Transkript
Im Fokus: Malignome im Kindesalter
Psychoonkologische Betreuung bei Malignomen im Kindes- und Jugendalter
Pädiatrisch-psychologisches Vorgehen im onkologischen Therapiekonzept
Jährlich erkranken in der Schweiz knapp 300 Kinder und Jugendliche neu an Krebs. Neben der ärztlichonkologischen Behandlung gehört auch die psychoonkologische Betreuung zum Behandlungskonzept. Das erkrankte Kind sowie die ganze Familie werden während der Diagnosestellung, der Therapie und in manchen Fällen bis zum Tod des Kindes begleitet. Dieser Artikel gibt einen Einblick in die pädiatrische psychoonkologische Arbeit.
BARBARA GANTNER, RETO ERNI
SZO 2017; 5: 19–22.
Barbara Gantner Reto Erni
Eine onkologische Krankheit im Kindes- und Jugendalter bedeutet eine grosse körperliche, seelische und soziale Belastung über einen langen Zeitraum sowohl für das Kind als auch für das ganze Familiensystem. Die pädiatrische Psychoonkologie, ein integraler Bestandteil der onkologischen Behandlung, arbeitet familien- und entwicklungsorientiert und unterstützt das medizinische Personal in psychosozialen Anliegen.
Besonderheiten bei Krebs im Kindesalter
Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind zum Glück insgesamt selten, machen sie doch auf die Gesamtheit aller Krebserkrankungen bezogen lediglich etwa 1% aus. Für die Schweiz bedeutet dies, dass knapp 300 Kinder und Jugendliche pro Jahr neu an Krebs erkranken. Etwa zwei Drittel dieser Erkrankungen ereignen sich in den ersten 6 Lebensjahren; das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 5 Jahren. Jungen
ABSTRACT
Psycho-Oncological Care in Children and Adolescents with Cancer
Every year, around 300 children and adolescents in Switzerland are diagnosed with cancer. Besides the medical treatment, the psycho-oncolongical care constitutes an integral part of the treatment concept. The patient and his/her family are supported beginning from the first day of diagnosis as long as he/she gets therapy and follow up care as well as in some cases, there is the child’s death. The aim of this article is to give an insight into the pediatric psychooncological care.
Keywords: psycho-oncological care, pediatrics, psychology.
sind etwas häufiger betroffen als Mädchen. Die onkologischen Entitäten im Kindesalter unterscheiden sich wesentlich von den Krebserkrankungen im Erwachsenenalter: Im Kindesalter überwiegen Leukämien und Lymphome, Hirntumore und eine Reihe seltener Tumore aus unreifem embryonalem Gewebe, wie Neuroblastome, Nephroblastome, maligne Knochentumore, Weichteilsarkome und Keimzelltumore. Inzwischen werden 84% dieser Kinder geheilt. Vor rund 40 Jahren gelang dies bei nur etwa 60% der Erkrankten, vor 80 Jahren waren es nur Einzelfälle (1). Für die betroffene Familie bedeutet ein Kind mit einer Krebserkrankung eine tiefe Erschütterung des emotionalen und sozialen Gleichgewichts. Der Alltag sowie Wertvorstellungen und Ziele müssen neu definiert werden. Für das Kind ist eine Krebsdiagnose mit neuen, unbekannten und bedrohlichen Erfahrungen verbunden. Meist bedingt die Erkrankung auch Trennungen von den Eltern, welche als angstvoll erlebt werden (2). Ferner wird das Kind aus seinem Umfeld wie Kindergarten oder Schule gerissen. Kinder und Jugendliche können unterschiedlich auf eine Krebsdiagnose reagieren. Typische Reaktionsweisen sind Regression, Ängste, Stimmungsschwankungen (ausgelöst bzw. verstärkt durch Medikamente), Festhalten an Ritualen, massiver Rückzug oder aggressives Verhalten. Solange die Verhaltensweisen nicht über einen langen Zeitraum andauern und den Alltag des Kindes nicht zusätzlich beeinträchtigen, sind solche Reaktionsweisen normal. Sie sollten jedoch mit der Familie besprochen werden (3).
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2017
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Pädiatrische Psychoonkologie
In der pädiatrischen Psychoonkologie steht die Förderung der Ressourcen des Kindes und der Familie während aller Phasen der Krankheit und der Behandlung im Fokus. Ein stützendes Beziehungsangebot soll der Familie zur Verfügung stehen. Die Vermittlung von Informationen, die Förderung der Krankheitsbewältigung, die Behandlung und Begleitung
In der pädiatrischen Psychoonkologie steht die Förderung der Ressourcen
des Kindes und der Familie während aller Phasen der Krankheit
und der Behandlung im Fokus.
von Krisensituationen und der Zugang zum Alltag (Kindergarten oder Schule) sind Ziele der psychoonkologischen Arbeit (2). Die Arbeit ist stark interdisziplinär ausgerichtet und findet in enger Wechselwirkung mit der onkologischen Behandlung statt. Der Austausch mit den Ärzten, der Pflege, der Spitalschule, der Kinderspitex und dem Sozialdienst ist für die therapeutische Begleitung sehr wichtig.
Psychoonkologische Arbeit
Je nach Phase der Behandlung und Alter des Kindes oder des Jugendlichen unterscheiden sich mögliche Belastungen und damit verbunden auch die psychoonkologische Arbeit.
Aufgaben während der Diagnosestellung Die Eltern als die engsten Bezugspersonen des erkrankten Kindes sollen so begleitet werden, dass sie ihr Kind unterstützen, ihm Halt und Sicherheit geben können (4). Sie selbst nehmen während des Diagnoseverdachts, der -stellung und der ganzen Behandlungsdauer eine Doppelrolle ein. Einerseits sind die Eltern haltgebend, da sie das Kind in jeder Situation unterstützen, ihm Hoffnung und Nähe geben müssen. Anderseits sind sie selbst betroffen und haltsuchend (5). Die erste Aufgabe nach Diagnosestellung ist es, der Familie und vor allem den Eltern Orientierungshilfe zu geben und sie dadurch zu stabilisieren. Gemeinsam werden organisatorische Details geklärt. Zum Beispiel wird gefragt, wer zu den anderen Kindern schaut (organisatorisch) oder ob der Arbeitgeber über ein Fehlen eines Elternteils informiert ist (informativ). Schock, Trauer und heftige Gefühle werden als adäquate Reaktionen auf eine aussergewöhnliche, krisenhafte Situation erklärt, und den Tränen und der Wut wird emotional Raum gegeben (2). Nach dem Aufklärungsgespräch mit den Onkologen wird mit den Eltern besprochen, wie man das Kind und die Geschwister über die Krankheit und die Therapie informieren kann (2). Eine offene und altersadäquate Kommunikation wird empfohlen (6). Es gibt viele emp-
fehlenswerte Kinderbücher zum Thema Krebs und zu dessen Behandlung. Ein viel genutztes und beliebtes Buch in der Pädiatrie ist der «Chemo-Kaspar» (7) für die Chemotherapie und der «Radio-Robby» (8) für die Radiotherapie. Weiter wird besprochen, wie die Arbeitgeber der Eltern, der Kindergarten oder die Schule informiert werden sollen. In der Arbeit mit dem Kind werden zuerst die Familie und das Kind kennengelernt. Das Lieblingstier und die Namen der Haustiere und Stofftiere sind dabei genauso wichtig wie das Alter des Kindes. Durch gemeinsames Zeichnen oder Spielen wird eine Beziehung zum Kind aufgebaut. In den Gesprächen mit dem Kind, dem Jugendlichen und den Eltern werden die Nebenwirkungen der Therapie bildlich veranschaulicht. Der Umgang mit dem Haarverlust, das Üben der Tabletteneinnahme oder die Stimmungsschwankungen aufgrund von Medikamenten werden besprochen. Dabei werden Strategien gesucht, um mit Nebenwirkungen besser umgehen zu können. Zum Beispiel binden einige Mädchen ihre langen Haare zu einem Zopf, schneiden diesen vor dem medikamentenbedingten Haarverlust ab und bewahren ihn in einer schönen Schatzkiste auf oder binden sich damit ein Armband. Bei den Stimmungsschwankungen wird auf die Aktivitäten oder Dinge fokussiert, die gute Laune machen (Ausmalen, Geschichten hören, Massage).
Interventionen bei schmerzhaften Eingriffen Für die medizinischen Interventionen werden supportive Strategien erarbeitet (2). Dabei wird berücksichtigt, ob ein Kind eher ein Represser (Vermeider von bedrohlichen Reizen) oder eher ein Sensitizer (braucht die Aufmerksamkeit auf den bedrohlichen Reiz) ist (9). Mit einem Sensitizer werden keine Ablenkungsstrategien erarbeitet, sondern eher Ent-
Bei den supportiven Strategien wird berücksichtigt, ob ein Kind eher
ein «Represser» (Vermeider) oder eher ein «Sensitizer» (braucht
die Aufmerksamkeit auf den bedrohlichen Reiz) ist.
spannungsübungen oder hypnotherapeutische Interventionen angewendet. Den Kindern wird ein Gefühl der Kontrolle vermittelt, indem sie entscheiden können, wie der Port angestochen wird: Für ein Kind muss beim Zählen «bei drei» der Port schon «drin sein»; andere Kinder wollen gar nicht wissen, wann genau der Port angestochen wird. Kleinere Kinder und Represser werden mit Handpuppen oder dem Krabbelsack abgelenkt. Im Krabbelsack befinden sich unterschiedlichste Gegenstände, die das Kind ertasten und erraten kann.
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Ressourcenförderung Während der Therapie sollen auch die individuellen und familiären Ressourcen gestärkt werden. So muss die Krankheit in den Gesprächen nicht immer thematisiert werden. Die Erlebnisse vom Wochenende oder der Streit mit der Schwester sind genauso wichtig. Alltägliche Themen zu besprechen, hilft, die Adaptation an die Krankheits- und therapiebeding-
Zu den häufigen psychischen Störungen im Rahmen der
Erkrankung zählen Anpassungsstörung, Depression, Angstund Belastungsstörungen.
ten Veränderungen des Familienlebens zu fördern. Eine gewisse Normalität im Alltag des Kindes soll gestärkt werden. Wenn möglich werden die Kindergartengruppe oder die Schulklasse zu einem Besuch ins Kinderspital eingeladen. An diesem Nachmittag werden die Station und gewisse Interventionen gezeigt, der Port und die Therapie erklärt und wichtige Hinweise für den Schulbesuch des Kindes besprochen (z.B. die Müdigkeit, wiederholte Fehlzeiten, ansteckende Krankheiten in der Schule). Wenn es der Gesundheitszustand des Kindes zulässt, wird ein Schulbesuch empfohlen, um den Kontakt zu Freunden und Gleichaltrigen aufrechtzuerhalten (2).
Aufgaben während der Radiotherapie Bei der Radiotherapie muss sich die Familie weiteren und neuen Belastungen stellen. Meist sind das Behandlungsteam und die Umgebung neu für die Familie. Die Geräte sind unbekannt, und auch die Nebenwirkungen belasten die Familie zusätzlich. Die Kinder müssen ruhig liegen können, die Eltern können bei der Therapie nicht unmittelbar beim Kind sein, und sie müssen sich mit möglichen Spätfolgen befassen. In solchen Situationen wird versucht, die Familie so gut wie möglich vorzubereiten. Mit dem Kind kann das ruhige Liegen spielerisch geübt werden, und auch hier werden supportive Strategien erarbeitet (2).
Förderung der psychischen Gesundheit Falls durch die Erkrankung Symptome einer psychischen Störung auftreten, werden diese ebenfalls aufgefangen und mit der Familie thematisiert. Zu den häufigen psychischen Störungen im Rahmen der Erkrankung zählen Anpassungsstörung, Depression, Angst- und Belastungsstörungen (10). Gemeinsam mit dem Pflegepersonal wird jedoch versucht, diesen Störungen vorzubeugen. Bei angstmachenden Situationen wird die Strategie verfolgt, dem Kind oder dem Jugendlichen die Kontrolle zu geben, die Eltern mit einzubeziehen und die Kinder positiv zu stärken. Dabei sind die «Mutperlen» (www.mutperlen.ch), welche die Kinder für jede Intervention bekommen, sehr beliebt.
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Aufgaben am Ende der Therapie, bei Rezidiv und in der Palliativsituation Auch das Ende einer Therapie fordert die Familie erneut stark. Die Sicherheit durch die Therapie geht verloren, und die Familie muss wieder eine grössere Selbstverantwortung übernehmen. Zudem wird die Angst vor einem Rezidiv grösser, und meist ist die Rückkehr in den Alltag mit hohen Erwartungen verbunden. Das Kind muss sich schulisch und sozial wieder eingliedern. Die Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen werden in Gesprächen vor Abschluss der Therapie besprochen. In der Wiedereingliederung wird die Familie unterstützt. Je nach Situation wird mithilfe des Sozialdienstes ein Rehabilitationsaufenthalt für die ganze Familie geplant (2). Ein Rezidiv bedeutet für die Familie, dass sie die belastende Prozedur einer Behandlung wieder auf sich nehmen muss. Es ist eine erneute existenzielle Bedrohung, die Familienmitglieder müssen sich auf eine erneute belastende kurative Therapie einstellen oder sich mit Palliation, Sterben und Tod auseinandersetzen. Neben denselben Aufgaben wie bei einer Erstdiagnose muss die Familie beim Wiederaufbau von Vertrauen und Motivation unterstützt werden. Bei einer palliativen Situation werden das Kind und die Familie begleitet und mit ihnen das Hadern und die Fragen, die nicht beantwortet werden können, ausgehalten. Auf die Kommunikation innerhalb und ausserhalb der Familie wird grossen Wert gelegt. Nach dem Tod eines Kindes werden den Angehörigen Anschlussgespräche angeboten (2).
Einbezug der Geschwister Auch die Begleitung der Geschwister gehört zur Arbeit der pädiatrischen Psychoonkologie. Eine Krebserkrankung eines Kindes bedeutet für die gesunden Geschwister eine langfristige Veränderung der familiären Situation. Oft werden sie durch andere Bezugspersonen (Grosseltern, Paten) betreut und sind eifersüchtig auf die vielen Geschenke und die Zuwendung, welche das erkrankte Kind bekommt. Eine offene und ehrliche Kommunikation mit den Ge-
Merkpunkte
L Eine onkologische Krankheit im Kindesalter bedeutet eine grosse körperli-
che, seelische und soziale Belastung für das Kind sowie für das ganze Famili-
ensystem.
L Ziele der psychoonkologischen Arbeit: Vermittlung von Informationen,
Förderung der Krankheitsbewältigung, Behandlung und Begleitung von Kri-
sensituationen und erneuter Zugang zum Alltag (Kindergarten oder Schule).
L Für die medizinischen Interventionen werden gemeinsam mit dem Kind
oder dem Jugendlichen supportive Strategien erarbeitet.
L Ein Rezidiv ist eine erneute existenzielle Bedrohung; die Familie muss sich
auf eine erneute belastende kurative Therapie einstellen oder sich mit Pallia-
tion, Sterben und Tod auseinandersetzen.
schwistern wird angestrebt. Für die Geschwister wer-
den zweimal im Jahr Geschwisternachmittage veran-
staltet, welche neben psychoedukativen auch spie-
lerische Teile haben. Die Geschwister haben die
Möglichkeit, andere betroffene Geschwisterkinder
zu treffen (11). Der Fokus wird an diesen Nachmitta-
gen auf die gesunden Geschwister gelegt, und das
Programm wird dem Alter der Kinder entsprechend
angepasst.
L
Barbara Gantner, MSc. (Erstautorin; Korrespondenzadresse) eidg. anerkannte Psychotherapeutin
Konsiliar- und Liaisonpsychiatrischer Dienst Luzerner Psychiatrie Kinderspital Luzern E-Mail: barbara.gantner@lups.ch
Reto Erni, lic. phil. Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Konsiliar- und Liaisonpsychiatrischer Dienst Luzerner Psychiatrie Kinderspital Luzern E-Mail: reto.erni@lups.ch
Interessenkonflikte: keine.
Quellen:
1 Pfeiffer V et al.: Jahresbericht Schweizer Kinderkrebsregister 2015/2016.
2 Di Gallo A: Kinderpsychoonkologie. In: P. Imbach, T. Kühne, Arceci R.: Kompendium Kinderonkologie. Seite: 301–324. Spinger Verlag, Heidelberg 2014.
3 Topf R: Psychosoziale Aspekte des krebskranken Kindes und seiner Familie. Psychologie in Österreich, 89–100.
4 Stucki E: Psychologische Begleitung in der pädiatrischen Onkologie. Bern 2010; Newsletter Schweizerische Gesellschaft für Psycho-Onkologie.
5 Wintsch H: Psychoonkologie als Prävention von Traumafolgestörungen bei krebserkrankten Kindern und ihren Familien. Bern 2010; Newsletter Schweizerische Gesellschaft für Psycho-Onkologie.
6 Huse-Kleinstoll G: Psychoonkologische Arbeit mit Familien. In: Schulz-Kindermann F.: Psychoonkologie. Seite: 118–199. Beltz Verlag, Basel 2013.
7 Kinderkrebsstiftung Deutschland: «Chemo-Kaspar und seine Jagd auf die bösen Krebszellen». Broschüre Deutsche Kinderkrebsstiftung. Bonn 2010.
8 Kinderkrebsstiftung Deutschland: «Radio-Robby und sein Kampf gegen die bösen Krebszellen». Broschüre Deutsche Kinderskrebsstiftung. Bonn 2011.
9 Krohne H: Repression – Sensitation. Temperaments- und Persönlichkeitsunterschiede. In: Enzyklopädie der Psychologie 1996: 153–184.
10 Schulz-Kindermann F: Psychoonkologie. Springer Verlag. Basel 2013.
11 Westhoff K: Perspektiven der pädiatrischen Psychoonkologie. Schweizerische Gesellschaft für Psycho-Onkologie. Bern 2013.
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