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Forum Ethik in der Onkologie
Sterbekultur im Akutspital
Ethische Reflexionen zur Situation Sterbender und ihrer Angehörigen im Spannungsfeld der Kultur des Machens – ars faciendi – und der Kultur des Entlassens – ars dimittendi – im Spiegel: Der folgende Beitrag reflektiert die diesbezüglichen Spannungsfelder in unserem Spitalsystem. Ruth Baumann-Hölzle, Anja Huber
Ruth Baumann-Hölzle
Anja Huber
Sterben heute und der Handlungsauftrag der Spitäler
Früher starben die Menschen meist überraschend, rasch, schmerzvoll und zu Hause. Heute sterben nur noch gerade 10% der Menschen unerwartet. Der Tod kann gegenüber früher in vielen Situationen vermieden werden: Lange können die Schmerzen gelindert und der Tod verzögert werden. Doch je länger man versucht, den Tod hinauszuschieben, desto multimorbider werden dabei die Menschen. Dem Sterben gehen heute deshalb oft lange Phasen der Pflegebedürftigkeit voraus. Der Sterbeprozess selbst ist somit länger
Dem Sterben gehen heute oft lange Phasen der Pflege-
bedürftigkeit voraus. Der Sterbeprozess selbst ist somit länger geworden.
geworden. Sterbende Menschen werden möglichst aus dem Akutspital entlassen und von anderen Organisationen übernommen. Im Zuge dieser Entwicklung reduziert sich der Handlungsauftrag des Akutspitals zunehmend auf die Vermeidung des Todes und die Wiederherstellung der Organfunktionen. Entsprechend werden manche Kliniken organspezifisch aufgeteilt. Tritt der Tod im Spital trotzdem ein, wird er oft als Niederlage empfunden. Bezeichnend hierfür ist, dass versucht wurde, die Qualität der Spitäler an der Sterberate zu messen.
Die Folgen der Spezialisierung
Der medizinische Fortschritt ist ein Hauptgrund für die zeitliche Verlängerung der Phase der Pflegebedürftigkeit und des Sterbens. Die Entwicklung von neuen Therapiemöglichkeiten in Medizin und Pflege verlangt heute spezialisiertes Expertenwissen. Die enormen Anforderungen an die Fachleute führen zusammen mit der zeitlichen Ausdehnung der Pflegebedürftigkeit und des Sterbens auch zur spezialisierten Betreuung der Sterbenden. Behandlungs- und Betreuungspersonen gruppieren sich in diejenigen, die sich um die Wiederherstellung von Organfunktionen bei den Patientinnen und Patienten kümmern, und in diejenigen, die vorwiegend mit pflegebedürftigen und sterbenden Menschen arbeiten. Dies hat auch organisatorische Auswirkungen: Der hauptsächliche Sterbeort verschiebt sich zunehmend vom Spital in Alters- und Pflegeheime. Langzeitpflege gehört schon lange nicht mehr zum Handlungsauftrag des Spitals. Ist der Tod kurzfristig absehbar und zu wenig Zeit für eine Entlassung, oder ist eine Entlassung aufgrund des Krankheitszustandes des Patienten nicht mehr möglich, werden die Sterbenden entweder auf die PalliativeCare-Abteilung verlegt oder vom Palliative-Care-Team übernommen.
Die Problematik «Kontrolle über den Tod»
Durch diese Spezialisierung «entschwinden» die Menschen als Pflegebedürftige, Leidende und Sterbende
immer mehr aus dem Blick vieler der im Akutspital tätigen Fachpersonen. Je mehr Behandlungen ambulant ausgeführt werden und je kürzer die Aufenthaltsdauer der Menschen im Spital ist, umso weniger stehen die Menschen im Spital länger dauernden Phasen der Pflegebedürftigkeit und des Sterbens gegenüber. Die Behandelnden werden dadurch immer weniger mit den Grenzen ihrer Machbarkeit konfrontiert. Diese Entwicklung tabuisiert zunehmend die Unvermeidbarkeit des Sterbens und lässt die Illusion der absoluten Kontrolle über Gesundheit, Krankheit und Tod entstehen. Diese Illusion verführt dazu, dass bei Menschen, die in absehbarer Zeit sterben werden, noch viel gemacht, diagnostiziert und therapiert wird. Oft auch, weil die Angehörigen das naheliegende Sterben des Patienten nicht wahrhaben wollen und auch sie sich von dieser Kontrollillusion leiten lassen. Die Sterbenden und direkt betreuenden Pflegenden am Sterbebett zahlen dabei oft einen hohen Leidenspreis in Spitalabteilungen, in denen niemand sterben «darf». Es dauert oft sehr lange, bis entschieden wird, auf lebenserhaltende Massnahmen zu verzichten und den Tod zuzulassen. Diese Kunst der ars dimittendi, das heisst die Kunst, den richtigen Augenblick für das Entlassen des Sterbenden aus dem Leben zu finden, ist im Akutspital mit seiner einseitigen Orientierung am medizinisch Machbaren wenig entwickelt: Es fehlt oft an den unterstützenden Entscheidungsfindungsstrukturen.
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Die Problematik Fremdinteressen
Die Orientierung an der Machbarkeit bei der Behandlung und Betreuung der Sterbenden im Akutspital wird zusätzlich durch zahlreiche Fremdinteressen verstärkt, beispielsweise Standortinteressen des Spitals, die Notwendigkeit, genügend hohe Fallzahlen zu generieren, persönliche Karriereinteressen oder auch Interessen durch das finanzielle Anreizsystem. Im Gegensatz zu lebenserhaltenden Massnahmen und diagnostischen Untersuchungen werden das Aushalten am Sterbebett und die Gespräche mit den Angehörigen finanziell kaum abgegolten. Hinzu kommt ein beträchtlicher gesellschaftlicher Effizienz- und Kostendruck auf das Akutspital. Dies verändert die Identität des Spitals grundsätzlich.
Die Folgen der «Industrialisierung» des Spitals
Im Kontext einer einseitig auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Gesellschaft werden Behandlungs- und Betreuungsleistungen zunehmend als verkäufliche Produkte wahrgenommen. Dabei sollen diese Produkte möglichst effizient und kostensparend produziert werden. Das Spital wird dabei zum industriellen Produktionsbetrieb umgestaltet. Ein Rückblick: Die diagnosebezogenen Fallgruppen – die «DRG» – haben ihren Ursprung in der Porsche-Herstellung. Dieser Produktionsprozess der Autoin-
Während die Behandlung bei «einfachen» Krankheiten und Funktionseinschränkun-
gen gut geplant werden kann, lässt sich diejenige von multimorbiden oder sterbenden Menschen nur sehr
beschränkt planen.
dustrie geht auf den Ansatz des «scientific management» von Taylor im Jahr 1911 zurück und entstand in der Epoche des «economic man» zwischen 1900 bis 1930 im Zuge der Industriali-
sierung. In der Zerlegung der Arbeit in möglichst kleine Schritte, der Massenproduktion und der Suche nach stetigen Optimierungsmöglichkeiten sah Taylor den Weg zur Produktivitätssteigerung. Entsprechend auf die Medizin bezogen, bedeutet dieser Prozess, dass heute immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit behandelt werden können. Von diesen organisationalen Umwälzungen ist die sterbende Patientin/der sterbende Patient im Akutspital existenziell betroffen. Während die Behandlung bei «einfachen» Krankheiten und Funktionseinschränkungen gut geplant werden kann, lässt sich diejenige von multimorbiden oder sterbenden Menschen nur sehr beschränkt planen. Denn Patienten und ihre Angehörigen haben Bedürfnisse, die sich einer effizienten Behandlungs- und Betreuungsweise widersetzen. Nimmt man diese Bedürfnisse während des Abschiedsund Sterbeprozesses ernst, so sind die Sterbenden und ihre Angehörigen für ein kostenorientiertes Akutspital «Sand im Getriebe». Neben den Prozessen und Ressourcen rund um die Sterbenden werden auch die Arbeitsinhalte nach ökonomischen Gesichtspunkten optimiert. Dadurch geraten vor allem die Behandelnden und Betreuenden von Sterbenden im Akutspital in ein Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen des Akutspitals einerseits und den Bedürfnissen der Sterbenden und ihren Angehörigen andererseits. Die einseitige Belastung durch standardisierte Arbeitsprozesse hat Überlastungen, Fehlbeanspruchungen und Unzufriedenheit der Arbeitnehmenden zur Folge ebenso wie die psychische Entfremdung der Arbeit. Diese Auswirkungen führen zu innerer Kündigung und Fluktuation. Entsprechend hoch sind die Fluktuationsraten in den Akutspitälern.
Die «ars dimittendi»
Im Akutspital werden Menschen weiterhin sterben. Die Grenzziehung zwischen dem vermeidbaren und unvermeidbaren Sterben ist dabei oft ein komplexer ethischer Entscheidungsfin-
dungsprozess, bei dem die Patientensituation aus verschiedenen Perspektiven umfassend geklärt und die Argumente im Rahmen von unterschiedlichen Wertvorstellungen geprüft werden. Je spezialisierter die Professionen und das Akutspital als Organisation werden, umso mehr Zeit und Raum braucht es für den multiprofessionellen und multiorganisationalen Austausch über die Situation des Patienten und seiner Angehörigen. Es ist eine immense Herausforderung für die im Akutspital tätigen Menschen mit ei-
Ein Akutspital ist nur dann ein Ort des guten Lebens und des guten Sterbens, wenn nicht nur die Kunst des Machens, die ars faciendi, sondern auch die Kunst des Entlassens des Patienten in den Tod, die ars dimittendi, kultiviert und gelebt wird.
ner einseitigen Orientierung an der Machbarkeit, auch die Grenzen dieser Machbarkeit anzuerkennen und das Sterben zuzulassen. Ein Akutspital ist nur dann ein Ort des guten Lebens und des guten Sterbens, wenn nicht nur die Kunst des Machens – die ars faciendi –, sondern auch die Kunst des Entlassens des Patienten in den Tod, die ars dimittendi, kultiviert und gelebt wird. L
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle Institutsleiterin Dialog Ethik E-Mail: rbaumann@dialog-ethik.ch
Anja Huber, lic. phil./Psychologin FSP Stabsstelle der Institutsleitung/ Leitung Kommunikation E-Mail: ahuber@dialog-ethik.ch
Dialog Ethik Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Schaffhauserstrasse 418 8050 Zürich Internet: www.dialog-ethik.ch
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