Transkript
Im Fokus: Malignome im Kindesalter
Akute lymphatische Leukämien bei Kindern und Jugendlichen
Neue Behandlungsstrategien
Die akuten lymphoblastischen Leukämien sind die häufigsten Leukämieformen im Kindesalter und werden im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien behandelt. Auf der Basis moderner Risikogruppeneinteilungen mit zyto- und molekulargenetischen Untersuchungen der leukämischen Blasten sowie der Bestimmung der minimalen Resterkrankung im Behandlungsverlauf erfolgt eine individualisierte Behandlung. Völlig neuartige Immuntherapien und gezielte Gentherapien befinden sich in klinischer Prüfung.
NICOLE BODMER, FELIX K. NIGGLI
SZO 2017; 5: 6–10.
Nicole Bodmer Felix K. Niggli
Die akuten lymphoblastischen Leukämien (ALL) sind – mit einem Anteil von etwa 80% – die häufigste Form der Leukämie (als Sammelbegriff) bei Kindern und Jugendlichen und machen fast einen Drittel aller bösartigen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter aus. In der Schweiz erkranken jährlich rund 50 bis 60 Kinder an ALL. Die ALL kann in jedem Alter auftreten, also auch bei Erwachsenen. Am häufigsten betroffen sind jedoch Kinder zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr. Knaben erkranken etwas häufiger als Mädchen. Im Krankheitsprozess der ALL findet eine Entartung in einer unreifen Vorläuferzelle der Lymphozyten statt. Dies kann auf verschiedenen Stufen der Zellentwicklung geschehen und verschiedene Untergruppen der Lymphozyten beziehungsweise von deren Vorstufen betreffen. Aus diesem Grund gibt es verschiedene Formen der ALL. Der immunologisch häufigste Subtyp im Kindesalter ist die B-VorläuferALL, die sich aus unreifen Zellen der B-Reihe des lymphatischen Systems entwickelt. Seltener treten ALLTypen der T-Lymphopoese auf. Eine Sonderform ist die reife B-Zell-Leukämie, die auf einer malignen
ABSTRACT
Acute lymphoblastic leukemia in childhood and adolescence
Acute lymphoblastic leukemia (ALL) is the most frequent type of leukemia during childhood and adolescence and is usually treated within international therapy optimization studies. Risk adapted chemotherapy is based on risk classification by cytogenetics and molecular genetics of leukemic blasts as well as on early treatment response measured by minimal residual disease during the course of treatment. New therapeutic approaches like immunotherapies and targeted gentherapies are now in clinical studies.
Keywords: ALL in childhood, risk adaption chemotherapies, immunotherapies, targeted gentherapies.
Transformation der reifen B-Zelle beruht und als leukämische Manifestation eines Burkitt-Lymphoms zu verstehen ist (1). Die ALL wird mittlerweile als eine Erkrankung angesehen, die zwar häufig morphologisch grosse Ähnlichkeiten untereinander aufweist, aber zytogenetisch oder molekulargenetisch sehr heterogene Subentitäten aufweisen kann, was sich auch in einem sehr unterschiedlichen klinischen Ansprechen auf die Behandlung zeigen kann. Mit modernen Sequenzierungstechniken kann heutzutage die enorme klonale Heterogenität dieser Erkrankung diagnostiziert werden (2).
Diagnostik
Die Untersuchung des Blutbildes liefert meistens bereits wichtige diagnostische Hinweise; die endgültige Diagnose erfolgt in der Regel aber mittels Knochenmarkspunktion. Hierbei wird neben der Untersuchung der Morphologie der Immunphänotyp der leukämischen Blasten in der Durchflusszytometrie (FACS) bestimmt sowie eine Chromosomenanalyse durchgeführt. Die Immunphänotypisierung ermöglicht die Bestimmung des Entwicklungsstadiums des entsprechenden Zellklons. Der häufigste Leukämiesubtyp bei Kindern, die sogenannte «common-ALL», ist durch Expression der B-Zell-Marker CD10 und CD19 charakterisiert. Eine Expression myeloischer Antigene kann bei bis zu 50% der ALL-Typen nachgewiesen werden, hat aber in der Regel keine prognostische Bedeutung. Einen immer wichtigeren Stellenwert haben heutzutage zytogenetische und molekulargenetische Untersuchungen. Dabei gilt es, die wichtigsten Subgruppen zu erkennen, da sie therapeutische Implikationen haben können. Zum einen werden sowohl
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Auftreten von ZNS-Rezidiven (ZNS-Beteiligung)
numerische Chromsomenveränderungen wie Hyperdiploidie oder Hypodiploidie sowie auch strukturelle Veränderungen wie Translokationen, zum Beispiel t(12;21) (Fusion der Gene ETV6/RUNX1) oder t(9;22) (Fusion von BCR/ABL1), MLL-Rearrangements (MLL 11q23) und andere Veränderungen gesucht. Klassisch erfolgt der Nachweis dieser Veränderungen mittels konventioneller zytogenetischer Techniken (G-Banding) und/oder fluoreszierender In-situHybridisierung (FISH) in den Leukämiezellen.
Prognostische Parameter Das Ansprechen auf die Behandlung hat sich in den letzten Jahren als einer der wichtigsten prognostischen Parameter etabliert. Die Kontrolle des Therapieansprechens erfolgt nicht mehr nur durch lichtmikroskopische Beurteilung des Knochenmarks; hierfür hat sich unterdessen die Messung der minimalen Resterkrankung (MRD: «minimal residual disease») etabliert. Im Wesentlichen werden für die Bestimmung der MRD zwei Methoden angewendet, die sich im klinischen Alltag ergänzen. Die empfindlichste Methode ist das Monitoring von Immunglobulin- und T-ZellRezeptor-Rearrangements. Dabei werden initial leukämiespezifische klonale Rearrangements gesucht, die mittels quantitativer PCR zu bestimmten Therapiezeitpunkten verfolgt werden. Die damit erreichte Detektionsgrenze liegt bei zirka 1 Leukämiezelle unter 100 000 normalen Knochenmarkzellen. Eine um etwa 1 Logstufe weniger sensitive Technik der MRD-Messung beruht auf dem Monitoring des leukämieassoziierten Immunphänotyps mittels FACS. Dabei kann eine Sensitivität von 0,001% erreicht werden (3).
Konventionelle Chemotherapie
Während noch in den Siebzigerjahren die wenigsten Kinder die Erkrankung überhaupt überlebten, können heutzutage nahezu 85% der Patienten langfristig geheilt werden (Abbildung 1). Die Fortschritte bei den Überlebensraten in den letzten 10 bis 15 Jahren wurden aber nicht durch den Einsatz von neuartigen Therapieansätzen erreicht, sondern hauptsächlich durch bessere Risikostratifizierungen und daraus resultierend eine risikoadaptierte Behandlung. Die heutige ALL-Standardtherapie besteht im Wesentlichen aus der Kombination von Kortikosteroiden, einer Aminosäuren- oder Substratdepletion (Asparaginase, Methotrexat), alkylierenden Substanzen, Antimetaboliten, klassischen Metaphasenblockern und Anthrazyklinen (4).
Rolle von zielgerichteten Therapien Neuere Substanzen, sogenannte «targeted therapies», wie die Tyrosinkinase-Inhibitoren bei Philadelphia-Chromosom-positiver ALL, wurden bisher nur ausnahmsweise in der Behandlung der pädiatrischen ALL eingesetzt. In jüngerer Zeit wurden neue seltene
Jahre
Jahre
pEFS: Wahrscheinlichkeit ereignisfreien Überlebens CI: kumulative Rezidivinzidenz CNS: zentrales Nervensystem pSUR: Überlebenswahrscheinlichkeit
Abbildung 1: Ereignisfreies Überleben und Inzidenz von ZNS-Rezidiven (a) sowie Überlebenswahrscheinlichkeiten (b) in den verschiedenen ALL-BFM-Studien 81–95. Adaptiert nach: Möricke et al.: Long-term results of five consecutive trials in childhood acute lymphoblastic leukemia performed by the ALL-BFM study group from 1981 to 2000. Leukemia 2010.
Subgruppen von B-Vorläufer-ALL identifiziert, sogenannte Philadelphia-like (oder BCR-ABL-like) ALL, die einerseits ein deutlich erhöhtes Rezidivrisiko aufweisen, aber andererseits künftig mögliche Kandidaten für gezielte Therapien zum Beispiel mit neuen Tyrosinkinase-Inhibitoren sein könnten (5). Bei den meisten neuen genetischen Hochrisikokriterien konnte aber auch gezeigt werden, dass ihr Einfluss unterschiedlich ist, und zwar abhängig vom messbaren Therapieansprechen. Therapieoptimierungsstudien mit innovativen Kombinationen Fast alle Kinder und Jugendlichen mit ALL werden in der Schweiz im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien behandelt. Es handelt sich dabei um kontrol-
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Tabelle:
Stratifizierungskriterien für die Einteilung der Patienten in die Hochrisikogruppe
Kriterien des Chemotherapieansprechens:
L Morphologisch inkomplette Remission am Behandlungstag 33 (sog. M2/M3-
Knochenmark, d.h. mehr als 5% Blasten mikroskopisch vorhanden)
L FCM-MRD* im Knochenmark am Tag 15 ≥ 10% und nicht ETV6-RUNX1 (TEL-
AML1-)positiv
L PCR-MRD** im Knochenmark an Tag 33 ≥ 5 x10-4 und positiv < 5 x10-4 zur
Woche 12
L PCR-MRD im Knochenmark zur Woche 12 ≥ 5 x10-4
Zytogenetische beziehungsweise kombinierte Kriterien:
L Hypodiplodie < 45 Chromosomen L IKZF1plus und PCR-MRD an Tag 33 positiv oder nicht konklusiv und keine Posi-
tivität für ETV6-RUNX1, TCF3-PBX1 oder andere KMT2A-Rearrangements als KMT2A-AFF1
L Positivität für KMT2A-AFF L Positivität für TCF3-HLF L Alter < 1 Jahr und jedes KMT2A-Rearrangement
* FCM-MRD: Bestimmung der minimalen Resterkrankung mittels Immunphänotypisierung. ** PCR-MRD: Messung der minimalen Resterkrankung basierend auf molekulargenetischen Verfahren. IKZF1plus: IKZF-Deletion bei gleichzeitigem Vorkommen einer Deletion CDKN2A, CDK2B, PAX5 oder PAR1 ohne gleichzeitigen Nachweis einer ERG-Deletion.
Anti-CD19Antikörper
B-ALLZelle
CD19
B-ZellLyse
Anti-CD3Antikörper
CD3 T-Zelle
Abbildung 2: Blinatumomab ist ein bispezifischer T-Zell-Antikörper, der aus zwei antigenerkennenden scFv-Fragmenten besteht, die über eine Peptidbrücke miteinander verbunden sind. Eines der zwei scFv-Fragmente bindet spezifisch an den CD3-Rezeptor der T-Zellen. Das zweite scFv-Fragment ist gegen das Antigen CD19 gerichtet, das auf allen B-Zellen exprimiert wird. Durch die Bindung an CD3 und CD19 wird die T-Zelle aktiviert und löst eine B-Zell-Apoptose aus. Adaptiert nach: Zhu M et al.: Blinatumomab, a Bispecific T-cell Engager (Blincyto®) for CD-19 Targeted Cancer Immunotherapy: Clinical pharmacology and its implications. Clin Pharmacokinet (2016).
lierte klinische Studien, die das Ziel haben, erkrankte Patienten nach dem jeweils neusten Wissensstand zu behandeln und gleichzeitig die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern und weiterzuentwickeln. Die meisten Schweizer Kinderonkologischen Zentren behandeln ihre Patienten im Rahmen von Studien der ALL-BFM-Studiengruppe, ein Zusammenschluss
deutscher, österreichischer und schweizerischer Kinderonkologischer Zentren, die seit 1976 in zahlreichen gross angelegten, randomisierten Therapiestudien wesentlich zu Therapieverbesserungen der ALL beigetragen hat. Nachdem in den vorgängigen ALL-BFM-Studien die meisten Fortschritte durch Anpassungen in der Risikogruppeneinteilung und Individualisierung der Behandlung erzielt worden sind (Abbildung 1), kommen in der nun sich in Planung befindlichen Nachfolgestudie AIEOP-BFM ALL 2017 erstmals vielversprechende neue Medikamente zum Einsatz. Den «Backbone der Behandlung» stellen wiederum die genannten klassischen Medikamente der ALL-Behandlung dar. Zusätzlich werden die neuen innovativen Medikamente randomisiert auf ihren potenziellen Nutzen überprüft und neue zytogenetische Hochrisikogruppen definiert (Tabelle), die Zugang zu innovativen therapeutischen Ansätzen finden werden. Eine dieser neuen Subgruppen ist definiert über das Vorhandensein einer IKZF1-Deletion in Verbindung mit einer Deletion CDKN2A, CDKN2B, PAX5 oder PAR1 in Abwesenheit einer ERG-Deletion und wird bezeichnet als IKZF1plus. In vorausgegangenen Studien konnten etwa 10 bis 15% der Patienten als IKZF1plus identifiziert werden; diese wiesen eine signifikant höhere Rezidivrate auf als die IKZF1plus-negativen Patienten (6). Eines dieser neueren Medikamente, das in einer kleinen Gruppe von Hochrisikogruppen mit besonders ungünstiger Prognose zum Einsatz kommen wird, ist Blinatumomab (Blincyto®; Hersteller Amgen), ein bispezifischer T-Zell-Antikörper, der gleichzeitig gegen den CD3-Rezeptor der T-Zellen und gegen das Oberflächenprotein CD19 der B-Zellen gerichtet ist (7) (Abbildung 2). Blinatumomab soll zwei potenzielle Effekte kombinieren: Reduktion von Akut- und Langzeittoxizitäten durch Einsparen von konventioneller Chemotherapie und effektivere Therapie von Patienten, die bisher nur unbefriedigend auf die Hochrisikotherapie angesprochen haben. Blinatumomab ist seit 2016 in der Schweiz für Erwachsene mit rezidivierter oder refraktärer B-Vorläufer-ALL zugelassen. Für Kinder befindet sich Blinatumomab derzeit in der klinischen Prüfung in Phase-III-Studien. Blinatumomab wird in der Regel als kontinuierliche intravenöse Infusion über 4 Wochen ambulant mit tragbaren Infusionspumpen verabreicht. Ein weiteres neues Medikament in der ALL-FrontlineTherapie ist der Proteasom-Inhibitor Bortezomib (Velcade®, Hersteller Janssen). Da bisherige Versuche von späten Therapieintensivierungen bei den Hochrisikopatienten wenig erfolgreich waren und wegen der ohnehin schon hohen Toxizitäten der Hochrisiko-(HR-)Therapien auch nicht angestrebt werden, wird Bortezomib in der kommenden Studie bereits in der frühen Post-Reinduktionsphase bei HR-
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Patienten mit B-Vorläufer-ALL randomisiert eingesetzt werden.
Stammzelltransplantation
Die Indikationen für die Durchführung einer Stammzelltransplantation (SZT) wurden durch die laufende Verbesserung der konventionellen Primärbehandlung und auch der Rezidivtherapien im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich angepasst. Die aktuelle Indikation einer SZT im Rahmen der Primärtherapie ist gewissen prognostisch ungünstigen zytogenetischen Subgruppen vorbehalten, wie zum Beispiel t(9;22), Hypodiploidien mit weniger als 44 Chromosomen in den Blasten sowie neuerdings IKZF1plus in Kombination mit ungenügendem Therapieansprechen (also MRD) über die Zeit (8). Aus den Erfahrungen der BFM-Gruppe hat sich gezeigt, dass auch der Behandlungserfolg der Rezidive vom Zeitpunkt des Auftretens des Rezidivs, vom Befallsmuster der Leukämie sowie vom Leukämiesubtyp abhängt (9). Aber auch hier konnte nachgewiesen werden, dass das Therapieansprechen nach erneuter Therapieinduktion und somit die Dynamik des Rückgangs der minimalen Resterkrankung von besonderer prognostischer Bedeutung ist und entsprechend weitere Therapieelemente, beispielsweise der Einsatz einer SZT, danach ausgerichtet werden können (10).
Neue Therapien in der ALL-Behandlung
Bis auf wenige Ausnahmen (Clofarabin, Nelarabin, Imatinib) gab es keine Neuzulassungen für die pädiatrische ALL in den letzten 10 bis 15 Jahren. Neben den oben erwähnten Medikamenten, die Eingang in die neue Studie finden werden, befinden sich derzeit weitere interessante Therapieansätze in der klinischen Prüfung in Studien der Phase I bis III. Dazu gehören neben dem erwähnten Blinatumomab auch Inotuzumab (Besponsa®, Hersteller Pfizer), das
in diesem Jahr eine Zulassung für Erwachsene mit rezidivierter oder refraktärer CD22-positiver ALL erhalten hat und bei Kindern derzeit im Rahmen von Phase-I/II-Studien geprüft wird. Bei Intozumab handelt es sich um eine Kombination aus dem Chemotherapeutikum Calicheamicin, das die TumorzellDNA schädigt und zur Apoptose treibt, sowie einem monoklonalen Antikörper gegen CD22. Dieser detektiert Tumorzellen und ermöglicht eine zielgerichtetere Chemotherapie. Eine Hauptnebenwirkung, deren Pathogenese bisher noch nicht komplett verstanden ist, ist das gehäufte Auftreten der sogenannten venookklusiven Lebererkrankung. Ein grosser Vorteil von Inotuzumab ist, dass es im Gegensatz zu vielen konventionellen Chemotherapien in der Regel ambulant verabreicht werden kann (11). Eine weitere völlig neuartige Therapieoption stellen sogenannte CAR-T-Zellen dar. Mit Kymriah® (Tisagenlecleucel, Hersteller Novartis) wurde die erste Gentherapie in der Leukämiebehandlung weltweit von der amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) zugelassen. Es handelt sich hierbei um chimäre Antigenrezeptor-(CAR-)T-Zellen für die Behandlung von CD19-positiven ALL-Rezidiven. Diese neuartige Immuntherapie macht sich das Potenzial von autologen, zytotoxischen T-Zellen zunutze, die Zellen der B-Zellreihe erkennen und zerstören können. Für die Behandlung mit CAR-T-Zellen werden zunächst T-Zellen aus dem Blut des Patienten entnommen, die dann im Labor gentechnisch so verändert werden, dass sie chimäre Antigenrezeptoren auf ihrer Oberfläche bilden, die gegen leukämiezellspezifische Oberflächenproteine gerichtet sind. Die Immunzellen werden somit künstlich auf die Leukämiezellen «abgerichtet». Die so veränderten CAR-T-Zellen werden dem Patienten als Infusion verabreicht. Im Körper des Patienten führen sie oftmals zu einer heftigen und häufig lang anhaltenden Immunreaktion gegen die Leukämiezellen; gleichzeitig können sie sich
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selbstständig weitervermehren. Wie alle onkologischen Behandlungen können auch CAR-T-Zell-Therapien schwere Nebenwirkungen verursachen. Die weitaus häufigste Nebenwirkung ist das «cytokinerelease syndrome» (CRS). Dabei kann es durch massive Freisetzung von Zytokinen aus den leukämischen Blasten zu teilweise lebensbedrohlichen Reaktionen wie Fieber, Schüttelfrost, Atembeschwerden und Hautausschlägen kommen (12). Im August 2017 wurde von der amerikanischen FDA Tocilizumab (Actemra®/RoActemra®; Hersteller: Roche) zur Behandlung des CRS zugelassen, ein humanisierter, monoklonaler Antikörper gegen Interleukin-6-(IL-6-)Rezeptoren, die an der Regulation von Entzündungsreaktionen beteiligt sind. Durch seinen Einsatz kann das CRS deutlich abgemildert werden (13). Weitere Erfolg versprechende neue Therapieansätze befinden sich zurzeit in Phase-I/II-Studien. Auch gezielte Therapien nach vorheriger In-vitro-Testung in Xenograft oder in Zelllinienmodellen sowie spezifische Inhibitoren gegen zytogenetisch nachgewiesene Fusionsgene stellen interessante und vielversprechende Therapieoptionen für die Zukunft dar. L
Dr. med. Nicole Bodmer (Korrespondenzadresse) Oberärztin Onkologie E-Mail: nicole.bodmer@kispi.uzh.ch
Prof Dr. med. Felix Niggli Abteilungsleiter Onkologie E-Mail: felix.niggli@kispi.uzh.ch
Abteilung Onkologie Universitätskinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich
Interessenkonflikte: keine.
Merkpunkte
L Die akute lymphoblastische Leukämie wird risikoadaptiert behandelt und
ist in der Mehrzahl der Fälle heilbar.
L Die Bestimmung der minimalen Resterkrankung nach Therapieinduktion
ist einer der wichtigsten prognostischen Faktoren neben den biologischen
Markern wie leukämischer Subtyp und zytogenetischen und molekulargene-
tischen Veränderungen der leukämischen Blasten.
L Aktuelle Entwicklungen zielen auf eine effektivere und gezieltere Behand-
lung von bis jetzt resistenten Leukämiesubtypen sowie auf eine Verringe-
rung der Therapietoxizität hin.
L Neue innovative Medikamente wie Immuntherapien und individualisierte
Therapien befinden sich in der klinischen Prüfung.
Quellen:
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