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EDITORIAL
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Die Lebenserwartung in Europa ist so hoch wie noch nie in seiner Geschichte. Und sie steigt kontinuierlich – in der Schweiz, dem Land mit der höchsten Lebenserwartung innerhalb der OECDLänder, liegt sie sogar bei über 82 Jahren. Die grösste Zuwachsrate hat dabei die Gruppe der Hochbetagten. Damit steigt auch die Häufigkeit von Krebserkrankungen. Schon heute beträgt das mediane Alter bei Diagnose einer Krebserkrankung über alle Diagnosen hinweg zirka 67 Jahre, Tendenz steigend. Viele gute Gründe also, sich mit Krebserkrankungen bei betagten Menschen zu beschäftigen.
Alle haben Erwartungen an eine Therapie Aber wünschen betagte krebskranke Menschen überhaupt eine Behandlung? Haben sie sich nicht schon
Krebserkrankungen bei betagten Menschen
längst mit dem Sterben abgefunden? Mitnichten! Es gibt gute Hinweise dafür, dass Menschen im Alter durchaus ähnliche Erwartungen und Hoffnungen an eine Krebstherapie haben wie jüngere Menschen. Die Betreuung betagter krebskranker Menschen stellt jedoch eine besondere Herausforderung für alle in der Onkologie Tätigen dar. Es ist nicht die besondere Biologie der Tumoren – vielmehr sind es die ganz besonderen Bedürfnisse betagter Menschen, die im klinischen Alltag beachtet werden müssen. Menschen werden ja nicht einfach nur alt. Gelebtes Leben hinterlässt Spuren. Eingeschränkte Organfunktionen und eine dadurch veränderte Pharmakologie müssen ebenso berücksichtigt werden wie die fast regelhaft vorliegenden und zum Teil erheblichen Komorbiditäten. Krebs ist selten der einzige und gelegentlich nicht einmal der schlimmste Akteur auf der Bühne des Lebens. Die Unterscheidung zwischen kalendarischem und biologischem Alter ist allen geläufig – und dennoch ist die fehlende Berücksichtigung dieser Tatsache bei der Dosierung, der Planung des Therapieintervalls und der supportiven Therapie einer der häufigsten Fehler in der medikamentösen Tumorbehandlung, aber auch im Bereich der Strahlentherapie oder bei der Entscheidung zur Durchführung operativer Eingriffe.
Geriatrisches Assessment in Entscheidungsprozesse integrieren Das Umfeld des betagten krebskranken Menschen muss berücksichtigt werden. Kann dieses die zusätzli-
che Belastung einer Krebserkrankung und deren Behandlung tragen? War ein Mensch bisher noch zu einem selbstständigen Leben in der Lage, wird die Schwelle zur Abhängigkeit mit der Diagnose einer Krebserkrankung schnell erreicht. «Don’t push me ‘cause I am close to the edge» lautet die Textzeile eines der bekanntesten Rap-Songs aus den Achtzigerjahren – die nahezu perfekte Beschreibung des Konzeptes der «Frailty», der Gebrechlichkeit betagter Menschen, welcher wir häufig nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Viele der komplexen Beurteilungen und Entscheidungsprozesse bei der Betreuung betagter Menschen finden heute noch weitgehend empirisch statt. Dennoch existieren klare Hinweise, dass ein formales «geriatrisches Assessment» helfen kann, die Versorgung betagter Menschen zu verbessern. Die Herausforderung wird sein, den hierfür erforderlichen Zeitaufwand im klinischen Alltag frei zu machen. Die geriatrische Onkologie ist noch immer nicht im Fokus vieler onkologisch Tätigen angekommen und gilt – unberechtigt – nicht gerade als Karrieredisziplin unseres Fachgebiets. Aber wir sollten uns sputen, das zu ändern, um den Bedürfnissen einer alternden Gesellschaft und eines wachsenden Patientenkollektivs gerecht zu werden.
Prof. Dr. med. Jörg Beyer Leitender Arzt, Klinik für Onkologie Universitätsspital Zürich
Literaturhinweise: OECD (2014), Society at a Glance 2014: OECD Social Indicators, OECD Publishing. http://dx.doi.org/10.1787/soc_glance-2014-en. Andrew Clegg et al. Frailty in elderly people. Lancet. 2013; 381: 752–762. http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(12)62167-9.
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 2/2015
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