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Serie Onkologische Rehabilitation
Logopädie bei Tumorerkrankungen
In der onkologischen Logopädie werden vor allem Personen mit Tumoren im Kopf-Hals-Bereich betreut. Durch die Krankheit oder als Folge der Interventionen kann es zu Schluck-, Sprach-, Stimm- oder Sprechstörungen kommen. Je nach Ausprägung der Symptomatik leiden die Patienten an massiven Einschränkungen, welche starken Einfluss auf die Teilhabe im sozialen Umfeld haben. Tobias Holzer, Gerda Sporrädli
In der Schweiz erkranken jährlich über 40 000 Personen an Krebs (1). Kopf-HalsTumore stehen bezüglich der Häufigkeit zwar nicht an erster Stelle, sind aber, wie auch ihre Behandlung, häufig mit schweren funktionellen und ästhetischen Beeinträchtigungen verbunden (2).
Ziel: Kommunikationsfähigkeit trainieren Durch die Schluckstörung (teilweise Sondenernährung) und die beeinträchtigte Kommunikationsfähigkeit bei Dysphonie und Artikulationsstörung sind die Betroffenen meist sowohl in der Teilhabe als auch in der Aktivität im sozialen Leben deutlich eingeschränkt. Die Therapie orientiert sich an der ICF (International Classification of Functioning). Logopädische Ziele im palliativen Stadium legen den Fokus häufig auf die Verbesserung der Lebensqualität und die Linderung der krankheitsbedingen Symptome (3). Die Logopädie sollte so früh wie möglich miteinbezogen werden. Wichtig
Merkpunkte
L Die Logopädie befasst sich nicht nur
mit den strukturellen Einschränkun-
gen in der Therapie, sondern beson-
ders auch mit deren Auswirkungen
auf den Alltag.
L Oberstes Ziel ist immer, die Schluck-
funktion und die Kommunikation so
wiederherzustellen, dass die Teilhabe
an Alltagsaktivitäten bestmöglich ge-
währleistet ist.
L Nur durch eine sehr hochfrequente
Therapie ist das Wiedererlangen der
verlorenen Fähigkeiten (Schlucken,
Sprechen, Stimme) möglich.
sind nebst einer guten Diagnostik des Schluckens und des Sprechens gezielt ausgesuchte Übungen und der Einbezug von Schluckmanövern. Diese können Beeinträchtigungen mildern und eine bestmögliche Heilung erzielen helfen (4). Zudem nimmt auch die Beratung einen grossen Stellenwert ein. Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren sind häufig neben den körperlichen Einschränkungen auch psychisch stark belastet. Die Therapie besteht deshalb aus einem beachtlichen Anteil an Gesprächen. LogopädInnen werden somit mit speziellen Anforderungen konfrontiert, welche über ihr eigentliches Berufsfeld hinausgehen (5).
Vielfältige Aufgaben zur Besserung der Beeinträchtigungen Die primäre Therapie von KHT (KopfHals-Tumoren) erfolgt durch Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie, die einzeln oder in Kombination eingesetzt werden. Infolge der Erkrankung und Therapie leiden viele Menschen mit KHT an gravierenden und potenziell lang andauernden funktionellen Schädigungen. Sie sehen sich nicht nur einer lebensbedrohlichen Krankheit ausgesetzt, sondern sind auch gefordert, während der Behandlungsphase und oft lange Zeit darüber hinaus mit den erkrankungs- und therapiebedingten Auswirkungen auf ihre körperliche, psychische und soziale Funktionsfähigkeit im Alltag zurechtzukommen. Zum Beispiel gehören Schwierigkeiten mit der Atmung sowie mit der Nahrungsaufnahme (Kauen, Schlucken, Mukositis, Xerostomie, Geschmacksverlust) und dem resultierenden Gewichtsverlust zu den häufigen Therapiefolgen, die lebensnotwendige Funktionen der Patienten
gefährden. Darüber hinaus zählen Probleme mit Stimme und Sprechen, Sensibilitätsverlust, ästhetische Probleme durch Beeinträchtigung des Aussehens und auch Schmerzen zu den typischen Therapiefolgen bei KHT. Aus den Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen resultieren häufig weitere Beeinträchtigungen der Teilhabe am täglichen Leben, vor allem eingeschränkte Ernährungsmöglichkeiten, verminderter Kontakt zu Mitmenschen (soziale Interaktion, Essen, Beruf), psychische Probleme (Angst, Depressivität, Nervosität), Erwerbsunfähigkeit mit daraus resultierenden finanziellen Problemen sowie familiäre Belastungen (Veränderung sozialer Rollen und Aufgaben, Veränderung sozialer Beziehungen) (6).
Behandlung bei Stimmverlust Der Verlust der Stimme bei Kehlkopfentfernung ist für die Betroffenen ein deutlicher Einschnitt im Leben. Um weiterhin mit der Umwelt kommunizieren zu können, wird eine Ersatzstimme benötigt. Folgende Möglichkeiten bieten sich an: Shuntventil, elektronische Sprechhilfe, Ösophagusstimme und Pseudoflüstern. Am häufigsten wird das Shuntventil eingesetzt. In der Logopädie wird die entsprechende Ersatzstimme mit dem Patienten trainiert. Beim Einsatz des Shuntventils wird zuerst der Umgang mit dem Stimmventil geübt. Danach erfolgt das Sprechtraining. Ein wichtiges Ziel ist die Vermeidung des sozialen Rückzuges (7).
Prophylaktische Aufgaben Alle Kopf-, Hals- und Tumorpatienten sollten eine Bewertung von Sprache und Schlucken vor der eigentlichen Behandlung haben. Ein Programm von prophylaktischen Übungen und das Lernen von Schluckmanövern können Beeinträchtigungen reduzieren, die Funktion beibehalten und eine schnellere Erholung ermöglichen helfen. Die Fortsetzung der Schluck- und Stimmtherapie am Anfang ist wichtig für die Aufrechterhaltung der Stimme und die sichere und effektive Schluckfunktion nach Kopf- und Hals-
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2017
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Tumor-Behandlungen. Bei der Behandlung von Striktur und/oder Stenose muss ein Rezidiv der Erkrankung ausgeschlossen werden. Kontinuierliche radiale Expansionsballons bieten eine sichere, effektive Dilatationsmethode mit Vorteilen gegenüber Gummi-ElastikBougies. Ort, Länge und Vollständigkeit der Strikturen und ihre Lage im Bereich des Kehlkopfes (oder nicht) müssen beurteilt werden, bevor ein chirurgischer Eingriff zur Funktionsverbesserung erwogen wird (4). Allen Patienten, die sich einer Laryngektomie unterziehen, sollte eine primäre chirurgische Stimmrekonstruktion angeboten werden. Die Aufmerksamkeit hinsichtlich chirurgischer Details und die langfristige Sprach- und Stimmtherapie sind erforderlich, um die Sprache und das Schlucken nach der Laryngektomie zu optimieren (4).
Vergleichsstudie zur Evaluation der Programme Die kürzlich publizierte Studie von Wall und Kollegen (8) verglich Therapieprogramme und Adhärenzen der Patienten. Intensive, prophylaktische Schluck-Therapie-Programme wurden zur Bewertung der Outcomes nach logopädischer Intervention bei Dysphagie bei KHTPatienten entwickelt. Dazu wurde in verschiedenen Studien über variable Therapieadhärenzraten berichtet. Die vorläufige Forschung deutet darauf hin, dass der Service-Delivery-Modus und demografische Faktoren die Adhärenz beeinflussen. Die Studie von Wall untersuchte die Patientenadhärenz hinsichtlich eines prophylaktischen SchluckTherapie-Protokolls über drei ServiceDelivery-Modelle: 1. klinikgerichtete Face-to-Face-Therapie, 2. technologieunterstützte Therapie mit der telepraktischen Anwendung, (SwallowIT) und 3. unabhängige patientengerichtete Therapie. Sekundär wurden die Auswirkungen von Patientenfaktoren auf die Adhärenz untersucht. Patienten mit oropharyngealem KHT, die eine Radiotherapie erhielten, wurden randomisiert, um das Übungsprotokoll über klinikgerichtete (n = 26), patientengesteuerte (n = 27) oder SwallowIT-unterstützte (n = 26) Modelle zu erhalten. Die Adhärenz
wurde jeweils als Prozentsatz berechnet, mehrere Patientenfaktoren wurden einbezogen. Die Adhärenz über die vorgegebenen 6 Wochen logopädische Intervention war in allen Gruppen niedrig (27%) und sank in Woche 4 nach Radiotherapie. Das klinikgerichtete Modell lieferte signifikant bessere Adhärenz (p = 0,014) als die patientengerichtete Therapie in den Wochen 1 bis 3. Es gab einen Trend für eine höhere Adhärenz in der Swallow IT-Gruppe im Vergleich zur patientengerichteten Therapie in den Wochen 1 bis 3 (p = 0,064). Die multivariable lineare Modellierung identifiziert das aktive Rauchen zu Studienbeginn (p < 0,001) und die gleichzeitige Chemotherapie (p = 0,040) als signifikant negative Prädiktoren der Adhärenz und der Motivation. Obwohl strahlentherapiebezogene Toxizitäten die Therapieadhärenz beeinflussen, kann die Bereitstellung von Service-DeliveryModellen mit zusätzlicher Unterstützung für Patienten mit bekannten Risikofaktoren dazu beitragen, die Therapieadhärenz hinsichtlich prophylaktischer Programme zu optimieren. «Telepractice» wird als alternatives Modell zur Unterstützung der Adhärenz angesehen (8). Diskussion Bei differenzierter Betrachtung zeigt sich, dass nicht nur die zugrunde liegenden strukturellen Defizite der Patienten nach der Primärtherapie bei KHT eine intensive logopädische Behandlung notwendig machen, sondern dass auch die Beratung sowie intensive Gespräche im Rahmen der hohen Therapiefrequenz wesentlich sind. Hierbei muss der Fokus zwingend auf die teilweise elementaren Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme gelegt werden. Da Essen und Trinken eine Notwendigkeit sind und mit Genuss, Wohlbefinden und sozialer Interaktion verbunden werden, ist die psychische Belastung bei einer Einschränkung sehr gross. Hier muss der Logopäde/die Logopädin oftmals psychosozial unterstützend wirken. Durch bedingte Wiedererlangung primärer Schluck- und Stimmfunktionen tritt beim Patienten ad hoc auch eine Besserung der Stimmung auf. Diese Schlussfolgerung impliziert: Je früher und intensiver eine logopädische Therapie begonnen wird, desto schnel- ler können Psyche und Physis optimal miteinander reagieren. Zusätzlich muss in Bezug auf die zitierte Studie erwähnt werden, dass verschiedene Therapie- modelle differenzierte Ergebnisse lie- fern, welche eine spezifizierte und per- sonalisierte logopädische Behandlung notwendig machen. Durch prophylakti- sche Ansätze kann der Patient schon vor der Operation respektive der Strahlen- und Chemotherapie mit dem Vorgehen vertraut werden. Darüber hinaus können in dieser Phase ein Aufbau und eine Kräftigung der wahrscheinlich betroffe- nen Strukturen initiiert werden. Die logopädische Intervention ist somit so- wohl prä- als auch postoperativ essen- ziell, um die primären Fähigkeit wieder- zuerlangen. L Tobias Holzer Logopäde E-Mail: tobias.holzer@rheinurg.ch Gerda Sporrädli Logopädin E-Mail: gerda.sporrädli@rheinburg.ch Ambulantes Interdisziplinäres Rehabilitationszentrum Neurologische und orthopädische Rehabilitation Rheinburg-Klinik/Kliniken Valens 9006 St. Gallen Quellen: 1. http://www.nicer.org/assets/files/publications/others/ skb_02-2016_krebsbericht2015.pdf.). 2. http://ihrs.ibe.med.uni-muenchen.de/biopsychosocial/abgeschlossen/icf_kopf_hals_tumore/download_leit faden.pdf) 3. Freudricht L, Sommer J, Tisch W.: Logopädie in der Palliativmedizin- Verantwortung und Chancen im interdisziplinären Team. Forum Logopädie, 2014; 6. 4. Clarke P, Radford K, Coffey M, Stewart M: Speech and swallow rehabilitation in head and neck cancer: United Kingdom National Multidisciplinary Guidelines. J Laryngol Otol 2016; 130(S2): S176–S180. 5. Ullrick P, Wolbrück D, Danker H et al.: Psychosoziale Anforderungen an die Therapie mit HNO-Tumor-Patient/innen. Praxiserfahrungen, kommunikative Kompetenzen und Weiterbildungsbedarf von onkologisch tätigen Logopäd/innen und Sprechwissenschaflter/innen. Forum Qualitative soziale Forschung 2016; 11 (1), 22. 6. www.ihrs.ibe.med.uni-muenchen.de/.../icf_kopf_hals_ tumore/download_leitfaden.pdf 7. Krebsliga Schweiz: Leben ohne Kehlkopf – Informationsbroschüre. 2017; 5. überarbeitete Auflage. https:// shop.krebsliga.ch/files/kls/webshop/PDFs/deutsch/lebenohne-kehlkopf-011201013111.pdf 8. Wall LR, Ward EC, et al.: Adherence to a prophylactic swallowing therapy program during (chemo) radiotherapy: Impact of service-delivery model and patient factors. Dysphagia 2017; 32 (2). 28 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2017