Transkript
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Rationierung aus Solidarität?
Ethische Überlegungen zu Altersgrenzen in der Medizin
Im Rahmen eines solidarisch organisierten Versicherungssystems führen Behandlungsentscheidungen bei alten und multimorbiden Krebspatienten immer wieder zu schwierigen Fragen der Kosten-Nutzen-Abwägung. Der Artikel resümiert wichtige Aspekte im Zusammenspiel von medizinischem Anspruch, Ressourcenverteilung und Ethik.
TOBIAS EICHINGER
SZO 2016; 5: 20–23.
Tobias Eichinger
Dass die Medizin und das Gesundheitswesen Bereiche sind, die besonders von Mittelknappheit und Verteilungsfragen geprägt sind, ist eine Binsenweisheit. Dieser Umstand birgt bei aller Alltäglichkeit automatisch ein nicht geringes Konfliktpotenzial, da es bei der Allokation begrenzter Ressourcen stets um konkurrierende Ansprüche, vermeintliche oder tatsächliche Privilegien und grundsätzliche Fragen der Gerechtigkeit geht. Behandlungen im Alter und am Lebensende sind hierbei ein in mehrfacher Hinsicht brisantes und anhaltend problematisches Feld: L Zum einen machen die Kosten medizinischer Ver-
sorgung am Ende des Lebens einen überproportionalen Anteil der Gesamtaufwendungen aus; L zum anderen steigt die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahrzehnten kontinuierlich an, wodurch wiederum der Anteil therapeutischer Bedarfe und Behandlungen im hohen Alter zunimmt. Dies liegt zu einem beträchtlichen Anteil an den Fortschritten in Wissenschaft und Technik, von denen die Medizin profitiert und mittels deren sie ihren Handlungsbereich beständig erweitert. Neben der demografischen Entwicklung als Faktor der Kostensteigerung wird der Medizin sozusagen ihr eigener Erfolg zum Problem. Mit dem wachsenden Umfang an neu entwickelten Therapien und Massnahmen, die oft unter Einsatz teurer Hochtechnologie zum Einsatz kommen, steigt auch der Finanzierungsbedarf.
Merkpunkte
L Aus ethischer Perspektive ist eine transparente und offene Diskussion
über Verfahren und Kriterien einer expliziten Rationierung gefordert.
L Die Idee generationenübergreifender Solidarität schliesst Altersgrenzen
nicht aus.
L Das chronologische Alter als Rationierungskriterium hat viele Vorteile,
kann allerdings nicht alleiniger Massstab sein.
Dabei ist allerdings gerade bei hochaltrigen Patientinnen und Patienten am Lebensende nicht immer die Korrelation einer innovativen, technologiegestützten Therapie mit eindeutiger therapeutischer Sinnhaftigkeit gegeben. Zumindest ist bei einigen Massnahmen die Verhältnismässigkeit von ökonomischem Mehraufwand einerseits und wirklichem Mehrwert und Zusatznutzen für den Patienten und dessen Lebensqualität andererseits stark zu bezweifeln. Daneben stellt sich auch bei erwiesenermassen sinnvollen und nützlichen Behandlungen die Frage der Finanzierbarkeit im Rahmen eines solidarisch organisierten, beitragsfinanzierten Systems gesundheitlicher Versorgung für alle, das unabhängig von sozialem Status und individuellem Wohlstand jeder und jedem Bedürftigen medizinische Hilfe ermöglichen soll.
Lebensverlängerung, Nebenwirkungen und Lebensqualität
Bei begrenzten Mitteln für immer kostspieligere Behandlungen, die sich nach steigenden Ansprüchen wachsender Zielgruppen richten, sind somit Überlegungen zu Formen und Kriterien gerechter Verteilung der umkämpften Ressourcen unumgänglich. Im Falle der Onkologie stellt sich diese Problemlage verschärft bei der Frage, unter welchen Umständen aufwändige und nebenwirkungsreiche Therapien bei hochaltrigen Patientinnen und Patienten durchgeführt werden sollen. Oft ist es hier zunächst eine primär medizinische Herausforderung, den wahrscheinlichen Nutzen einer solchen Massnahme für den krebskranken Patienten abzuschätzen und in ein Verhältnis zu den zu erwartenden Nebenwirkungen zu bringen. Hier gelten die gleichen Kriterien wie auch sonst in der Medizin: Der Schaden, den ärztliches Handeln hervorruft, muss deutlich geringer ausfallen als der Nutzen, der angestrebt wird; und der Aufwand, der für eine Massnahme betrieben wird, muss in einem angemesse-
20 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2016
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
nen Verhältnis stehen zu dem gewonnenen Zuwachs an Lebensqualität.
Neben der demografischen Entwicklung als Faktor der Kostensteigerung wird der Medizin ihr eigener Erfolg zum Problem.
Bei alten Menschen, denen mit kostspieligen Eingriffen geholfen werden kann, gibt es zusätzliche Aspekte, die in derartige Überlegungen miteinfliessen. Zunächst ergeben sich hier weitere Fragen: L Inwieweit stellt die naturgemäss kürzere Lebens-
erwartung nach der Behandlung einen Faktor dar, der in die individuelle Kosten-Nutzen-Abwägung miteinbezogen werden muss? Für die Prognose der Lebensqualität, die die Patientin/der Patient nach oder auch während einer aggressiven, nebenwirkungsreichen Strahlenbehandlung beispielsweise hat, spielt auch der Anteil einer bestehenden altersbedingten Multimorbidität eine wichtige Rolle. L Sollte dieser Faktor aus Gerechtigkeitsgründen durch eine niedrigere Schwelle des akzeptablen Grenznutzens im Alter kompensiert werden oder aber gerade wegen des altersbedingten ungünstigeren Verhältnisses sogar als explizites Kriterium herausgehoben werden? L Was spricht dafür, bei kostspieligen therapeutischen Eingriffen im hohen Alter das Lebensalter zum Massstab und Grenzwert für Verteilungsentscheidungen zu machen? L Kann Altersrationierung gerechtfertigt sein?
Rationierung ist unausweichlich
Wenn man davon ausgeht, dass heute bereits an zahlreichen Stellen der medizinischen Versorgung Unterschiede gemacht, Zuteilungsentscheidungen getroffen und somit die begrenzten Mittel priorisiert und rationiert werden, ohne dass die Kriterien offengelegt oder auch nur offen diskutiert werden, und wenn ausserdem nicht alle wünschbaren Therapien
Schwierige Zuteilungsentscheidungen, die weniger medizinischer als
vielmehr ethischer oder politischer Natur sind, sollten nicht von Ärztinnen/
Ärzten allein getroffen werden.
vom solidarischen Versorgungssystem erbracht werden können, dann scheint es aus ethischer Perspektive keine Alternative zu einer transparenten Diskussion über Verfahren und Kriterien einer expliziten Rationierung zu geben. Nur so kann verhindert werden, dass Entscheidungen über teure Massnahmen, die zum Teil für die Betreffenden von existenzieller Bedeutung sind, in-
nerhalb der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung getroffen werden (müssen), und dies nach uneinheitlichen und unsystematischen, oft auch unreflektierten Kriterien. Im Rahmen einer solchen Praxis impliziter Rationierung sind die Rationierungsentscheidungen schwer bis nicht nachvollziehbar, da die angewandten Kriterien weder transparent kommuniziert und diskutiert noch einheitlich gehandhabt werden. Der Druck, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, die weniger medizinischer als ethischer oder politischer Natur sind, wird auf die Ärztinnen/Ärzte verlagert, und das Schicksal der einzelnen Patientin/des einzelnen Patienten hängt übermässig davon ab, bei welchem Arzt oder welcher Ärztin in welcher Region sie oder er behandelt wird (oder nicht). Solch eine Praxis genügt nicht den Grundanforderungen an eine gerechte Regelung zur Allokation limitierter Ressourcen.
Altersgrenzen als solidarische Antwort auf die Unterjüngung
Entscheidungen über die Anwendung sehr teurer und dabei nur begrenzt nützlicher Therapien mit dem Alter der Patientinnen und Patienten zu verknüpfen, setzt damit an einer der wesentlichen Ursachen des jeweils typisch ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses an. Eine Beschränkung kostspieliger Massnahmen anhand des chronologischen Lebensalters der Leistungsempfänger hat vor allem aber den Vorteil, dass es sich dabei um eine Grösse handelt, die unkompliziert verfügbar ist, die eindeutig und ohne Interpretationsprobleme ermittelt werden kann und dabei ohne Ausnahme und Sonderumstände jeden Menschen gleichermassen betrifft. Ausserdem handelt es sich bei dem Erreichen einer bestimmten Altersgrenze um ein Ereignis, das für jeden und jede klar absehbar und präzise kalkulierbar ist. Somit wären optimale Bedingungen für die Planung des individuellen Umgangs mit einer solchen Regelung gegeben (etwa durch eine private Zusatzabsicherung). Auf der anderen Seite dieser Vorteile werden aber schwerwiegende Bedenken laut, die die Einführung einer Altersgrenze zur Rationierung solidarisch erbrachter Gesundheitsleistungen als Grundwiderspruch zur Kernidee gesellschaftlicher Solidarität sehen und altersrationierende Regelungen als schlicht altersdiskriminierend kritisieren. Doch lässt sich demgegenüber auch die Frage stellen, worin der Grundgedanke einer generationenübergreifenden Solidarität angesichts der demografischen Herausforderung heutiger Bevölkerungsentwicklung liegt. Eine Interpretation orientiert sich am Modell einer klassischen Lebens- oder Rentenversicherung, bei dem man in finanzstärkeren und bedarfsfreien Zeiten einzahlt, um zu einem späteren Zeitpunkt, an dem man auf Unterstützung angewiesen ist, aber nicht mehr beitragen kann, von dem angesparten Kapital zu profitieren. Demnach bilden die durch die arbeit-
22 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2016
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
nehmende Bevölkerung entrichteten Pflichtbeiträge zur Krankenversicherung die Grundlage für die Bereitstellung und Finanzierung medizinischer Leistungen, auf die unter anderem die ältere Generation, die nicht mehr selbst zum System beiträgt, angewiesen ist. Die Funktionalität dieses Systems beruht auf der Konstanz und Stabilität der demografischen Verhältnisse – es ist erforderlich, dass die Grössenordnung der nachwachsenden Beitragszahler stets etwa derjenigen der Empfänger entspricht (sofern eine unbegrenzte Beitragserhöhung vermieden werden soll bzw. nicht realistisch ist). Nun folgt die Altersentwicklung der westlichen Industriestaaten allerdings schon seit Jahren einem eindeutigen Trend in Richtung der sogenannten «Überalterung» oder «Unterjüngung», womit ausgedrückt wird, dass aufgrund sinkender Geburtenzahlen bei gleichzeitig ansteigender Lebenserwartung das Durchschnittsalter beständig ansteigt, was auch zur Folge hat, dass in Zukunft immer weniger jüngere Menschen die Umlagefinanzierung für immer mehr ältere Menschen leisten werden müssen.
Die Idee generationenübergreifender Solidarität schliesst
Altersgrenzen nicht aus.
Somit liesse sich der Eindruck entkräften, der auf den ersten Blick die Einführung einer Altersgrenze zur Leistungsdeckelung mit der Diskriminierung des Alters oder gar alter Menschen verbindet. Vielmehr könnte eine solche Regelung als Versuch verstanden werden, sowohl die demografische Entwicklung als auch den Gedanken generationenübergreifender Solidarität ernst zu nehmen, indem einer sich abzeichnenden Schieflage entgegengesteuert würde und so im Interesse der jetzt jungen Generation dieser eine annähernd gleichwertige Grundversorgung im Alter ermöglicht würde. Betrachtet man die gerechtigkeitstheoretische Herausforderung, die sich aus einer älter werdenden Bevölkerung bei anhaltendem medizinisch-technischem Fortschritt ergibt, aus dieser Perspektive generationenübergreifender Solidarität und Vorsorge, erscheint eine kalendarische Altersgrenze als Kriterium für die Rationierung kostspieliger medizinischer Leistungen sinnvoll und vertretbar.
Altersgrenzen: nur ein Kriterium neben anderen
Allerdings muss auch eine Schwachstelle dieses An-
satzes erwähnt werden, und diese Erkenntnis ver-
dankt sich zu erheblichem Teil den grossen Erfolgen
bei der Ausdehnung der gesunden Lebensspanne.
Der schlagende Vorteil, den eine Altersgrenze bean-
sprucht, welcher darin liegt, durch ihren Bezug einzig
auf die chronologische Lebensspanne sämtliche me-
dizinisch nicht relevanten Faktoren wie sozialen
Status, Geld oder Herkunft auszublenden und damit
einer Idee höherer Gerechtigkeit zu folgen, ist im
medizinischen Kontext sehr fragwürdig. So gehört es
mittlerweile zum gerontologischen Grundwissen,
dass das Alter des Menschen eine höchst plastische
und diverse Angelegenheit darstellt. Jeder Mensch
altert anders, bei jeder Person machen sich alters-
bedingte körperliche und geistige Veränderungen in
höchst unterschiedlichem Umfang, Schwere und
Tempo bemerkbar. Zwei Individuen, die (chronolo-
gisch) gleich alt sind, können somit weit auseinan-
derliegen, was ihr biologisches Alter, also ihren
tatsächlichen gesundheitlichen Zustand, angeht. Ge-
rade bei gewissenhaften Abwägungen zwischen Kos-
ten und Nutzen kostspieliger medizinischer Interven-
tionen mit nicht unerheblichen Nebenwirkungen und
ungewissen Erfolgswahrscheinlichkeiten muss eines
der obersten Gebote lauten, dem individuellen Ein-
zelfall möglichst gut zu entsprechen. Eine nackte
Zahl, die schlicht verstrichene Lebensjahre quantifi-
ziert, kann dies sicher nicht leisten.
Doch auch wenn das chronologische Alter allein nur
bedingt brauchbar ist bei der Einschätzung von Er-
folg, Aussichten und Angemessenheit einer Thera-
pie, so ist es doch ein Faktor, der neben anderen zur
Bewältigung der gerechtigkeitstheoretischen Her-
ausforderungen herangezogen werden kann. Eine
Altersgrenze mit dem Hinweis auf ihre diskriminie-
rende Bedeutung und Wirkung abzulehnen, scheint
einem verengten Blick geschuldet und wenig über-
zeugend.
L
Dr. phil. Tobias Eichinger Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte Universität Zürich Winterthurerstrasse 30 8006 Zürich E-Mail: eichinger@ibme.uzh.ch
Literatur beim Verfasser. Interessenkonflikte: keine.
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2016
23