Transkript
Schwerpunkt
Mit Kindern in die Höhe steigen
Höhenkrankheit bei Kindern und Jugendlichen
Es gibt erst wenige Studien, welche die Höhenkrankheit bei Kindern untersucht haben. Bei älteren Kindern wird angenommen, dass die Symptome denen Erwachsener gleichen. Sind Kinder bei längeren Bergtouren in höheren Lagen mit dabei, sollten jedoch besondere Vorsichtsmassnahmen gelten, und schon bei ersten Symptomen gilt: Sofort absteigen!
von Dr. med. Susi Kriemler
J edes Jahr reisen Tausende von Kindern, die im Tiefland leben, in die Höhe, meist zum Vergnügen, manchmal aber auch, weil die Eltern im Hochland arbeiten. Während die meisten Kinder während dem Höhenaufenthalt gesund bleiben, gibt es einige, die Symptome entwickeln, die einer Höhenkrankheit (HK) entsprechen. Unsere Erkenntnisse betreffend Höhentoleranz und damit der Gefahr einer Höhenexposition für die Kinder basieren auf nur wenigen Daten, die ich hier kurz beleuchten möchte. Ziel ist es, dem praktischen Arzt Informationen zu liefern, damit er Kinder und ihre Eltern bezüglich einer Höhenexposition beraten kann. Da jeder, ob Kind oder Erwachsener, sich in eine lebensgefährliche Situation bringen kann, wenn er genügend rasch genügend hoch steigt, scheint es nicht falsch, ein paar Grundregeln der Höhenanpassung sowie die Symptome und Therapie der Höhenkrankheiten zu kennen.
Die folgenden drei Diagnosen definieren die höhenbedingten Erkrankungen: 1. die akute Höhenkrankheit (AHK =
AMS, Acute Mountain Sickness) 2. das Höhenlungenödem (HAPE =
High Altitude Pulmonary Edema) 3. das Höhenhirnödem (HACE =
High Altitude Cerebral Edema). AHK und HACE repräsentieren die neurologische Form der Höhenerkrankung, während HAPE die pulmonale Pathophysiologie reflektiert. Die akute Höhenkrankheit wird durch einen raschen Höhenanstieg (> 2500 m) ausgelöst. Symptome treten innert Stunden bis Tagen auf und sind bei Erwachsenen charakterisiert durch Kopfschmerzen, Schwindel und/oder
Erbrechen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, allgemeines Unwohlsein und Schlafstörungen. Das Höhenhirnödem ist normalerweise die Folge einer progressiven AHK und äussert sich in schweren, Schmerzmittel-resistenten Kopfschmerzen, Ataxie, Verhaltens- und Bewusstseinsstörungen, Halluzinationen, Desorientiertheit, fokalen neurologischen Symptomen oder schlussendlich als Koma. Das Höhenlungenödem wird durch die Hypoxie ausgelöst und präsentiert sich mit Dyspnoe, einem körperlichen Leistungsknick, Husten, Zyanose, Tachypnoe, Tachykardie und Fieber, meist in Kombination oder gefolgt von einer AHK. HAPE und HACE sind lebensgefährliche Erkrankungen, die unbehandelt oft zum Tode führen.
Inzidenz
Akute Höhenkrankheit Die Inzidenz der akuten Höhenkrankheit variiert je nach Geschwindigkeit des Anstiegs und je nach der erreichten Höhe. 22 Prozent erkranken an AHK auf Höhen zwischen 1850 m und 2750 m, 50 Prozent nach Anstieg auf 4550 m, und 70 bis 100 Prozent bei einem direkten Flug auf 4500 m. Die Inzidenz der AHK bei Kindern scheint etwa gleich zu sein wie bei Erwachsenen, wobei diese Daten auf lediglich vier Studien beruhen.
Höhenlungennödem Im Flachland lebende Kinder haben wahrscheinlich die gleiche Inzidenz des Höhenlungenödems wie Erwachsene. Die Inzidenz von HAPE bei Kindern, die auf dem Tibetischen Plateau (4550 m) reisten, entsprach derjenigen der Erwachsenen (1,5 vs. 1,27%).
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Risikofaktoren für eine Höhenerkrankung
Es gibt nur wenige Informationen, welche Risikofaktoren einer Höhenerkrankung spezifisch für Kinder beschreiben, sodass wir uns oft mit der Erwachsenenliteratur begnügen müssen: Ein rascher Anstieg in grosse Höhen geht mit einer erhöhten Höhenerkrankung bei Erwachsenen einher. Dabei spielt insbesondere die Schlafhöhe eine kritische Rolle. Die Schwelle der Höhenerkrankung scheint zwischen 2500 und 3000 m zu liegen (> 20% Inzidenz), die Höhenerkrankung unter 2500 m kommt selten vor. Grosse körperliche Anstrengung und Kälte werden als Risikofaktoren zur Entstehung eines Höhenlungenödems bei Erwachsenen beschrieben. Akute oder subakute virale und bakterielle respiratorische Infekte scheinen das Risiko eines Höhenlungenödems bei Kindern zu erhöhen. In einer retrospek-
tiven Studie bei Kindern mit HAPE konnte festgestellt werden, dass 80 Prozent dieser Kinder kürzlich durchgemachte respiratorische Infekte zeigten. Es ist möglich, dass diese Infekte zu einer erhöhten vaskulären Permeabilität in den Lungen geführt oder eine erhöhte pulmonal-vaskuläre Reaktivität ausgelöst haben durch Mediatoren oder Zytokine. Diese Theorie wird unterstützt durch die Begebenheit, dass Kinder, die in der Höhe leben, im Rahmen eines respiratorischen Infekts ein spontanes Höhenlungenödem entwickeln können. Kinder, die in der Höhe (3000 m) wohnen (Highlander), zeigen eine erhöhte Inzidenz des Höhenlungenödems, wenn sie ins Tiefland reisen und wieder aufsteigen. Bei diesen Kindern steigt unter der akuten Hypoxie der pulmonal-arterielle Druck überproportional an, was auf eine erhöhte Reaktivität der Hypoxie-bedingten pulmonal-arteriellen Hypertonie schliessen lässt. Diese ist schlussendlich
hauptverantwortlich für die Entstehung des HAPE. Eine interessante Studie, die in den Schweizer Alpen durchgeführt wurde, zeigt, dass junge Erwachsene, die als Kinder während den ersten Lebenswochen eine transiente perinatale pulmonale Hypertonie durchgemacht haben, eine überschiessende pulmonal-arterielle Hypertonie auf Hypoxie zeigen im Vergleich zu jungen Erwachsenen, die gesund waren. Die Inhalation von NO (welches eine Rolle in der Kontrolle des vaskulären Tonus spielt) induzierte grössere Reduktionen des pulmonal-arteriellen Drucks bei den Erwachsenen mit transienter perinataler Hypertonie als bei den gesunden. Die Autoren stellten deshalb die Hypothese auf, dass der perinatale Defekt in der NO-Synthese, welche bei Neugeborenen mit pulmonaler Hypertonie gefunden wird, möglicherweise bis ins Erwachsenealter persistiert und für die überschiessende höheninduzierte
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pulmonale Hypertonie verantwortlich ist. Kinder mit Trisomie 21 haben ein erhöhtes Risiko, an einem Höhenlungenödem zu erkranken, da die meisten von ihnen kardiale Missbildungen wie zum Beispiel chronische pulmonale Hypertonie, pulmonale Hyperperfusion oder persistierende kardiale Limitationen nach Operationen haben. Bei solchen Kindern sollte grösste Vorsicht gelten, da Höhenlungenödeme schon auf Höhen von 1738 m beschrieben wurden, und zwar schon ab dem zweiten Altersjahr, auch mit einer einwandfreien kardialen Funktion. Eine grössere pulmonale Vasoreaktivität, kongenitale Herzvitien mit konsekutiven Veränderungen der pulmonalen Gefässe, häufigere und schwerere Infekte aufgrund eines pathologischen Immunsystem, eine hohe Inzidenz von obstruktivem Apnoeund Hypoventilationssyndrom (vor allem bei den Übergewichtigen) und auch eine Lungenhypoplasie sind alles Trisomieassoziierte Faktoren, die zu einer verstärkten Hypoxämie in der Höhe führen und somit zu einem erhöhten Risiko, an einem Höhenlungenödem zu erkranken.
Symptome
Ältere Kinder zeigen mit grösster Wahrscheinlichkeit die gleichen Symptome und Zeichen einer Höhenerkrankung wie Erwachsene. Für kleinere Kinder kann die Diagnose jedoch Schwierigkeiten bereiten, indem sich höhenbedingte Symptome als unspezifische Verhaltensauffälligkeiten äussern können und die Kinder nicht symptomspezifisch klagen können. Für Kinder unter drei Jahren wurde ein spezielles Punktesystem entwickelt in Form eines modifizierten Lake Louise Scores. Die Symptome beinhalten generelle Unruhe, verminderten Appetit mit oder ohne Erbrechen, vermindertes Spielverhalten und Schlafstörungen. Wie bei Erwachsenen beginnen die Symptome vier bis 48 Stunden nach dem Höhenanstieg. Generell soll jedes Symptom oder jede Verhaltensänderung bei kleinen Kindern als Höhenkrankheit gewertet werden. Tritt nicht innert ein bis zwei Stunden eine Besserung auf, sollte auf jeden Fall abgestiegen werden.
Therapie
Als oberstes Gesetz gilt, den Höhenanstieg zu beenden und abzusteigen, bis die Symptome verschwinden. Da die Differenzialdiagnose einer Höhenkrankheit insbesondere bei Kindern umfangreich ist, sollten auch diese in Betracht gezogen werden: Dehydratation, Erschöpfung, Hypothermie, psychologische Verhaltensstörungen, akute Infekte sind in jedem Alter häufig. Bei Kleinkindern sollte ausserdem darauf geachtet werden, dass Toxine von Pflanzen, Beeren und Pilzen eine AHK oder ein HACE imitieren können, oder eine Fremdkörperaspiration ein HAPE. Es gibt keine Studien zur Therapie der Höhenerkrankungen bei Kindern; es scheint jedoch angemessen, das Therapieschema für Erwachsene zu gebrauchen, mit den der Kinder angepassten Dosierungen. Da wir sehr wenig wissen über den natürlichen Verlauf der Höhenerkrankung bei Kindern, sei nochmals betont, dass sofort, wenn immer möglich, abgestiegen werden soll. Bei schwererer Erkrankung soll das Kind getragen werden, um die körperliche Anstrengung zu reduzieren. Die Rucksackapotheke sollte möglichst viele Medikamente in Form von Zäpfchen enthalten, speziell für kleine Kinder. Eine milde AHK sollte mit einem Abstieg von 500 bis 1000 m behandelt werden. Bei unmöglichem Abstieg sollte Acetazolamid 2,5 mg/kg/Dosis p.o. alle acht bis zwölf Stunden (max. 250 mg) gegeben werden. Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen, können mit den üblichen Dosierungen behandelt werden (Acetaminophen, Diclofenac); für Nausea und Erbrechen kann Meclozin/Pyridoxin/ Coffein rektal oder Prochlorperazin p.o. oder rektal angewendet werden. Aspirin sollte bei kleinen Kindern nicht verwendet werden. Schwerere AHK oder HACE sollten mit einem sofortigen Abstieg behandelt werden. Ist dies nicht möglich, sollte – falls vorhanden – Sauerstoff appliziert werden in einer Dosis von 1 bis 2 l/min. Zusätzlich sollte Acetazolamid (s.o.) und Dexamethason 0,15mg/kg/Dosis alle vier Stunden
sowie die symptomatische Behandlung, wie oben beschrieben, angewendet werden. Falls ein Überdrucksack exstiert, sollte das Kind alleine oder in Begleitung eines Erwachsenen behandelt werden. Die HAPE-Behandlung beinhaltet ebenfalls primär den sofortigen Abstieg oder eine Evakuation. Falls dies nicht möglich ist, sollte das Kind aufrecht hingesetzt werden und ihm 2 bis 6 l/min Sauerstoff und Nifedipin 0,5mg/kg/Dosis p.o. alle acht Stunden (max. 20 mg für Kapseln, 40 mg für Tabletten, v.a. Slow Release) appliziert werden. Die Gabe von zusätzlich Dexamethason ist indiziert bei gleichzeitiger AHK/HACE. Auch hier kann eine Überdrucksackbehandlung Wunder wirken.
Prävention
Am allerwichtigsten ist der langsame Aufstieg, wobei die ideale Geschwindigkeit wegen grosser individueller Unterschiede der Fähigkeit der Akklimatisation unklar ist. Die generelle Empfehlung lautet, ab einer Höhe von 2500 bis 3000 m nicht mehr als 500 m pro Nacht (Schlafhöhe) aufzusteigen. Eine Extranacht für die Akklimatisation sollte jeweils nach 1000 aufgestiegenen Höhenmetern eingeschaltet werden. Es kann problemlos während dem Tag höher aufgestiegen werden, wenn die Regel der Schlafhöhe eingehalten wird. Eine körperliche Überanstrengung sollte auf jeden Fall vermieden werden, eine mässige körperliche Anstrengung wirkt sich positiv auf die Akklimatisation aus. Eine genügende Energie- und Flüssigkeitszufuhr sollte gewährleistet sein. Das Kind sollte die ganze Zeit genau beobachtet werden bezüglich Symptomen der Höhenkrankheiten, Appetit, Leistungsfähigkeit, Hautfarbe und Verhalten.
Literatur bei der Verfasserin.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Susi Kriemler
Sportphysiologie ETH und Universität Zürich
Winterthurerstrasse 190 8057 Zürich
E-Mail: kriemlers@swissonline.ch
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