Anpassung der Insulindosierung nachgelebt werden. Die Messzeiten der Blutzuckergeräte werden immer kürzer, der benötigte Bluttropfen immer kleiner. Auch die Messgeräte werden stets handlicher und kompakter, sodass sie jederzeit und überall eingesetzt werden können. Zudem sind die modernen Messgeräte in der Lage, eine grosse Anzahl Blutzuckerbestimmungen zu speichern, welche mittels geeigneter Software per Computer ausgewertet werden können. Die Insulinapplikation erfolgt bei Kleinkindern zwar meist noch mittels Insulinspritze, bei Schulkindern und Jugendlichen aber zunehmend mit den handlicheren Pens oder bereits schon per Insulinpumpe (vgl. unten).
Die Insulinbehandlung
Für die Behandlung des Typ-1-Diabetes des Kindes und Jugendlichen steht nach wie vor nur das Insulin zur Verfügung, welches immer noch gespritzt werden muss. Dabei wird versucht, die physiologische Insulinverteilung des Nicht-Diabetikers möglichst nachzuahmen. Das heisst: Ein nahrungsunabhängiger Grundbedarf von etwa 50 Prozent des Tagesbedarfs wird als lang wirkendes Basisinsulin mit einer, zwei oder drei Injektionen am Tag gegeben, dazu kommt das schnell wirkende Essensinsulin (mittels zwei bis vier Injektionen), welches auch etwa 50 Prozent des Bedarfs abdeckt. Bis Mitte der Neunzigerjahre war die Insulintherapie relativ einfach, denn es standen «nur» kurz und lang wirksame
Präparate (humane oder tierische) zur Verfügung. Diese konventionellen Essensinsuline (vgl. Tabelle 1, 2) mit einer Wirkdauer von etwa 2,5 bis 4,5 Stunden und einem Wirkmaximum nach 1 bis 1,5 Stunden wurden kombiniert mit einem Basisoder Verzögerungsinsulin ( Tabelle 1, 2), das zirka 12 Stunden Wirkdauer mit einem Maximum nach 4 bis 6 Stunden aufwies. Da die Wirkdauer dieser Insulinarten dosisabhängig ist (d.h. bei höheren Dosen länger wirkend), kann aber zum Beispiel eine längere Nachtpause von 12 Stunden nur mit einer höheren Dosis abgedeckt werden, was die Gefahr einer Hypoglykämie in den frühen Nachtstunden wegen der stärkeren Anfangswirkung der konventionellen Basisinsuline mit sich bringt. Demgegenüber reichte bei kleineren Kindern oft die morgendliche Gabe eines Verzögerungsinsulins aus, um auch das Mittagessen noch abzudecken, sodass zwei kombinierte Injektionen pro Tag genügen. Der grösste Nachteil der konventionellen Essensinsuline liegt im verzögerten Wirkungseintritt, weshalb auch heute noch ein Spritz-Ess-Abstand empfohlen wird. Das bereits lange verfügbare tierische Semilente wird als Verzögerungsinsulin noch vor Bettruhe eingesetzt, da die später eintretende maximale Wirkung, beispielsweise bei Adoleszenten, den frühmorgendlichen Blutzuckeranstieg besser abdecken kann. 1994 kam das erste kurz wirkende Insulinanalog (Lispro = Humalog®‚ vgl. Tabelle 1, 2) auf den Markt, welches die bisherige Insulintherapie und ihre begrenzten Möglichkeiten revolutionierte. Bei diesem ultrakurz wirkenden, anlog zum Insulin konstruierten Präparat wurden die Positionen 28 und 29 der Aminosäurenkette vertauscht (Lysin/Prolin, daher der Name Lispro), sodass es bereits als Monomer gespritzt werden kann und vom Körper viel rascher und wie Insulin erkannt wird. Wegen des schnellen Wirkungseintritts bereits nach 15 Minuten erübrigt sich ein Spritz-Ess-Abstand, die Wirkungsdauer beträgt jedoch nur 2 bis 2,5 Stunden. Die schnellen Analoginsuline sind ideal als Essens- oder Korrekturinsulin, grössere Zwischenmahlzeiten müssen nun aber mit einer zusätzlichen Insulindosis abgedeckt wer-
Konventionelle Basisinsuline Huminsulin Lilly Basal®, Insulatard HM® Monotard HM®, Semilente MC®, Ultratard HM®
Lang wirksame Insulin-Analoga Lantus®, Levemir®
Konventionelle Essensinsuline Actrapid HM®, Huminsulin Lilly Normal® Insuman®, Velosulin HM®
Kurz wirksame Insulin-Analoga Humalog®, Novorapid®
Konventionelle Mischinsuline
HuminsulinLilly Profil I–IV®, Mixtard HM 10–50®
Insulin-Analoga-Mischungen Humalog Mix 25 und 50®, NovoMix 30®
den. Zudem birgt der schnelle Wirkungseintritt bei bereits tiefem Blutzukkerwert vor dem Essen die Gefahr einer Hypoglykämie bei Tisch in sich, sodass bei BZ < 5 mmol/l empfohlen wird, erst nach dem Essen zu spritzen. In den letzten Jahren sind nun auch lang wirksame Insulinanaloga (vgl. Tabelle 1, 2) verfügbar, welche idealerweise bis zu 24 Stunden wirken und so beim Spritzen vor der Bettruhe den ganzen Basisbedarf abdecken. Dabei vermeidet das flachere Wirkprofil die bei den üblichen Verzögerungsinsulinen beobachtete stärkere Anfangswirkung und die entsprechende Hypoglykämiegefahr. Bei der Anzahl der täglichen Injektionen gilt es immer, das zumutbare Gleichgewicht zwischen Insulinart und Applikationsweise sowie Essrhythmus und Alter des Kindes zu finden. Dazu wird bei Kleinkindern meist noch mit dem ZweiSpritzen-Schema kurz und lang wirkendes Insulin in einer Insulinspritze aufgezogen und vor dem Frühstück respektive Abendessen gespritzt. Bei grösseren Schulkindern wird je nach Blutzuckerwert als Reserve eine kurz wirkende Insulingabe beim Mittagessen und eventuell die Verschiebung des abendlichen Basisinsulins vor Bettruhe eingeführt. Dabei kommt oft schon der Insulinpen zur Vereinfachung der Applikation zum Einsatz, während die morgendliche Kombinationsspritze noch beibehalten wird (nur ein Stich). Je nach Verhältnis der Insulinmengen kann über eine gewisse Zeitperiode auch ein fixes Mischinsulin per Pen verwendet werden, wobei hier die Benennung immer nach der schnellen
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Tabelle 2: Insulin-Wirkzeiten
Komponente erfolgt (z.B. NovoMix® 30 = 30% Novorapid®‚ 70% Basisinsulin).
Funktionelle Insulintherapie und Insulinpumpe
Dem Beispiel der Natur folgend, und um eine grösstmögliche Flexibilität des Diabetikers bezüglich Mahlzeitenschema und Essportionen zu unterstützen, wird in der Diabetestherapie eine möglichst frühzeitige funktionelle respektive intensivierte Insulintherapie (FIT) angestrebt. Das heisst: Der meist jugendliche Diabetiker deckt seinen etwa 50-prozentigen Basisinsulinbedarf mit einem Verzögerungsinsulin (morgens und vor Bettruhe) oder einem Langzeitanalog (ev. nur 1 Injektion vor Bettruhe) ab. Dazu spritzt er beim Essen und entsprechend der geplanten Kohlenhydratmenge ein ultrakurz-wirkendes Insulinanalog, welches bei Kenntnis des jeweiligen Insulinbedarfs pro 10 g Kohlenhydrate und Tageszeit angepasst werden muss. Entsprechend der Erkenntnisse der DCCT- Studie respektive der intensivierten Insulintherapie, sollte der Diabetiker vor dem Essen den Blutzucker messen und gleichzeitig einen allenfalls erhöhten BZ-Wert mit zusätzlichem Korrekturinsulin in den Zielbereich von 5 bis 7 mmol/l hinunterkorrigieren. Die Abdeckung des Basalbedarfs mit zwei Injektionen eines Verzögerungsinsulins hat ihre Tücken, indem der physiologisch erhöhte Insulinbedarf frühmorgens und abends durch das Wirkungsprofil des Basisinsulins nicht optimal abgedeckt wird. Hier können die neueren Langzeitanaloga und vor allem
die Insulinpumpe mit optimaler Anpassung des Grundbedarfs eingesetzt werden. Gerade der Wunsch nach einer möglichst flexiblen Tagesgestaltung – so wie bei Gleichaltrigen – bevorzugt das Insulinmanagement mit ultrakurz wirkendem Analoginsulin mittels Pumpe. Auf diese ganz individualisierte Weise können verschiedene Basalraten mit stündlicher Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse eines Diabetikers in den verschiedenen Lebensphasen erreicht werden. So kann beispielsweise ein Schreinerlehrling eine erste Basalrate für Tage mit körperlicher Aktivität und eine zweite Basalrate für Tage mit Schulbetrieb oder ruhigerem Tagesverlauf am Wochenende programmieren. Eine Insulinpumpe befreit den Diabetiker auch von fixen Essenszeiten, da nun beispielsweise die Mittagspause zeitlich variabel gestaltet werden kann. Auch auf kleinere Zwischenmahlzeiten oder erhöhte BZ-Werte kann mittels Knopfdruck und entsprechender Bolusgabe jederzeit kurzfristig reagiert werden.
Probleme verschiedener Alterskategorien
Die eingangs erwähnte Zunahme der Diabetesinzidenz bei Kleinkindern unter vier Jahren bringt ganz spezifische Probleme mit sich. Die meist sehr kleinen Insulindosen haben ein verkürztes und zum Teil nicht voraussehbares Wirkprofil, und kleine Kinder essen oft sehr unregelmässig und in unterschiedlichen Portionen je nach Esslust, oder zeigen unvorhersehbare körperliche Spielaktivitäten. Je nach Situation muss deshalb schon bei kleinen Kindern auf eine inten-
sivierte Insulintherapie mit mehreren Injektionen am Tag übergegangen werden, wobei hier die Verwendung eines schnellen Analoginsulins nach dem Essen die individuelle Anpassung an die effektiv eingenommene Nahrungsmenge erlaubt. In dieser Alterskategorie ist denn auch eine «befriedigende» Diabeteskontrolle schon bei einem HbA1c um 8 Prozent erreicht, gilt es doch vor allem, ein gutes Gedeihen des Kindes ohne zu häufige Hypoglykämien oder Entgleisungen anzustreben. Während die Schulzeit mit relativ regelmässigem Stundenplan meist ziemlich «ruhig» und gleichmässig verläuft, und ein HbA1c möglichst unter 7,5 Prozent angestrebt wird, stellt die Adoleszenz mit starken körperlichen und hormonellen Veränderungen eine neue Herausforderung an das ganze Diabetesteam dar. Die körperlichen Reifungsprozesse und die psychischen Entwicklungen respektive Emotionen in der Pubertät beeinflussen den Blutzuckerverlauf sehr stark. Meist haben die Jugendlichen über die Jahre hinweg an sich gute Diabeteskenntnisse erworben, die selbstständige Anwendung und die zunehmende Übernahme der Verantwortung für die eigene Gesundheit machen aber häufig Probleme. Hier gilt es für das Diabetesteam, mit stetiger Motivation und der Festlegung kleiner, erreichbarer Ziele, dem jugendlichen Diabetiker zur Seite zu stehen. Der Schlüssel zur Akzeptanz dieser chronischen Erkrankung am Übergang zum Erwachsenenalter ist dabei wiederum die individuelle Anpassung der Diabetestherapie ans Leben eines Teenagers bezüglich Wahl des Insulins, der Applikationsart, des Ernährungsplans sowie der Sportund Freizeitaktivitäten.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Beatrice Kuhlmann Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, speziell Endokrinologie und Diabetes Hirzbodenweg 48, 4052 Basel
Tel. 061-312 27 00/01 E-Mail: beatrice.kuhlmann@bluewin.ch
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