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Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Screeningtest oder geriatrisches Assessment in der Onkologie?
Eine Bewertung beider Instrumente für die Praxis
In der Behandlung betagter Tumorpatienten wird empfohlen, neben einem Tumorassessment ein Patientenassessment durchzuführen, um strukturiert ihre individuellen gesundheitlichen Ressourcen und Defizite zu erfassen. Neben dem vollständigen geriatrischen Assessment besteht – aus zeitlichen Gründen – grosses Interesse an kurzen Screeningtests. Dieser Artikel beleuchtet Hintergründe, Studienresultate und internationale Empfehlungen für die Praxis.
FRIEDEMANN HONECKER
SZO 2015; 2: 6–8.
Friedemann Honecker
Der demografische Wandel führt zu einer Zunahme der Zahl älterer Tumorpatienten. Da Altern ein heterogen verlaufender Prozess ist, gilt es, möglichst strukturiert die individuellen Ressourcen und Defizite eines Patienten zu erfassen. Die Geriatrische Onkologie nimmt sich innerhalb der Onkologie unter anderem der Frage an, inwieweit dafür etablierte Instrumente und Konzepte der Geriatrie übernommen werden können. Dies betrifft sowohl das geriatrische Assessment (CGA: «comprehensive geriatric assessment») als auch das Konzept der «Gebrechlichkeit» (englisch: «frailty») (1). Gebrechlichkeit wird definiert durch eine eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit und progredienten körperlichen Verfall. «Verletzlichkeit» («vulnerability») hingegen beschreibt eine eingeschränkte Kompensationsfähigkeit bei Stresseinwirkung. Erweitert umfasst das Konzept des geriatrischen Assessments neben körperlichen Faktoren auch psychosoziale und funktionale Faktoren (2). Der Ansatz, einen
ABSTRACT
Screening tools versus a comprehensive geriatric assessment in oncology
Aging is a heterogeneous process. This calls for both an assessment of the tumor and of a patient’s individual resources and deficits. Besides a full comprehensive geriatric assessment, a short geriatric screening, followed by further work-up if needed, has been introduced as an attempt to reduce the number of patients in need for a complete assessment. A recent systematic review of the International Society of Geriatric Oncology (SIOG) recommends the use of a screening test in elderly cancer patients, but points out that the data do not support replacing a complete assessment by this screening approach so far. The multiple purposes of a short geriatric screening include an evaluation of the necessity of a full comprehensive assessment, an estimation of the ability for self-care, and risk assessment regarding excess treatment related toxicity, as well as early mortality.
Keywords: geriatric assessment, geriatric screening, geriatric oncology, frailty, G8
Patienten bezüglich Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit zu beurteilen, hilft, gegebenenfalls korrigierbare Einschränkungen zu detektieren. Es ist allerdings kritisch anzumerken, dass es bisher keine allgemein akzeptierte Definition von Gebrechlichkeit in der Geriatrischen Onkologie gibt. So überrascht es wenig, dass die Prävalenz von «Gebrechlichkeit» von in Studien untersuchten älteren Tumorpatienten eine grosse Streubreite aufzeigt (3).
Screening und geriatrisches Assessment (CGA) im Vergleich
Ein Screening dient dazu, aus einer Grundgesamtheit diejenigen Individuen zu identifizieren, die bestimmte Merkmale aufweisen – in der Geriatrischen Onkologie betrifft dies meist Patienten mit Einschränkungen im CGA. Ein solches Vorgehen soll den Aufwand in der Abklärung reduzieren, da zwar bei allen Patienten eine Screeninguntersuchung durchzuführen ist, nicht aber bei allen ein vollständiges CGA. Zeitlich bedeutet dies statt eines CGA von 30 bis 45 Minuten ein verkürztes Screening mit 5 bis 10 Minuten Zeitaufwand. In einem ersten Schritt sollen die Patienten identifiziert werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Einschränkungen aufweisen. Um ein Screening sinnvoll einsetzen zu können, muss zum einen ein ausreichend hoher Anteil von Patienten, die keine Einschränkungen im CGA aufweisen, erwartet werden, zum anderen muss das Screening eine ausreichende Sensitivität besitzen. Ein Screening wird aber auch zunehmend zur Abschätzung der Verträglichkeit einer Therapie sowie prognostisch zur Einschätzung der Morbidität und Mortalität eingesetzt. Hierbei handelt es sich dann um ein verkürztes Testverfahren und nicht mehr um ein Screening im eigentlichen Sinne.
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Im Fokus: Geriatrische Onkologie
In einem zweistufigen Vorgehen (zuerst Screening, dann ggf. ein CGA) kommt einer hohen Sensitivität Priorität zu, damit sichergestellt ist, dass gebrechliche Patienten auch als solche erkannt werden. Eine hohe Spezifität bedeutet hingegen optimalen Einsatz von Ressourcen, da dann nicht zu viele nicht gebrechliche Patienten ein volles Assessment erhalten. Allerdings hängen sowohl der positive prädiktive Wert als auch der negative prädiktive Wert nicht allein von der gewählten Screeningmethode, sondern auch von der Prävalenz der Gebrechlichkeit ab (4). Aus klinisch-praktischen Erwägungen kann der derzeitige Ansatz hinterfragt werden, nämlich: Muss einem positiven Screening immer ein volles CGA folgen? Alternativ zu einem zweistufigen Vorgehen ist nämlich auch ein Vorgehen denkbar, bei dem ein positives Screening ein vertieftes Testen ausschliesslich im Bereich des untersuchten Screenings (also z.B. ADL/ IADL, Mobilität oder Kognition) auslösen würde.
Studienresultate Kürzlich wurden in einer Übersichtsarbeit Studien in der Onkologie, die ein Screening auf Gebrechlichkeit mit einem vollen CGA verglichen haben, zusammengetragen und bewertet (5). Über alle Studien hinweg wurden anhand des CGA zwei Drittel der Eingeschlossenen als gebrechlich eingestuft, allerdings mit einem sehr weiten Konfidenzintervall von 28 bis 94%. Manche Untersuchungen hatten als cut-off für Gebrechlichkeit das «Vorliegen einer Einschränkung in Aktivitäten des täglichen Lebens» definiert (4 von 14 Studien), bei anderen lag der cut-off bei ≥ 2 Einschränkungen (8 von 14 Studien). Es wurden 7 verschiedene Screeningtests für Gebrechlichkeit untersucht (5). Eine neuere Arbeit der SIOG, der internationalen Gesellschaft für Geriatrische Onkologie, beschreibt 22 Vergleichsstudien zwischen einem Screening und einem CGA (6). 5 der Screeningtests waren speziell für eine Population älterer Tumorpatienten entwickelt worden. Erwartungsgemäss zeigten Screeninginstrumente eingeschränkte Sensitivität und Spezifität gegenüber einem CGA, der sogenannte VES-13-Test zum Beispiel eine Sensitivität von 68% und eine Spezifität von 78%, beim G8-Test waren es hingegen 87% und 61% (5). Das G8-Screening erwies sich auch in einer weiteren Untersuchung mit einer Sensitivität von 85% und einer Spezifität von 65% als robustes Instrument und scheint somit eine akzeptable Genauigkeit zu besitzen (7). Tabelle 1 listet gängige Screeningtests auf.
Aktuelle Empfehlungen zum Screening der Fachgruppen EORTC und SIOG
Die European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) hat kürzlich für Studien das G8-Screening als obligat für alle Patienten festge-
Tabelle 1:
Screeningtests
G8-Screening-Fragebogen «Triage-Risk-Screening-Tool» «Vulnerable-Elders-Survey-13» «Fried-frailty-criteria» «Abbreviated-comprehensive geriatric-assessment» «Groningen-Frailty-Index»
Abkürzung G8 TRST VES-13 Fried-Criteria aCGA
GFI
legt, die 70 Jahre und älter sind. Das soll ermöglichen, über diejenigen älteren Patienten, die in klinische Studien eingeschlossen wurden, besser Auskunft geben zu können, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, inwieweit die rekrutierten Patienten tatsächlich den älteren Patienten der Allgemeinbevölkerung mit der gleichen Erkrankung entsprechen. Auch die SIOG gibt in einem aktuellen Positionspapier Empfehlungen zum Einsatz eines Screenings ab (6). Ziel des Instruments soll vornehmlich sein, die Notwendigkeit weiterer, ausführlicher Testung mittels eines CGA zu eruieren. Es wird aber explizit angemerkt, dass ein Screening auch ohne ein nachgeschaltetes CGA Informationen bezüglich klinischer Endpunkte wie Toxizität, Frühmortalität und Therapierbarkeit liefern kann. So gibt es bereits einige Untersuchungen, die zeigen, dass verschiedene Screeningtests Korrelationen mit klinischen Endpunkten wie funktionelle Verschlechterung, Toxizität und Gesamtüberleben aufweisen (8).
Vorteile des Screenings Das bedeutet, dass das Screening neben seiner Funktion als vorgeschalteter Test zu einem CGA auch einen eigenen, unabhängigen prognostischen Stellenwert hinsichtlich klinischer Endpunkte aufweisen könnte. In Situationen, in denen aufgrund von mangelnden Ressourcen (Zeit, Personal) ein vollumfängliches CGA nicht durchführbar ist, kann das Screening helfen, diejenigen Patienten zu identifizieren, die einem ausführlicheren Assessment zugeführt werden sollten. Der G8-Test ist nicht nur für Patienten mit soliden Tumoren, sondern auch für Patienten mit hämatologischen Erkrankungen geeignet (9). Der G8-Screening-Fragebogen ist in Tabelle 2 zu finden. In speziellen klinischen Situationen, zum Beispiel bei Studien mit unterschiedlichen Tumorentitäten, können möglicherweise unterschiedliche Screeningtests sinnvoll sein (was noch weiter analysiert werden muss). So werden Empfehlungen zum Einsatz eines Screenings nach und nach auch in klinische Algorithmen implementiert. Aktuelles Beispiel sind Empfehlungen der SIOG zur Diagnostik und Therapie älterer Prostatakarzinompatienten, welche das G8-Screening zur Stratifizierung von Patienten integriert haben (10).
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Literatur (7) (11) (12) (11) (13) (14)
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Tabelle 2:
G8-Screening-Fragebogen
G8-Screening-Test Fragen A Hat die Nahrungsaufnahme in den letzten 3 Monaten aufgrund von Appetitverlust, Verdauungsproblemen, Kau- oder Schluckproblemen abgenommen? B Gewichtsverlust in den letzten 3 Monaten?
C Mobilität?
E Neuropsychologische Probleme?
F Body-Mass-Index (Gewicht in kg/Grösse in m2)
H Nimmt > 3 Medikamente/Tag ein P Verglichen mit Gleichaltrigen, wie schätzt
der Patient seinen Zustand ein?
Alter
Total Score (0–17)
Mögliche Antworten 0: Schwere Einschränkung der Nahrungsaufnahme 1: Mässige Einschränkung der Nahrungsaufnahme 2: Normale Nahrungsaufnahme
0: Gewichtsverlust > 3 kg 1: Unbekannt 2: Gewichtsverlust zwischen 1 und 3 kg 3: Kein Gewichtsverlust 0: Bett oder Stuhl 1: Kann aus Bett/Stuhl aufstehen, aber geht nicht
nach draussen 2: Geht nach draussen 0: Schwere Demenz oder Depression 1: Milde Demenz oder Depression 2: Keine psychologischen Probleme 0: BMI < 19 1: BMI 19 bis 21 2: BMI 21 bis < 23 3: BMI ≥ 23 0: Ja 1: Nein 0: Nicht so gut 0,5: Weiss nicht 1: Gleich gut 2: Besser 0: > 85 1: 80–85 2: < 80
Total Score: Gesamtsumme der erreichten Punkte; cut-off: ≤ 14 Punkte = auffälliges Screening
Score
Fazit für die Praxis
Fehlen Zeit und Ressourcen, um ein vollumfängliches
CGA durchzuführen, so ist ein Screening ein mögli-
cher Weg, strukturiert die Defizite eines älteren Pati-
enten abzubilden. Ein geeignetes Screeninginstru-
ment mit einem günstigen Verhältnis von Sensitivität
und Spezifität scheint das G8-Screening zu sein. Ab
einem Wert von 14 Punkten oder weniger sollte eine
weitere Evaluation des Patienten, zum Beispiel mit-
hilfe eines vollständigen CGA, erfolgen. Erste Thera-
piealgorithmen empfehlen den G8-Screening-Frage-
bogen zur Stratifizierung von Patienten vor einer
Therapieentscheidung.
L
PD Dr. Dr. med. Friedemann Honecker (Korrespondenzadresse) Tumor- und Brustzentrum ZeTuP Rorschacher Str. 150 9006 St. Gallen E-Mail: friedemann.honecker@zetup.ch
Merkpunkte
L Ein vollumfängliches geriatrisches Assessment
(CGA) benötigt einen Zeitaufwand von mindestens 20 Minuten, ein Screeningtest hingegen 5 bis 10 Minuten.
L Nachteilig ist, dass es bisher keine einheitliche Defi-
nition für «Gebrechlichkeit» («frailty») bei älteren Tumorpatienten gibt.
L Derzeit wird bezüglich des Assessments noch ein
zweistufiges Vorgehen empfohlen: Einem positiven Screening sollte ein vollumfängliches Assessment folgen.
L Erste Daten legen eine prognostische Wertigkeit
eines Screenings unabhängig von einem CGA hinsichtlich klinischer Endpunkte wie Toxizität, Therapiefähigkeit und Frühmortalität bei älteren Tumorpatienten nahe.
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Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Quellen:
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3. Handforth C et al.: The prevalence and outcomes of frailty in older cancer patients: a systematic review. Ann Oncol, 2014; 107(1): 336. doi: 10.1093/jnci/dju336.
4. Mathoulin-Pelissier S et al.: Screening methods for geriatric frailty. Lancet Oncol, 2013; 14(1): e1–2.
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