Transkript
Im Fokus: Palliative Care
Frühe Integration – Palliative Care und Onkologie
Konzepte und Aufgaben: früher – heute – morgen
Palliative Care, ursprünglich Teil der Hospizbewegung mit der Sterbebegleitung im Mittelpunkt, verstand sich als «Gegenbewegung» zur Onkologie. Inzwischen wurde erkannt, dass sich die frühzeitige Integration auch lebensverlängernd auswirken kann und dabei wertvolle Stützen ermöglicht. Konzept, Aufgaben, Zeitpunkte, aber auch klaffende Versorgungslücken werden im Folgenden vorgestellt.
DAVID BLUM, CAROLINE HERTLER
SZO 2019; 5: 6–8.
David Blum Caroline Hertler
Die Vergangenheit
Palliative Care, ursprünglich als Teil der Hospizbewegung mit dem Fokus auf Sterbebegleitung entstanden, formierte sich historisch als eine Art «Gegenbewegung» zur Onkologie. Während die onkologische Patientenbetreuung im klinischen Zentrum praktiziert wurde und einen Fokus auf Heilung und die Behandlung der Tumoren legte, fand die palliative Betreuung patientenzentriert im Hinblick auf Lebensqualität nach Abbruch aller onkologischen Therapien meist ausserhalb des klinischen Umfeldes in der Peripherie statt. In dieser deutlichen räumlichen und inhaltlichen Trennung der Behandlungskonzepte widerspiegelte sich das Spannungsfeld der Fachdisziplinen. Seit diesen frühen Jahren der Palliative-CareEntwicklung, in denen Cicely Saunders, Ärztin, Krankenschwester und Sozialarbeiterin, das erste moderne Hospiz St. Christophers in London eröffnet hat und der Begriff Palliative Care durch Balfour Mount begründet wurde, sind mehrere Dekaden vergangen. Eine Integration von palliativmedizinischen Aspekten in die onkologische Praxis ist inzwischen etabliert und wurde mit Publikation der Studie von Temel und Kollegen (1) zu einem evidenzbasierten Kriterium der
ABSTRACT
Early integration of Palliative Care and Clinical Oncology
Early Integration of Palliative Care in incurable cancer patients is beneficial and recommended by societies for oncology. Palliative care represents a multiprofessional approach and encompasses symptom assessment and management as well as understanding of disease and prognosis, shared decision-making, care plans (advanced care planning), care network and end-of-life preparation. However, specialized Palliative Care is not required in all patients, and resources including personel and financing are sparse. Basic Palliative Care may be provided by the treating physician, including oncologists and general practitioners, in cooperation with specialist Palliative Care services, to ensure a comprehensive patient care.
Keywords: Integration, Palliative Care, oncology, symptom management, specialist Palliative Care.
Behandlungsqualität: Gezeigt wurde, dass die frühe palliativmedizinische Versorgung von Patienten mit nicht kleinzelligem Bronchuskarzinom, ergänzend zur onkologischen Behandlung, die Lebensqualität verbessert und das Überleben positiv beeinflusst. Gleichwohl wurde in dieser Untersuchung nicht exakt definiert, welche Elemente von Palliative Care genau implementiert wurden und wirksam waren.
Was ist Palliative Care?
Die wichtigsten Elemente der Palliative Care umfassen Symptomkontrolle (vgl. Artikel S. 9 ff.), aber auch die Aufklärung des Patienten und der Angehörigen über Krankheitsstand und Prognose unter Berücksichtigung der verschiedenen möglichen Krankheitsverläufe (im Sinne «Auf das Beste hoffen, auf das Schlechteste vorbereitet sein»). Darauf basiert die gemeinsame Entscheidungsfindung, ein weiteres wichtiges Element. Hierbei sollen Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsoptionen diskutiert werden. Zusätzlich ist eine vorausschauende Planung empfohlen, wenn möglich im Sinne des «advance care planning» (ACP), das heisst die Erstellung einer Patientenverfügung, die Festlegung einer Vertretungsperson bei Nichturteilsfähigkeit sowie das Vorbereiten eines Notfallplans für die poststationäre Zeit in der Häuslichkeit oder in einer Pflegeinstitution. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Benennung eines Behandlungsteams, des Versorgungsnetzes mit klar bestimmten Ansprechpersonen für Fragen und Notfälle. Palliative Care kann auch konkrete Vorbereitung auf das Lebensende und das Sterben bedeuten. Dazu gehört auch der Einbezug der Angehörigen mit deren Begleitung über den Tod des Patienten hinaus. Spirituelle Bedürfnisse dürfen ebenso wie psychologische und psychosoziale Belastungsfaktoren nicht vergessen werden.
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Im Fokus: Palliative Care
Wann soll Palliative Care stattfinden?
Das Prinzip der Temel-Studie wurde in verschiedenen Ländern und Settings unterschiedlich erfolgreich repliziert (2). Nahezu allen Studien ist gemeinsam, dass der Einbezug von Palliative Care einen meist positiven Effekt hat. Aus diesem Grund lautet die Frage inzwischen nicht mehr, ob man Palliative Care in die onkologische Behandlung integrieren soll, sondern wann, wie und durch wen das geschehen soll. Empfehlungen zur frühen Integration von Palliative Care in die onkologische Therapie sind inzwischen bei allen grösseren Krebsgesellschaften in den neuesten Guidelines zu finden. Die American Society of Clinical Oncology (ASCO) empfiehlt seit 2012 – und aktualisiert/überarbeitet 2018 – eine palliative Mitbetreuung parallel zur onkologischen Behandlung frühzeitig im Krankheitsverlauf (3). Auch die European Society for Medical Oncology (ESMO) empfiehlt seit 2014 die Involvierung von Palliative Care, sobald eine Krebserkrankung als unheilbar angesehen wird (4). Etwas genauer äussert sich die Kommission im «Lancet Oncology»: Die Integration von Palliative Care bei onkologischen Patienten wird hier erstens innerhalb von 3 Monaten ab der Diagnose eines fortgeschrittenen, nicht heilbaren Krebsleidens, zweitens ab geschätztem Überleben von unter 1 Jahr oder drittens ab Progredienz nach Zweitlinienchemotherapie empfohlen (5) (Abbildung 1). Heutzutage ist Palliative Care also ein integraler Bestandteil von umfassender onkologischer Medizin und wird entsprechend in akademischen und universitären Krebszentren (Comprehensive Cancer Centers, CCC) als solcher in Zertifizierungen gefordert. Die in den Anfängen der Palliative Care übliche Auslagerung von unheilbarer Krankheit und Tod ist nicht mehr vorgesehen, und die Integration von Palliative Care in den onkologischen Betreuungsverlauf ist Teil der Behandlung.
Allgemeine Palliative Care durch den Onkologen
Dies widerspiegelt sich auch in den aktuellen nationalen Strategien des schweizerischen Gesundheitswesens. Da eine doppelte Betreuung von Patienten durch Onkologen und Palliativmediziner konzeptionell eine Ineffizienz der Ressourcen darstellt, empfiehlt sich eine Unterteilung in allgemeine Palliative Care und spezielle Palliative Care. Die allgemeine Palliative Care beinhaltet die Grundimplementierung von supportiven und palliativen medikamentösen und nicht medikamentösen Aspekten in die onkologische Therapie und wird von Onkologen und involvierten Hausärzten durchgeführt. Die spezialisierte Palliative Care soll bei schweren, unkontrollierten physischen und psychischen oder psychosozialen Problemen greifen (Abbildung 2). Diese Elemente können sequenziell oder überlappend eingesetzt werden und erlauben auch Transi-
Abbildung 1: Integration von Palliative Care in den onkologischen Krankheitsverlauf (adaptiert nach [3, 4])
Spezialisierte Palliative Care
Transition
Allgemeine Palliative Care
Abbildung 2: Nationale Strategie «Palliative Care» (adaptiert nach [9])
tionen in beide Richtungen. Auch erlaubt dieses Konzept eine umfassende, palliativ begleitete Betreuung onkologischer Patienten durch den vertrauten behandelnden Onkologen über einen langen Zeitraum und gestattet dem Patienten, die positiven Aspekte von Palliative Care bereits zu einem frühen Erkrankungszeitpunkt zu erleben, ohne einen Therapeutenwechsel zu vollziehen oder sich subjektiv frühzeitig aufgegeben zu fühlen. Kriterien für die erforderliche Involvierung von spezialisierter Palliative Care über die allgemeine BasisPalliative-Care hinaus werden intensiv diskutiert (6).
Aufgabenbereiche der spezialisierten Palliative care Schmerzexazerbationen, die den Einsatz von Schmerzpumpen (auch im ambulanten Rahmen), die kontinuierlich Schmerzmittel abgeben, erforderlich machen, gehören ebenso dazu wie soziale Dekompensationen der Betreuungssituation im häuslichen Bereich. Aber auch schwere Toxizität von Krebstherapien mit ungeplanten Notfallaufnahmen oder unklare Ziele der Krebstherapie können ein Grund sein. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können auch die Therapiezielfindung im Allgemeinen, existenzielle
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Krisen oder familiäre Belastungen ein Kriterium für die Involvierung spezialisierter Palliative Care sein. Wichtig ist, dass nicht jeder sterbende Patient einer spezialisierten palliativmedizinischen Betreuung bedarf; der natürliche Tod verläuft ungestört von grossen medizinischen Interventionen meist ruhig und friedlich ab und braucht weder Spital noch Spezialisten. Ein spezialisierter palliativmedizinischer Service in einem Spital umfasst meist eine Bettenstation mit mindestens acht Betten für spezialisierte Palliative Care, betreut von einem definierten und ausgebildeten Team inklusive spezialisierter Pflege und Palliativmedizinern mit Schwerpunktitel. Dazu kommt ein interprofessioneller Konsiliardienst für Patienten auf anderen Stationen sowie eine Palliativambulanz für Patienten und Angehörige von extern. Lehre und Forschung stellen in einem akademischen Zentrum ebenfalls einen integralen Bestandteil der spezialisierten Palliative Care dar. Palliative Care beschränkt sich nicht nur auf Tumorpatienten. Hämatologische Neoplasien gehen oft mit einer grossen Symptomlast und einem sehr reduzierten Allgemeinzustand einher. Nur ist in der Hämatoonkologie der Übergang zwischen potenziell kurativer und palliativer Behandlung noch unschärfer als bei soliden Tumoren. Die ersten Integrationsstudien haben aber auch hier gezeigt, dass der Beizug von Palliative-Care-Spezialisten die Symptomlast verringern und die Lebensqualität verbessern kann, ohne dass Hoffnung, Transplantationsmortalität oder Überleben beeinträchtigt worden sind (7). Auch andere chronisch lebenslimitierende Krankheiten wie Herzinsuffizienz, terminale Niereninsuffizienz, COPD oder neurodegenerative Erkrankungen qualifizieren für Palliative Care, obwohl hier der Einbezug leider oft zu selten oder zu spät stattfindet (8).
Die Zukunft
Trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren und einer soliden Implementierung von allgemeiner Palliative Care in die onkologische Grundversorgung einerseits sowie höherer Akzeptanz der spezialisierten Palliative Care andererseits stehen Integration und Weiterentwicklung noch immer am Anfang. Noch immer bestehen grosse Lücken in der Versorgung; es gibt regionale Unterschiede und ein persistierendes
Merkpunkte
I Frühe Integration von Palliative Care bei fortgeschrittener Krebserkrankung kann die Lebensqualität von Patienten und Angehörigen verbessern.
I Von den grossen internationalen Onkologie-Gesellschaften wird die frühe Integration von Palliative Care empfohlen.
I Allgemeine Palliative Care kann und soll von Onkologen durchgeführt werden. I Symptombehandlung, Krankheitsverständnis, gemeinsame Entscheidungsfindung und
vorausschauende Planung sind wichtige Teile der Palliative Care.
Stadt-Land-Gefälle bezüglich der Versorgung mit Palliative Care. Zudem gibt es nicht genügend ambulante Angebote für eine suffiziente häusliche Versorgung. Auch im poststationären Bereich finden sich für den steigenden Bedarf keine ausreichenden Langzeitinstitutionen, die komplexe palliative Patienten betreuen können.
Weiterhin unvollständige Finanzierung
trotz steigendem Bedarf
Das grösste Problem allerdings ist die unvollständige
und fragmentierte Finanzierung von Palliative Care (9).
Ein umfassendes spezialisiertes Palliative-Care-Ver-
sorgungsangebot stellt eine personal- und kostenin-
tensive Leistung dar. Jedoch muss berücksichtigt
werden, dass auch am Lebensende viele Kosten ent-
stehen, die man mit entsprechender vorbereitender
und therapiezielklärender Gesprächsführung vermei-
den kann.
Gleichwohl ist es weiterhin häufig einfacher, Deckung
für neue Tumortherapien und Intensivaufenthalte fi-
nanziert zu bekommen als für umfassende Betreuung
und Pflege. Eine spezifische Schwierigkeit in der
Schweiz ist, dass Kosten, die im Akutspital generiert
werden, weitgehend von der Krankenkasse getragen
werden, hingegen Kosten einer Langzeitinstitution,
wie Pflegeheim oder Hospiz, grösstenteils zulasten
der Patienten gehen. Der Wechsel der Institution von
Akutspital in beispielsweise eine Pflegeeinrichtung
stellt somit für den Patienten eine doppelte Belas-
tung – sowohl psychologischer als auch finanzieller
Natur – dar, wobei die herkömmliche Unterscheidung
akut/langzeit am Lebensende oft nicht mehr greift.
Aufgrund der Fallzahlen, die entsprechend der de-
mografischen Entwicklung auch in der Palliative Care
steigen werden, sind diese Probleme auch in Zukunft
vordringlich.
Das zunehmende Bewusstsein der Bedeutung einer
Palliative-Care-Integration sowie deren deutliche
Akzeptanz waren ein erster wichtiger Schritt; für die
weitere Implementierung und Umsetzung der be-
darfsdeckenden Versorgung mit Palliative Care wer-
den neue Schritte in Kooperation mit den ambulan-
ten und stationären Partnerstrukturen, jedoch auch
die Klärung der Finanzierung zwingend erforderlich
sein.
I
Prof. Dr. med. David Blum (Korrespondenzadresse) E-Mail: david.blum@usz.ch
PD Dr. med. Caroline Hertler
Kompetenzzentrum Palliative Care UniversitätsSpital Zürich 8061 Zürich
Interessenkonflikte: keine.
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Im Fokus: Palliative Care
Quellen: 1. Temel JS et al.: Early palliative care for patients with metastatic Non–Small-Cell Lung Cancer. N Engl J Med 2010; 363(8): 733–742. 2. Gaertner J et al.: Effect of specialist palliative care services on quality of life in adults with advanced incurable illness in hospital, hospice, or community settings: systematic review and meta-analysis. Brit Med J 2017: j2925. 3. Ferrell BR et al.: Integration of palliative care into standard oncology care: American Society of Clinical Oncology clinical practice guideline – update. J Clin Oncol 2017; 35(1): 96–112. 4. Jordan K et al.: European Society for Medical Oncology (ESMO) position paper on supportive and palliative care. Ann Oncol 2018; 29(1): 36–43. 5. Kaasa S et al.: Integration of oncology and palliative care: a Lancet Oncology Commission. Lancet Oncol 2018, 19(11): e588–e653. 6. Hui D et al.: Referral criteria for outpatient specialty palliative cancer care: an international consensus. Lancet Oncol 2016; 17(12): e552–e559. 7. El-Jawahri A et al.: Effect of inpatient palliative care during hematopoietic stem-cell transplant on psychological distress 6 months after transplant: Results of a randomized clinical trial. J Clin Oncol 2017; 35(32): 3714–3721. 8. Bostwick D et al.: Comparing the palliative care needs of those with cancer to those with common non-cancer serious illness. J Pain & Sympt Management 2017; 53(6): 1079–1084.e1. 9. Liechti L, Künzi K.: Stand und Umsetzung von Palliative Care in den Kantonen – im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS-Report) 2019.
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