Transkript
Im Fokus: Malignome im Kindesalter
Protonenbestrahlung bei Kindermalignomen
Indikationen und Trends
Die Strahlentherapie ist eine wichtige Behandlungsmodalität bei vielen pädiatrischen onkologischen Erkrankungen. Aufgrund der günstigen physikalischen Eigenschaften von Protonen für die medizinisch therapeutische Anwendung wird empfohlen, Bestrahlungen bei Kindern mittels Protonentherapie durchzuführen. Dieser Artikel zeigt die Vorteile der Anwendung von Protonen im Allgemeinen und am Paul-Scherrer-Institut im Speziellen bei pädiatrischen Patienten auf.
Barbara Bachtiary Marc Walser Alessia Pica Damien C. Weber
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BARBARA BACHTIARY1, MARC WALSER1, ALESSIA PICA1,3, DAMIEN C. WEBER1, 2, 3
SZO 2017; 5: 16–18.
Die Strahlentherapie ist ein integraler Bestandteil in der Behandlung kindlicher Tumoren und hat zur Verbesserung des Langzeitüberlebens signifikant beigetragen. Das verbesserte Langzeitüberleben bedeutet aber auch, dass strahlenassoziierte Nebenwirkungen, welche oft erst viele Jahre nach Therapieende auftreten, die Lebensqualität der Patienten zunehmend beeinträchtigen können. Strategien, welche diese unerwünschten Nebenwirkungen abschwächen, sind deshalb dringend notwendig. Eine solche Strategie ist die Bestrahlung mit Protonen, welche aufgrund besonderer physikalischer Strahleneigenschaften eine reduzierte Strahlenbelastung des gesunden Gewebes bewirkt und so zu weniger strahlentherapieassoziierten Langzeitnebenwirkungen führt. Der kindliche Organismus ist gegenüber ionisierender Strahlung besonders vulnerabel, wobei die Empfindlichkeit des Gewebes altersabhängig ist. Langzeiteffekte der Radiotherapie sind unter anderem strahleninduzierte Zweitkarzinome, endokrine Störungen, Hypoplasie des Weichteil- und des Knochengewebes, neurokognitive Beeinträchtigungen, sensorischer Hörverlust, Gefässveränderungen und kardiologische, renale, pulmonale und gonadale Dysfunktionen (1).
Proton therapy in pediatric tumor patients
Proton therapy has the ability to reduce unnecessary dose to normal tissue in pediatric tumor patients that requires radiation therapy. We herewith like to discuss the advantages and indications of this treatment modality in children in detail.
Keywords: proton therapy, Paul Scherrer Institute, pediatric tumors, children.
Der besondere Vorteil der Protonentherapie gegenüber der konventionellen Radiotherapie mit Photonen ist, dass der Protonenstrahl am Ende einer definierten Reichweite stoppt und der überwiegende Teil der Dosis im Tumorgewebe abgegeben wird. Die Dosisbelastung im gesunden Gewebe auf dem Weg zum Zielgebiet (Eintrittsdosis) ist gering und hinter dem Zielgebiet (Austrittsdosis) null (Abbildung). Die Gesamtdosis im gesunden Gewebe und folglich auch das Risiko von Spätfolgen durch die Bestrahlung können somit reduziert werden.
Kognitive Funktionen
Das kindliche Hirngewebe ist äusserst empfindlich gegenüber ionisierender Strahlung. Diese Vulnerabilität ist dosis- und volumenabhängig, aber auch das Alter des Kindes spielt eine Rolle. Junge und sehr junge Kinder leiden besonders: Studien zeigten, dass die Bestrahlung von gesundem Hirngewebe bei Kindern unter 5 Jahren zu einer deutlichen Verschlechterung des IQ führt, während sie bei älteren Kindern (über 12 Jahre) keinen signifikanten Einfluss hat (2). Vergleiche zwischen Protonen- und Photonenbestrahlung bei der Radiotherapie von Hirntumoren zeigten, dass mit Protonen die Dosisbelastung im gesunden Hirngewebe verringert wird und in der Folge die neurokognitiven Funktionen deutlich besser erhalten werden können (3, 4).
Endokrine Funktionen
Endokrine Defizite nach einer Strahlentherapie betreffen Wachstumshormone, Schilddrüsenhormone und Sexualhormone; etwa 30% der Kinder benötigen
1 Paul-Scherrer-Institut, 2 Universität Zürich, Zürich, 3 Universität Bern, Bern
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nach Bestrahlung der kraniospinalen Achse eine Hormonersatztherapie. Im Vergleich zur Photonentherapie gelangt bei der Protonentherapie deutlich weniger Dosis an Hypothalamus, Hypophyse und Schilddrüse. Dies führt zu einer relativen Risikoreduktion von 75% für ein Wachstumshormondefizit und von 85% für eine Hypothyreose (5).
Hörfunktion
Sensorische Hörverschlechterung bis hin zum kompletten Hörverlust ist eine spät auftretende Komplikation nach Strahlentherapie und tritt in bis zu 36% aller pädiatrischer langzeitüberlebender Hirnpatienten auf (6). Das Risiko wird durch die applizierte Dosis an der Cochlea bestimmt. Auch hier kann mithilfe der Protonentherapie die Dosis reduziert und in der Folge das Auftreten von Hörverlust deutlich vermindert werden (7).
Zweittumore
Zweittumore waren die häufigste Todesursache von pädiatrisch onkologischen Patienten, welche >10 Jahre überlebt haben. Eine Chemotherapie induziert typischerweise hämatologische Erkrankungen nach etwa 5 Jahren, während eine Strahlentherapie typischerweise 10 Jahre nach der Therapie zu soliden Tumoren führen kann (8). Durch Verringerung der Gesamtdosisbelastung (Integraldosis) wird das Risiko der Erkrankung an einem strahleninduzierten Zweittumor deutlich verringert. So kann zum Beispiel bei kraniospinaler Achsenbestrahlung die Inzidenz von sekundären Tumoren um den Faktor 8 gegenüber intensitätsmodulierter Radiotherapie (IMRT) und um den Faktor 15 gegenüber konventioneller Photonentherapie reduziert werden (9).
Protonentherapie am Paul-Scherrer-Institut
In der Schweiz wird am Paul-Scherrer-Institut (PSI) seit 33 Jahren die Protonentherapie angewendet, zunächst nur für die Behandlung von Augentumoren an einem Behandlungsplatz mit starrem Strahlleiter, einem sogenanntem Fixed Beam. 1996 wurde dann am PSI die erste Gantry, also ein um den Patienten rotierbarer Bestrahlungsplatz, in Betrieb genommen. Dabei kam zum ersten Mal weltweit die sogenannte Spot-Scanning-Technik zum Einsatz. Diese Applikation der Protonentherapie wurde am PSI entwickelt. Diese Technik ermöglicht es, den Tumor mit dem Protonenstrahl Punkt für Punkt abzuscannen, was eine höchstmögliche Konformität der Strahlendosis an das Tumorgebiet erlaubt und wodurch die Strahlendosis im gesunden Gewebe minimiert wird. Dies ist, wie oben erwähnt, essenziell für die Reduktion von Nebenwirkungen
Abbildung: Kraniospinale Bestrahlung bei einem Kind mit Medulloblastom. A: Der Protonenstrahl tritt von dorsal in den Körper ein und stoppt genau an der Vorderkante der Wirbelkörper. Gesundes Gewebe, das vor der Wirbelsäule liegt, erhält keine Strahlendosis. Die Strahlendosisverteilung im transversalen CT zeigt, dass die Dosisbelastung an Herz und Lunge (B) sowie Nieren, Darm und Leber (C) null ist.
und des Sekundärmalignomrisikos, was in besonderem Masse für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen wichtig ist. Damit wurden seit 1997 am PSI mehr als 450 Kinder bestrahlt. Säuglinge und Kleinkinder werden seit 2004 in Narkose behandelt. Das Anästhesieteam hierfür kommt aus dem Kinderspital Zürich und betreut bis zu 6 Kinder täglich. Jährlich werden zwischen 40 und 50 Kinder bestrahlt. Damit ist das PSI die Radioonkologie in der Schweiz mit den meisten strahlentherapeutischen pädiatrischen Behandlungen. Die Kinder werden uns aus sämtlichen pädiatrisch-onkologischen Abteilungen der Schweiz zugewiesen. Eine besonders enge Zusammenarbeit besteht mit den pädiatrischen Universitätsspitälern Zürich (KiSpi) und Bern. Das PSI ist bis heute die einzige Schweizer Institution, welche die Protonentherapie anbieten kann. Bestrahlt werden sämtliche kindlichen Tumoren, die auch mittels konventioneller Radiotherapie behandelt werden können. Dies umfasst sowohl intra- als auch extrakranielle Tumoren. Ausgeschlossen sind bis jetzt lediglich Lungenbestrahlungen, beispielsweise bei pulmonal metastasierten Ewing-Sarkomen, und Abdominalbestrahlungen (z.B. bei Wilms-Tumoren). Pädiatrische Tumorpatienten werden zum allergrössten Teil innerhalb von oder analog zu Studienprotokollen behandelt. Aufgrund dessen, dass weltweit immer noch viele Kinder mittels Photonen bestrahlt werden, gibt es noch keine Protokolle, die spezifisch auf die Protonentherapie ausgerichtet sind. Die verschriebene Strahlendosis ist entsprechend in der konven-
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tionellen Radiotherapie und in der Protonentherapie gleich. Daher ändert sich prinzipiell auch in der Prognose im Hinblick auf eine Heilung nichts, sofern sie nicht durch Nebenwirkungen beeinflusst wird.
Behandelte Tumorentitäten und Erfahrungen am PSI Die Indikationen bei den intrakraniellen Tumoren am PSI umfassen Medulloblastome und primitive neuroektodermale Tumoren (PNET), Ependymome (10), atypische teratoide rhabdoide Tumoren (11), Gliome, Germinome und Kraniopharyngeome. Wegen der hohen Rate an Aussaat von malignen Zellen im Liquorsystem werden Medulloblastome und PNET mittels kraniospinaler Ganzachsenbestrahlung behandelt. Medulloblastome und PNET sind die häufigsten malignen kindlichen Tumoren des zentralen Nervensystems. Die Bestrahlung der kraniospinalen Achse erfolgt nach Tumorresektion und eventuell nach Chemotherapie. Die Vorteile der Protonentherapie gegenüber der konventionellen Photonentherapie sind beachtenswert: Es kann die Mitbestrahlung von Herz, Lunge, Leber, Schilddrüse und Gonaden signifikant reduziert werden. Dosimetrische Vergleichsstudien zeigten, dass mittels Protonentherapie Cochlea und Hypothalamus besser geschont werden können (12). Bei Astrozytomen, Oligodendrogliomen und Ependymomen hängt es von der Lokalisation der Tumoren ab, welche zentralnervösen Strukturen einer besonderen Schonung bedürfen. So muss das Augenmerk bei supratentoriell gelegenen Tumoren vor allem auf den Sehapparat mit Sehbahnen sowie Hippocampus und Hypophyse gelegt werden. Bei infratentoriellen Tumoren heisst es, möglichst viel von Hirnstamm und Innenohren zu schonen. So zeigen die retrospektiven Analysen dieser Patienten niedrige Toxizitätsraten (10, 13). Bei der Behandlung von extrakraniellen pädiatrischen Tumoren handelt es sich hauptsächlich um Sarkome (Rhabdomyosarkome [14, 15] und Ewing-Sarkome [16]) sowie Neuroblastome. All diese Tumoren
werden innerhalb eines multidisziplinären Konzeptes mit Chemotherapie, Chirurgie und Strahlentherapie behandelt. In Bezug auf die Bestrahlung stellen sich je nach Lokalisation des Tumors verschiedenste Probleme durch die umliegenden gesunden Gewebe und Organe. Die Toleranzdosen hinsichtlich dieser Organe liegen oft deutlich unterhalb der verschriebenen Tumordosis. Hier hat die Protonentherapie sicherlich ihren Hauptvorteil, da diese Organe oft komplett oder wenigstens grösstenteils verschont werden können und die Rate der Nebenwirkungen an Organen wie Augen, Lunge, Herz, Rückenmark und Nieren minimiert werden kann. So zeigen die vom PSI publizierten Daten zu Rhabdomyosarkomen und Ewing-Sarkomen niedrige Nebenwirkungsraten bei guter lokaler Tumorkontrolle (14–16).
Zusammenfassung
Zusammengefasst ermöglicht die Protonentherapie
in der Behandlung von kindlichen Tumoren eine Mi-
nimierung der Dosisbelastung von gesundem Ge-
webe. Dadurch ist das Risiko von Langzeitfolgen wie
die Induktion von Sekundärtumoren, neurokognitive
und endokrine Funktionseinschränkungen und Hör-
verlust reduziert. Es ist deshalb zu hoffen, dass diese
Therapie in Zukunft möglichst allen pädiatrischen Pa-
tienten zur Verfügung steht, die eine strahlenthera-
peutische Behandlung benötigen.
L
PD Dr. med. Barbara Bachtiary1 (Erstautorin) E-Mail: barbara.bachtiary@psi.ch
Dr. med. Marc Walser1 (Korrespondenzadresse) E-Mail: marc.walser@psi.ch
PD Dr. med. Alessia Pica1, 2
Prof. Dr. med. Damien C. Weber1, 2, 3
Alle Autoren: 1 Zentrum für Protonentherapie Paul-Scherrer-Institut 5232 Villigen
Merkpunkte
L Die Protonentherapie reduziert unnötig hohe Strah-
lendosen ausserhalb des Zielgebietes.
L Neurokognitive und endokrine Funktionen bleiben
erhalten.
L Das Risiko von Sekundärtumoren ist verringert. L Die Protonentherapie ist die bevorzugte Methode
für Kinder, die eine Strahlentherapie benötigen.
sowie: 1 Universität Zürich 3 Universität Bern
Interessenkonflikte: keine.
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Quellen: 1. Gondi V, Yock TI, Mehta MP.: Proton therapy for paediatric CNS tumours – improving treatment-related outcomes. Nat Rev Neurol 2016; 12(6): 334–345. 2. Merchant TE et al.: Late effects of conformal radiation therapy for pediatric patients with low-grade glioma: prospective evaluation of cognitive, endocrine, and hearing deficits. J Clin Oncol 2009; 27(22): 3691–3697. 3. Pulsifer MB et al.: Early Cognitive Outcomes Following Proton Radiation in Pediatric Patients With Brain and Central Nervous System Tumors. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2015; 93(2): 400–407. 4. Greenberger BA et al.: Clinical outcomes and late endocrine, neurocognitive, and visual profiles of proton radiation for pediatric low-grade gliomas. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2014; 89(5): 1060–1068. 5. Vatner RE et al.: Endocrine Deficiency as a Function of Proton Radiation Dose to the Hypothalamus in Children With Brain Tumors. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2016; 96(2): S231–S232. 6. Brinkman TM et al.: Treatment-induced hearing loss and adult social outcomes in survivors of childhood CNS and non-CNS solid tumors: Results from the St. Jude Lifetime Cohort Study. Cancer 2015; 121(22): 4053–4061. 7. Macdonald SM et al.: Proton radiotherapy for pediatric central nervous system ependymoma: clinical outcomes for 70 patients. Neuro Oncol 2013; 15(11): 1552–1559. 8. Morris EB et al.: Survival and late mortality in long-term survivors of pediatric CNS tumors. J Clin Oncol 2007; 25(12): 1532–1538. 9. Miralbell R et al.: Potential reduction of the incidence of radiation-induced second cancers by using proton beams in the treatment of pediatric tumors. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2002; 54(3): 824–829. 10. Ares C et al.: Pencil beam scanning proton therapy for pediatric intracranial ependymoma. J Neurooncol 2016; 128(1): 137–145. 11. Weber DC et al.: Tumor control and QoL outcomes of very young children with atypical teratoid/rhabdoid tumor treated with focal only chemo-radiation therapy using pencil beam scanning proton therapy. J Neurooncol 2015; 121(2): 389–397. 12. Lee CT et al.: Treatment planning with protons for pediatric retinoblastoma, medulloblastoma, and pelvic sarcoma: how do protons compare with other conformal techniques? Int J Radiat Oncol Biol Phys 2005; 63(2): 362–372. 13. Badiyan SN et al.: Clinical and Radiologic Outcomes in Adults and Children Treated with Pencil-Beam Scanning Proton Therapy for Low-Grade Glioma. Int J Particle Ther 2017; 3(4): 450–460. 14. Leiser D et al.: Tumour control and Quality of Life in children with rhabdomyosarcoma treated with pencil beam scanning proton therapy. Radiother Oncol 2016; 120(1): 163–168. 15. Weber DC et al.: Pencil Beam Scanning Proton Therapy for Pediatric Parameningeal Rhabdomyosarcomas: Clinical Outcome of Patients Treated at the Paul Scherrer Institute. Pediatr Blood Cancer 2016; 63(10): 1731–1736. 16. Weber DC et al.: Pencil beam scanned protons for the treatment of patients with Ewing sarcoma. Pediatr Blood Cancer 2017; (june 19) (DOI: 10.1002/pbc.26688).
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