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Im Fokus: Palliative Care
Die Symptomkontrolle in der allgemeinen Palliative Care
Ein Überblick
Die Balance zwischen Symptomen einer fortgeschrittenen Erkrankung, Nebenwirkungen laufender Therapien und der verbliebenen Lebensqualität zu wahren, stellt eine Herausforderung in der Palliative Care dar. Hinzu kommt, dass Werte und Ziele eines Patienten oft individuell berücksichtigt werden müssen. Im Folgenden werden neben der Behandlung häufiger Symptome auch Methoden ergänzender, interprofessioneller Behandlungsansätze vorgestellt, die in der ambulanten und stationären Versorgung in der allgemeinen Palliative Care Anwendung finden können.
MARKUS SCHETTLE, ANNINA SEILER
SZO 2019; 5: 9–16.
Markus Schettle Annina Seiler
Schmerz
Schmerz bleibt weltweit einer der Hauptgründe für medizinische Konsultationen, insbesondere bei onkologischen Patienten. In der Frühphase einer Tumorerkrankung berichten etwa 20 bis 50%, in einem fortgeschrittenen Stadium 55 bis 95% der Patienten über Schmerzen (1, 2). Ursache können tumorbedingte (direkt durch den Tumor verursachte) und tumorassoziierte Schmerzen (z.B. venöse Thrombose), therapieassoziierte Schmerzen (z.B. durch Operation, Chemotherapie, Strahlentherapie) sowie tumorunabhängige Schmerzen (z.B. Schmerzen des Bewegungsapparates, gastrointestinale Beschwerden) sein. Dabei werden die beiden Hauptgruppen nozizeptiver (= somatischer und viszeraler) und neuropathischer (= neuralgiformer) Schmerz unterschieden. Schmerz ist immer subjektiv und muss erfragt werden. Die Diagnostik beinhaltet eine ausführliche Anamnese, die Erfassung von Schmerzstärke, Schmerzart, Lokalisation sowie Art und Häufigkeit der bereits eingenommenen Medikamente unter Verwendung eines einheitlichen Messinstruments zur Objektivie-
ABSTRACT
Symptom management in basic Palliative Care – an overview
Patients with advanced cancer suffer from a variety of symptoms, which often remain underrecognized and undertreated. Palliative Care patients’ values and goals have to be considered individually in order to ensure a right balance of ongoing treatments, possible side effects and quality of life. In this article, the treatment of common symptoms in Palliative Care patients (e.g., pain, dyspnea, constipation, nausea, sleeping disorders, anxiety, and fatigue) and its treatment is outlined. Furthermore, multi-professional approaches, including psycho-oncology that can complement the medical treatment of Palliative Care patients, are discussed.
Keywords: symptom management, Palliative Care, psycho-oncology, total pain, dignity therapy.
rung der Schmerzintensität (mittels visueller Analogskala; VAS, nummerischer Ratingskala; NRS) (3). Eine körperliche Untersuchung und bildgebende Diagnostik schliessen die Diagnostik des Schmerzes ab. An erster Stelle steht die Evaluation einer möglichen kausalen Therapie wie beispielsweise einer Verbesserung durch Operation, System- oder Strahlentherapie unter Abwägung des Nutzens versus die zu erwartende Belastung und möglicher Nebenwirkungen – dies gemeinsam mit dem Patienten. Neu wurde die analgetische Strahlentherapie im Vorjahr in die WHO-Leitlinien zur Behandlung von Schmerzen bei Krebserkrankung aufgenommen (4).
Medikamentöse Therapie Grundpfeiler der medikamentösen Therapie ist die Wahl des Analgetikums respektive einer sinnvollen Kombination zu Beginn einer Schmerztherapie. Die Verabreichung von Analgetika sollte bevorzugt I oral I zu fixen Zeiten I individuell angepasst und I patientenzentriert (individuelle Aufwach-, Essens-
und Schlafenszeiten) erfolgen. Nicht opioidhaltige Analgetika dienen als Basisanalgetika bei leichten Schmerzen oder in Kombination mit Opioiden bei mittelstarken bis starken Schmerzen (Tabelle 1.1). Insbesondere nicht steroidale Antirheumatika können durch ihre antiphlogistische Wirkung bei somatischen Nozizeptorschmerzen (z.B. bei Knochenmetastasen) in Kombination mit Opioiden zu einer deutlichen Schmerzlinderung führen. Gemäss den 2018 revidierten WHO-Leitlinien (4) wird bei mittleren bis starken Schmerzen empfohlen, direkt mit einem Opioid zu beginnen. Unter den opioidhal-
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Total Pain
Patienten, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind, leiden häufig unter Distress, Angst vor dem Sterben, Angst vor Schmerzen, Angst vor Autonomieverlust, depressiven Symptomen, sozialen und finanziellen Belastungen, Hoffnungslosigkeit und Verlust von Würde und Bedeutung im Leben (1). Cicely Saunders (2), Begründerin der modernen Palliative Care, prägte in den frühen 1960erJahren den Begriff Total Pain, demnach Schmerzen nicht nur körperliche Ursachen haben, sondern auch psychischer, sozialer und spiritueller Art sein können. Das Konzept Total Pain bezeichnet einen allumfassenden Schmerz und deutet auf die ganzheitliche Betrachtung des Patienten und dessen Schmerzerleben hin, um die Bedürfnisse des sterbenden Patienten verstehen zu können. Ängste, Sorgen und/oder depressive Symptome sowie familiäre Spannungen, finanzielle Belastungen und gesellschaftliche und kulturelle Widerstände können das Schmerzempfinden bedeutend verstärken und den Umgang mit (Tumor-)Schmerzen erschweren. Am Lebensende sind es häufig nicht die Schmerzen an sich, welche die Patienten belasten, sondern die Lebensumstände, welche die Schmerzen unerträglich machen.
Die Behandlung von Total Pain ... ... erfolgt durch die Involvierung einer engen, interdisziplinären multimodalen Begleitung, die Schmerztherapie, pflegerische Zuwendung, Psycho-Onkologie und Seelsorge erfordert. Nach diesem Ansatz richtet sich die moderne Palliative Care, deren wichtige Aufgabe es ist, die Lebensqualität von Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung und deren Angehörigen zu verbessern, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch die frühzeitige Erkennung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art (3).
Dignity-Therapie
Eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung kann starke existenzielle Ängste auslösen, dazu gehören die Auseinandersetzung mit dem Ende des Selbst oder dem Vergessenwerden, die Beschäftigung mit dem Sterbeprozess und Themen wie Einsamkeit, Isolation und Sinnfragen. Es geht aber auch um die Gestaltung der Gegenwart und der verbleibenden Zeit. Existenzielle Ängste können weder gelöst noch bewältigt werden, sondern es muss gelernt werden, auf irgendeine Art und Weise mit diesen zu leben und ihnen gegenüber eine bestimmte innere Haltung zu entwickeln. Sinnzentrierte Interventionen können helfen, diesen existenziellen Ängsten zu begegnen. Die Dignity-Therapy (würdezentrierte Therapie) nach Harvey Chochinov (4) ist eine Kurzzeitintervention zur Stärkung der individuellen Würde und Selbstbestimmung bei Patienten mit einer fortgeschrittenen (onkologischen) Erkrankung. Die Therapie wurde unter der Annahme entwickelt, dass eine schwere fortgeschrittene Erkrankung mit einem wesentlichen Würde- und Selbstverlust einhergeht und dies wiederum bei betroffenen Patienten den Wunsch nach einem vorzeitigen Sterben auslösen kann. Durch gezieltes Nachfragen und Aufschreiben der Erinnerungen, Wünsche und Anliegen des Patienten soll die Wertschätzung des eigenen Lebens erhöht, die Sinnfindung unterstützt und die Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte anerkannt oder verstärkt werden. Diese Narration wird durch einen Interviewleitfaden geleitet, das Gespräch wird aufgezeichnet, transkribiert, mit dem Patienten besprochen, editiert und schliesslich als schriftliches Dokument (Generativitätsdokument) dem Patienten übergeben. Dignity-Therapie kann die Lebensqualität und die Selbstbestimmung bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Erkrankung verbessern sowie zu einem gestärkten Gefühl der Würde beitragen. Zudem berichten auch Angehörige, die Dignity-Therapie als hilfreich empfunden zu haben. «Seelisches und körperliches Leid [können] einander verstärken ...; indem man das eine lindert, kann man auch das andere erträglicher machen.» (Cicely Saunders, 1918–2005).
Quellen: 1. Rodin G., Lo C., Mikulincer M., Donner A., Gagliese L., Zimmermann C.: Pathways to distress: the multiple
determinants of depression, hopelessness, and the desire for hastened death in metastatic cancer patients. Soc Sci Med, 2009; 68(3): 562–569. 2. Saunders C.: Care of the dying. Current Medical Abstracts for Practitioners 1963; 3: 77–82. 3. WHO, World Health Organization Definition of Palliative Care. 2012. https://www.who.int/cancer/ palliative/definition/en/ 4. Chochinov H.: Dignity Therapy. Final words for final days. Oxford University Press. New York 2012.
tigen Analgetika ist Morphin die Referenzsubstanz und steht in sehr vielen verschiedenen Applikationsformen zur Verfügung (vgl. Tabelle 1.2). Die orale Morphingabe ist die Therapie der Wahl. Im Falle einer Niereninsuffizienz sollte frühzeitig eine Reduktion der Opioiddosis oder eine Verlängerung des Dosisintervalls erfolgen, um Akkumulationen zu vermeiden. Oxycodon, Hydromorphon, Buprenorphin und Fentanyl sind weitere starke Opioide für die Behandlung von mittelstarken und starken Schmerzen. Oxycodon ist doppelt so stark wie Morphin und ist auch als Retardpräparat zusammen mit Naloxon erhältlich um die Gefahr einer opiatbedingten Obstipation zu verringern. Fentanyl und Buprenorphin sind beide sowohl in retardierter Form als transdermale Pflaster als auch in kurz wirksamer Form als sublinguale beziehungsweis bukkale Tablette erhältlich. Bei beiden Präparaten bleibt zu berücksichtigen, dass durch die transdermale Aufnahme eine sehr verzögerte Resorption und Elimination erfolgt. Fentanyl und Buprenorphin werden oft auch bei eingeschränkter Nierenfunktion eingesetzt. Hydromorphon, das etwa sieben Mal potenter ist als Morphin, kann im klinischen Alltag sowohl oral als auch intravenös bei starken Schmerzen und Niereninsuffizienz ein Opioid der Wahl sein. Es hat keine aktiven Metabolite, wird kaum renal ausgeschieden und eignet sich daher insbesondere für multimorbide und renal eingeschränkte Patienten. Methadon stellt eine Besonderheit unter den Opioiden dar, da es ein Opioidrezeptoragonist, NMDA-Rezeptorkanalblocker und präsynaptischer Serotonin-Wiederaufnahmehemmer ist. Da aufgrund einer sehr langen Halbwertszeit Kumulationsgefahr besteht, wird es von Spezialisten bei unzureichender Schmerzreduktion insbesondere bei neuropathischer Schmerzkomponente eingesetzt. Levo-Methadon, das linksdrehende Enantiomer von Methadon hat den Vorteil, dass es weniger Interaktionen und QT-Veränderungen macht als Methadon selbst. Alle Opioide sollten mit einer entsprechenden Reservemedikation von 1/10 bis 1/6 der Gesamttagesdosis verordnet werden. Eine Dosissteigerung sollte bei Bedarf entsprechend der Reservemedikation etwa jeden zweiten Tag erfolgen. Bei Indikation zur Opiatrotation (z.B. bei Unverträglichkeit, progredienter Niereninsuffizienz oder Wechsel der Applikationsform) empfiehlt sich eine initiale Umrechnung auf 50% der Äquivalenzdosis plus Reservemedikation (5, 3). Antidepressiva finden in der Tumorschmerztherapie vor allem bei neuropathischen Schmerzen mit brennendem Schmerzcharakter Anwendung. Im Falle von trizyklischen Antidepressiva und selektiven Serotonin-Re-Uptake-Inhibitoren (SSRI) kann ein koanalgetischer Effekt binnen weniger Tage im Vergleich zur
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Tabelle 1.1:
Nicht opiodhaltige Analgetika
Wirkstoff Applikationsformen Wirkung
Paracetamol oral, rektal, i.v.2
Analgetisch, antipyretisch
Metamizol oral, rektal, i.v.
Ibuprofen oral, rektal Diclofenac oral, rektal, i.v., i.m.2
1 Nebenwirkung/unerwünschte Wirkung 2 intravenös (i.v.), intramuskulär (i.m.)
Analgetisch, antipyretisch, spasmolytisch Analgetisch, antipyretisch, antiphlogistisch Analgetisch, antipyretisch, antiphlogistisch
Wichtigste NW/UEW1 Hepato- und nephrotoxisch
Leukopenie, Agranulozytose, nephrotoxisch Gastrointestinal, nephrotoxisch
Kommentar Keine gastrotintestinalen Nebenwirkungen Wichtiges Nichtopioid-Analgetikum in der Tumorschmerztherapie Bei Dauertherapie: Magenschutz
Gastrointestinal, nephrotoxisch Bei Dauertherapie: Magenschutz
Tabelle 1.2:
Opiodhaltige Analgetika
Wirkstoff Morphin
Oxycodon
Hydromorphon Buprenorphin Fentanyl Levo-Methadon
Analgetische Potenz 1
2
7,5 60–70 70–100 1–10
Applikationsformen oral rektal i.v.2 s.c.2 i.m.2 oral i.v.
oral i.v. s.c. s.l.2 td2 (i.m./i.v.) oral td (i.v.) oral (i.v.)
Wichtigste NW/UEW1
Sedation Obstipation Nausea Cave bei Niereninsuffizienz Sedation Obstipation Nausea Cave bei Niereninsuffizienz Sedation Obstipation Nausea Sedation Obstipation Nausea und Vomitus Sedation Obstipation Nausea Cave bei Niereninsuffizienz Sedation Obstipation Nausea
Kommentar
Gefahr der Kumulation bei Niereninsuffizienz Verschiedene orale Applikationsformen: nicht retardiert, retardiert, Tropfen, Suspension, Granulat, Tabletten
In Kombination mit Naloxon weniger opioidinduzierte Obstipation
Besser geeignet bei Niereninsuffizienz, da geringere Kumulation und weniger toxische Metabolite
Bei transdermaler Applikation langsames Abfluten (> 48 h) Voraussetzung: subkutanes Fettgewebe zur Resorption
Bei transdermaler Applikation langsames Anfluten (12–24 h) und Abfluten (bis 16 h) Voraussetzung: subkutanes Fettgewebe zur Resorption Bei Therapiebeginn: Kumulationsgefahr → Auftitrieren
1 Nebenwirkung/unerwünschte Wirkung 2 intravenös (i.v.), subkutan (s.c.), sublingual (s.l.), transdermal (td), intramuskulär (i.m.)
Tabelle 1.3:
Co-Analgetika
Wirkstoffgruppe und Wirkstoff Trizyklisches Antidepressivum: Amitriptylin
Indikation Neuropathische Schmerzen
SSRI Antidepressivum: Sertralin Antiepileptika: Pregabalin
Neuropathische Schmerzen Neuropathische Schmerzen
1 Nebenwirkung/unerwünschte Wirkung
Wichtigste NW/UEW1 Anticholinerge NW: Arrhythmien, Mundtrockenheit etc. Gastrointestinale NW
Müdigkeit, Schwindel
Kommentar Besonders bei Dauerschmerzen von brennendem Charakter
Besonders bei Dauerschmerzen von brennendem Charakter Zusätzlich anxiolytisch
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antidepressiven Wirkung erwartet werden (6). Sie können zusätzlich die Schmerzverarbeitung verbessern. Antikonvulsiva wie Pregabalin oder Gabapentin bieten sich zur Behandlung von einschiessenden, neuropathischen Schmerzen an. Eine Therapie sollte aufgrund der vor allem initial häufig auftretenden Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel einschleichend mit einer wöchentlichen Dosissteigerung erfolgen (vgl. Tabelle 1.3). Unter Opiattherapie ist ergänzend die (meist fixe) Gabe eines Laxans und gegebenenfalls vorübergehend die begleitende Gabe eines Antiemetikums nötig (vgl. Abschnitt «Gastrointestinale Symptome»). Zur Behandlung der Nausea reicht meist eine Überlappung während der ersten 10 Tage aus, während bezüglich der opioidinduzierten Obstipation keine Toleranzentwicklung besteht. Die regelmässige Evaluation der Obstipation ist daher wichtig.
Weitere Behandlungsansätze Zusätzlich zur pharmakologischen Therapie sind auch psychosoziale und spirituelle Behandlungsansätze relevant. Das Konzept von Total Pain beinhaltet eine Beeinflussung psychischer, sozialer und spiritueller Faktoren neben dem pathophysiologischen Geschehen (7) und wird im separaten Absatz detailliert vorgestellt (vgl. Kasten «Total Pain»)
Dyspnoe
Etwa 50% der Patienten mit einer schweren Tumorerkrankung leiden an Dyspnoe. Der Anteil steigt sowohl bei Patienten mit primären Lungentumoren respektive Lungenmetastasen als auch gegen Lebensende an. Atemnot kann sowohl für den Patienten als auch die Angehörigen eine hohe Belastung darstellen und Angst verstärken. Eine einheitliche Klassifikation zur Atemnot hat sich bisher nicht durchgesetzt. In der Praxis wird vor allem die einfache Einteilung zwischen belastungsabhängiger und belastungsunabhängiger Dyspnoe angewandt. Dazu gehört ebenfalls die Unterscheidung der Symptomatiken ununterbrochener Atemnot und der Atemnotattacken, wobei immer zu beachten ist, dass Atemnot subjektiv anders ausgeprägt wahrgenommen werden kann als von aussen beobachtet. In stationären Einrichtungen wird häufig die Borg-CR10-Skala verwendet. Wichtig ist es, der subjektiven Empfindung von Atemnot durch den Patienten Rechnung zu tragen.
Management Neben der Anamnese über den zeitlichen Verlauf, Auslöser sowie etwaige Begleitsymptome sind die körperliche Untersuchung mit Erfassung von Hautkolorit, Atemmuster sowie die durch Perkussion und Auskultation erhobenen Befunde essenziell – in Hinblick auf Entscheidungen bezüglich Dringlichkeit und
Art der weiteren Abklärung (z.B. Sonografie, konventionelles Röntgen, Computertomografie mit oder ohne Kontrastmittel) und damit Einleitung einer spezifischen Therapie. Neben thorakalen Ursachen sollte differenzialdiagnostisch eine intraabdominelle Ätiologie mit Druckerhöhung (z.B. Aszites, Raumforderung) ausgeschlossen werden. Ferner ist an eine Anämie, an psychosoziale Ursachen und an eine Kachexie mit muskulärer Dekompensation zu denken. Therapeutisch sollten primär allgemeine Massnahmen wie Ruhe, Fensteröffnen, Aufklärung über das Symptom und gegebenenfalls Atemübungen eingeleitet werden. Zudem können vielfach Lagerung (z.B. Oberkörper hoch lagern oder halb sitzende Lagerung) und die psychische Entlastung (z.B. Entspannungstechniken) Linderung bringen. Die Behandlung spezifischer Ursachen (z.B. Pleuraoder Aszitespunktion im Falle eines entlastungswürdigen Ergusses) ist nach Möglichkeit anzustreben. Die Gabe von Sauerstoff via Maske oder Nasenbrille kann in Abhängigkeit der Ätiologie der Dyspnoe hilfreich (z.B. bei COPD) sein. In manchen Fällen sind diese Massnahmen aber wenig effektiv, beispielsweise bei Nebenwirkungen wie quälende Mund- und Nasentrockenheit im Falle einer längerfristigen Sauerstoffgabe (8). In der medikamentösen Behandlung der Dyspnoe bei palliativen Patienten stellen Opiate/Opioide die wichtigste Substanzgruppe der symptomatischen Therapie dar (9). Im Falle persistierender Dyspnoe trotz sämtlicher Massnahmen sollte eine Opiatrotation oder bei entsprechender Angstkomponente eine ergänzende Therapie mit einem Benzodiazepin erwogen werden (siehe Tabelle 2), da sich Atemnot und Angst gegenseitig verstärken können.
Gastrointestinale Symptome (Obstipation und Nausea)
Gastrointestinale Symptome treten bei nahezu allen Patienten mit einer fortgeschrittenen Neoplasie auf. Die Ursache kann sowohl in der Grunderkrankung mit direkter oder indirekter Obstruktion als auch durch lang- oder kurzfristige Nebenwirkungen einer Therapie (z.B. medikamentös durch Opioide oder durch Radiotherapie), metabolisch oder zentral bedingt sein, aber auch als Ausdruck psychischer Belastung auftreten. Der Vorbeugung der Obstipation kommt eine grosse Bedeutung zu.
Management Hilfreich bei Erfassung und Klassifikation von Symptomen von Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen kann das einfach anzuwendende EdmontonSymptom-Assessment-System (ESAS) sein. Dieses erfasst auf einer Skala von 1 bis 10 übersichtlich die
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Tabelle 2:
Medikamente zur symptomatischen Therapie der Dyspnoe
Wirkstoff Morphin
Hydromorphon
Fentanyl
Applikationsformen oral rektal i.v.2 s.c.2 oral rektal i.v. s.c. oral td2
Wichtigste NW/UEW1 Sedation, Obstipation, Nausea Cave bei Niereninsuffizienz
Sedation, Obstipation, Nausea
Sedation, Obstipation, Nausea und Vomitus
Buprenorphin
s.l.2 td
Sedation, Obstipation, Nausea und Vomitus
Lorazepam Midazolam
oral s.l.
oral rektal, nasal, i.v., s.c.
Sedation, Atemdepression bei zu schneller und zu hoher Dosierung Sedation, Atemdepression bei zu schneller und zu hoher Dosierung
1 Nebenwirkung/unerwünschte Wirkung 2 intravenös (i.v.), subkutan (s.c.), sublingual (s.l.), transdermal (td)
Kommentar Gefahr der Kumulation bei Niereninsuffizienz Verschiedene orale Applikationsformen: nicht retardiert, retardiert, Tropfen, Suspension, Granulat, Tabletten Besser geeignet bei Niereninsuffizienz, da weniger Kumulation.
Geeignet bei Niereninsuffizienz aufgrund weniger aktiver Metabolite, bei transdermaler Applikation langsames Anfluten (12–24 h) und Abfluten (bis 16 h) Voraussetzung: subkutanes Fettgewebe zur Resorption Geeignet bei Niereninsuffizienz aufgrund weniger aktiver Metabolite, bei transdermaler Applikation langsames Abfluten (> 48 h) Voraussetzung: subkutanes Fettgewebe zur Resorption Einschleichend dosieren und paradoxe Wirkung bei Patienten über 65 Jahre beachten
Kumulativ atemdepressive Wirkung und Dosisanpassung bei Leber- und Niereninsuffizienz beachten
wichtigsten Symptome inklusive gastrointestinaler Beschwerden mit dem Ziel der Validation der Lebensqualität (8, 9). Neben einer ausführlichen Anamnese der Symptome sind eine Medikamentenanamnese inklusive Evaluation der Neben- und Wechselwirkungen sowie eine körperliche Untersuchung und allenfalls weitere Diagnostik wichtig. Therapeutisch erfolgt sofern möglich die Behandlung der Ursache (z.B. eine Anpassung der Medikation, die Therapie eines Aszites, einer Obstipation oder eines Subileus). Darüber hinaus sollte auch die Evaluation metabolischer oder zentraler Ursachen erwogen werden. Grundsätzlich wird als erste Massnahme im Aufbau einer laxativen Therapie die Gabe eines oralen Laxans (z.B. osmotisch wirksames Laxans) plus gegebenenfalls ein Stimulans empfohlen. Da Patienten in der letzten Lebensphase häufig knapp hydriert sind, werden Quellstoffe in der Palliative Care nicht empfohlen. In einem zweiten Schritt kann dies bei Persistenz der Obstipation durch eine rektale Applikation von Laxanzien ergänzt werden. Bezüglich Nausea können allgemeine Massnahmen wie Reduktion unangenehmer Gerüche, die Schaffung einer ruhigen und sicheren Umgebung, die Optimierung der Ernährung (kleine Portionen), der Flüssigkeitszufuhr und die Evaluation und Behandlung
möglicher psychosozialer Ursachen die Symptomlast ergänzend zur Pharmakotherapie relevant reduzieren. Bei der medikamentösen Therapie der Nausea erfolgt die Wahl des Präparats aufgrund der wahrscheinlichsten Ursache (z.B. medikamentöse, metabolische, durch intestinale Stase oder Obstruktion bedingte oder zentrale Ursache) Ondansetron sollte nur zurückhaltend eingesetzt werden, da es für chemotherapiebedingte Übelkeit gedacht ist und eine Verstopfung verstärken kann. Die Einnahme/Verabreichung von Antiemetika sollte nach einem festen zeitlichen Schema erfolgen. In emotional überlagerten Fällen kann eventuell die Einnahme von Benzodiazepinen, in refraktären Fällen die Kombination mehrerer Antiemetika oder ein Off-Label-Use nötig werden (s. auch «Bigorio Empfehlungen» www.palliative.ch).
Schlaf und Angst
Schlafstörungen und Ängste können bei Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen eigenständig auftreten, jedoch auch Begleiterscheinung anderer Symptome oder Erkrankungen (Schmerzen, Nausea oder Dyspnoe) darstellen und diese zum Teil überlagern. Hinsichtlich der Schlafstörungen kann zwischen Einschlaf- und Durchschlafstörungen oder mangelnder Schlafqualität unterschieden werden. Angst kann adaptiv oder maladaptiv sein und im Verlauf einer
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Tabelle 3:
Medikamente zur Therapie der Nausea
Wirkstoff Metoclopramid
Domperidon
Applikationsformen oral i.v.2 s.c.2
Hauptwirkungsort Darm und Chemorezeptortriggerzone
oral Darm
Wirkmechanismus Peripher: Peristaltik anregend durch cholinerge Wirkung Zentral: antiemetisch durch Blockade dopaminerger Rezeptoren Periphere und zentrale antidopaminerge Wirkung
Ondansetron
oral i.v.
Chemorezeptor- 5-HT3-Rezeptor-Antagonist mit
triggerzone
zentraler und peripherer Wirkung
Haloperidol
oral
Chemorezeptor- Peripher antidopaminerg triggerzone
1 Nebenwirkung/unerwünschte Wirkung 2 intravenös (i.v.), subkutan (s.c.)
NW/UEW1
Kommentar
Müdigkeit, Diarrhö, trockener Mund, Kopfschmerzen, Schwindel vgl. Metoclopramid
Kopfschmerzen, Wärme-/Hitzegefühl, Obstipation Depression, psychotische Störung, Agitation, Kopfschmerzen, extrapyramidale Störungen
NW vor allem in Abhängigkeit von Dosis und Behandlungsdauer Selten: extrapyramidale Symptome (Schlundkrampf; Antidot: Biperiden) vgl. Metoclopramid → keine Kombination der beiden Medikamente stärker prokinetisch wirksam. vor allem bei chemotherapieinduzierter Nausea, Kombination mit Metoclopramid oder Domperidon möglich Kombination mit Metoclopramid oder Domperiodon und Ondansetron möglich
Erkrankung insbesondere mit zunehmender Symptomlast rasch zunehmen. Ebenso kann Verleugnung oder Scham, die Angst zu äussern, die Symptomerfassung deutlich erschweren. Angst kann aber auch Ausdruck mangelnder Information oder Aufklärung über eine Erkrankung, deren Verlauf und deren Therapie sein. Neben einer genauen Medikamentenanamnese kann der Ausdruck des Patienten über Schlafstörung und Angst (z.B. distanziert, beklommen, gelöst etc.) Aufschluss geben. Das offene Ansprechen kann für den Patienten/die Patientin entlastend sein.
Management Allgemeine Massnahmen wie Schlafhygiene, feste Einschlaf- und Aufstehzeiten mit körperlicher und geistiger Aktivität tagsüber sind ebenso indiziert wie der probatorische Einsatz von Aromastoffen (Lavendel), Phytotherapie (Baldrian) oder Einreibungen mit Ölen. Eine psychologische respektive psychoonkologische Behandlung ist sowohl bei Angst als auch angstbedingten/angstgestützten Schlafstörungen eine wichtige Ergänzung. Medikamentös werden bei Schlafstörungen trotz ihres Abhängigkeitspotenzials, das individuell diskutiert werden muss, weiterhin häufig Benzodiazepine verordnet. Auch bei Angststörungen kann eine vorübergehende Gabe von Benzodiazepinen versucht werden. Dabei muss vor allem bei älteren Patienten (> 65 Jahre) eine mögliche paradoxe Reaktion auf Benzodiazepine beachtet werden. Oft werden aufgrund ihrer sedierenden und schlafanstossenden Wirkung daher auch Antidepressiva eingesetzt. Bei existenziellen Ängsten in Bezug auf das Lebensende kann Dignity-Therapie eine hilfreiche Unterstützung bei der Bewältigung darstellen (vgl. Kasten).
Fatigue
Das Gefühl ausgeprägter Erschöpfung, die disproportional zu erfolgter Anstrengung ist, findet sich häufig bei Patienten mit einer onkologischen Grunderkrankung und ist meist multifaktoriell bedingt. Eine internationale Klassifikation existiert bis jetzt nicht. Da Schlaf wichtigste Ressource für Erholung und damit Voraussetzung für eine Reduktion der Müdigkeit sein kann, sollten bei entsprechenden Anzeichen von Schlafstörungen zunächst diese entsprechend den oben genannten Massnahmen behandelt werden (siehe Abschnitt «Schlaf und Angst»). Gleiches gilt für eine mögliche kausale Mangelernährung sowie verminderte körperliche Aktivität. Darüber hinaus sollten anamnestisch und gegebenenfalls laborchemisch behandelbare Ursachen wie Anämie, hormonelle Störungen (z.B. Hypothyreose), Elektrolytstörungen, chronischer oder subklinischer Infekt und eine Hypoxämie ausgeschlossen werden.
Zusammenfassung
Um ein Symptom kontrollieren zu können, muss es zuerst erkannt werden: Leider äussern Patienten ihre Beschwerden nicht immer spontan, sodass diese in ihrer Bedeutung leicht unterschätzt werden können. Besonders «stille Symptome» wie Fatigue und Depression werden gehäuft übersehen. Begleitung und Beziehungsaufbau zu Patienten mit schwerer Krankheit mit oft fluktuierender Symptomatik sind ein sehr bedeutender Aspekt. Ein regelmässiges, umfassendes und im Idealfall standardisiertes Erfragen nach Beschwerden sowie die Evaluation bereits eingeleiteter Massnahmen des Symptommanagements sind grundlegend. Patienten in palliativer Situation, die trotz eingeleite-
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Im Fokus: Palliative Care
ter Symptomkontrolle der allgemeinen Palliative
Care nicht oder nicht hinreichend ansprechen, sollten
Betreuung durch die spezialisierte Palliative Care in
einem ambulanten oder wenn nötig stationären Set-
ting erhalten. Oft werden in der spezialisierten Pallia-
tive Care Medikamente auch off-label verwendet.
Durch einen multiprofessionellen, integrativen Ansatz
kann sowohl auf körperliche Beschwerden als auch
auf seelische (und ggf. auch spirituelle) Bedürfnisse
eingegangen werden – dies, wenn immer möglich
unter Einbezug der nächsten Angehörigen.
I
Merkpunkte
I Symptommanagement in der Palliative Care umfasst neben medikamentösen Therapien auch nicht medikamentöse und psychosoziale Aspekte.
I Opiate spielen sowohl für Schmerzen als auch Dyspnoe eine führende Rolle und sollen immer in ausreichender Dosierung und Frequenz mit zusätzlicher Reservemedikation abgegeben werden.
I Das Konzept Total Pain beinhaltet, dass Schmerzen neben dem pathophysiologischen Geschehen von psychischen, sozialen und spirituellen Faktoren beeinflusst sind.
I Eine medikamentöse Therapie sollte unter Berücksichtigung von Begleitsymptomen, Nebenwirkungen und Applikationsform gewählt und patientenzentriert verordnet werden.
Dr. med. Markus Schettle (Erstautor, Korrespondenzadresse) E-Mail: markus.schettle@usz.ch
Dr. phil. Annina Seiler
Kompetenzzentrum Palliative Care Universitätsspital Zürich 8091 Zürich
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Bonica JJ, Loeser JD, Chapman CR, Fordyce WE.: The management of pain. Philadelphia, London 1990. 2. Twycross R.: Pain relief in advanced cancer. Edinburgh, London 1994. 3. Hawker G, Mian S, Kendzerska T, French M.: Measures of adult pain. Arthritis Care & Research. November 2011: 240–252. 4. World Health Organization. WHO Guidelines for the Pharmacological and Radiotherapeutic Management of Cancer Pain in Adults and Adolescents. Geneva 2018. 5. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung, Kurzversion 2.0, 2019, AWMF-Registernummer: 128/001O. 6. Sindrup SH, Jensen TS.: Antidepressants in the treatment of neuropathic pain. Seattle 2001. 7. Saunders C.: The evolution of palliative care. J Royal Soc Medicine. Sep 2001: S. 430–432. 8. Bruera E, Kuehn N, Miller MJ, Selmser P, Maxmillan K.: The Edmonton Symptom Assessment System (ESAS): a simple method for the assessment of palliative care patients. J Palliat Care. 1991: 6–9. 9. Hui D, Bruera E.: The Edmonton Symptom Assessment System 25 Years Later: Past, Present and Future Developments. J Pain Symptom Management. March 2017: 630–643. 10. USZ, Institut für Anästhesie. Opimeter. [Online] http://www.anaesthesie.usz.ch/ fachwissen/schmerzzentrum/seiten/opimeter.aspx.
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