Transkript
Prisma
Qualitätsinitiative
«Smarter medicine» im Kreuzfeuer
«Choosing wisely», auch «smarter medicine» genannt, ist eine Qualitätsinitiative aus den USA, die sich in immer mehr Ländern verbreitet. Nach dem Motto «Weniger ist mehr» veröffentlichen Ärztegesellschaften, in der Schweiz aktuell die Schweizer Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM), Listen mit Abklärungen und Therapien, die häufig durchgeführt werden, aber nachweislich keinen Nutzen bringen und teilweise den Patienten sogar schaden. Unter Schweizer Wissenschaftsjournalisten und führenden Vertretern der Gesundheitswesens wurde das Thema kürzlich aus verschiedenen Blickwinkeln reflektiert.
Die SGIM als Pionierin in der Schweiz: Im Mai 2014 veröffentlichte sie eine Liste mit fünf gängigen Interventionen, die «Top 5» (s. Kasten), die im Rahmen der Grundversorgung im genannten Sinn vermieden werden sollten. Prof. Jean-Michel Gaspoz, Präsident der SGIM und Chefarzt der Abteilung Allgemeinmedizin und Notfallmedizin am Universitätsspital Genf, erläuterte die Studienlage für diese Entscheidungen sowie Schwierigkeiten, auf die die Befürworter in der Schweiz stossen. Die allgemeine Akzeptanz der Empfehlungen ist laut Gaspoz durch regionale und kulturelle Unterschiede in der Schweiz markant limitiert, insbesondere bei den Grundversorgern. Er erwartet dennoch Veränderungen durch die Kampagne der SGIM.
«Auch die Fachgesellschaften sind gefordert» Oliver Peter, Vizedirektor des BAG, sprach den ausgeprägten Kostenanstieg der letzten zehn Jahre an, der vor allem durch Steigerung der Preise und fehlende Strategien zur Qualitätssicherung im ambulanten Versorgungsbereich entstehe. Er erwartet aber, dass die Initiative «smarter medicine» Patienten und Ärzte verstärkt für Veränderungsprozesse sensibilisiert und ein Bewusstsein für Fehlverhalten durch vermehrten Kompetenzerwerb weckt. «Es ist einfacher, viel zu
tun – und es braucht mehr Kompetenz, Massnahmen wegzulassen», so Peters. Andererseits dürfte nicht allein der Kostenaspekt gesehen werden, es seien auch Unterversorgungen zu erkennen und anzugehen. Untersuchungen des BAG der letzten Jahre zeigten beispielsweise, dass Notfallaufnahmen von geriatrischen Patienten zunehmen und deutlich wachsende Kosten verursachen. Statt junge Assistenzärzte in Wochenenddiensten mit diesen schweren Aufgaben überwiegend allein zu lassen, sei eine geriatrische Expertise für Notfallabklärungen in der Aus- und Fortbildung zu fordern. «Es ist zentral, dass Fachgesellschaften auch solche strukturellen Probleme finden und lösen.» Peter meinte, dass weitere Massnahmen seitens der Gesundheitspolitik folgen müssten, damit die Initiative Erfolg habe.
«Der Patient muss im Mittelpunkt stehen» Erika Ziltener, Präsidentin des Dachverbandes der Schweizerischen Patientenstellen, stellte die Patientinnen und Patienten in den Blickpunkt. Der Verband erhält immer häufiger Meldungen von Zwischenfällen bei ärztlichen Eingriffen, die zu Schädigungen geführt haben; die Hälfte wäre nach Untersuchungen vermeidbar gewesen. «Die Behandlungsqualität misst sich am Nutzen einer Behandlung für die Patienten und Patientinnen und an deren Lebensqualität», betonte Ziltener. Die Kernfrage für die Patienten sei: Wie ist das Resultat bezüglich der Erwartung im Aufklärungsgespräch? Durch Sparen und Rationieren im Gesundheitswesen sieht sie das PatientenArzt-Vertrauensverhältnis in Gefahr. Gerade bei umstrittenen Themen wie dem systematischen Mammografiescreening sei eine verstärkte Qualitätssicherung dringend gefordert. Entsprechend muss die Frage im Mittelpunkt stehen: Welche Informationen braucht die Patientin, um sich entscheiden zu können? Die Ausarbeitung von aktualisierten Merkblättern sei ganz zentral.
«Top-5-Liste» der SGIM
Folgende Interventionen sollten nach Empfehlungen im Kontext der Allgemeinen Inneren Medizin (Grundversorgung) vermieden werden:
L Durchführen einer bildgebenden Dia-
gnostik in den ersten sechs Wochen bei Patienten mit unspezifischen Lumbalgien
L Messung des Prostata-spezifischen An-
tigens (PSA) zwecks Prostatakrebsscreening ohne eine Diskussion von Risiko und Nutzen
L Verschreiben von Antibiotika gegen un-
komplizierte Infekte der oberen Luftwege
L Durchführen eines präoperativen
Thorax-Röntgenbildes, ausser bei Verdacht auf eine intrathorakale Pathologie
L Weiterführen einer Langzeitpharmako-
therapie bei gastrointestinalen Symptomen mit Protonenpumpenblockern ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis.
Infos: www.smartermedicine.ch
Der Verband fordert zudem eine verstärkte Qualitätssicherung mit Publikation der Qualitätsindikatoren aller Akutspitäler mit Angaben unter anderem von Fallzahlen, Anteilswerten (z.B. Kaiserschnittsraten) und Mortalität bei ärztlichen Eingriffen. «Fehlermeldesysteme und medizinische Erkenntnisse sind für die Verbesserung der Patientensicherheit einzusetzen», betonte Ziltener.
Schweizer Ärzteumfrage 2014: EBM nur für drei Viertel wegweisend Zwischen Mai und August 2014 erfolgte bei 1000 Schweizer Ärzten, darunter 587 Grundversorgern (ferner Orthopäden, Psychiater, Kardiologen und Diabetologen) eine Befragung im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): Hier sollte erfragt werden, über welche Kanäle sich die Befragten fortbilden, was in der Fortbildung zu verbessern wäre,
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um die Effizienz des Wissenstransfers zu steigern, und wie sie zur evidenzbasierten Medizin (EBM) stehen. Dr. med. Bernard Burnand, Leiter des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin am CHUV, erläuterte erste Resultate: Erstaunlicherweise war nur für 25% der Befragten die aktuelle evidenzbasierte Medizin (EBM) stark ausschlaggebend und für weitere 51% wegweisend für Verordnungen und Eingriffe. Ein Viertel orientierte sich we-
nig bis kaum an den Daten der EBM. Die Adhärenz zur EBM sank mit dem Alter, war niedriger in der Romandie und lag am höchsten bei den Kardiologen und am niedrigsten bei Psychiatern und Orthopäden. In den Antworten der ersten Analyse zeigte sich ferner eine Lücke zwischen ärztlichem Wissen und Anwenden.
Die Referenten schlossen, dass viel Handlungsbedarf zur Qualitätssicherung
im Sinne des «Choosing wisely» für die kommenden Jahre ansteht...
hir E-Mail: hirrle@rosenfluh.ch
Quelle: «Choosing wisely – Bessere Medizin oder Alibiübung?» Gesundheitsseminar des Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus. Thun, 18./19. November 2014.
«smarter medicine»-Initiative
«Overdiagnosis» – Ausschreibung der SGIM-Foundation 2014/15
Die Vermeidung von Überdiagnosen und den damit verbundenen unnötigen und kostenträchtigen Weiterabklärungen steht im Fokus der diesjährigen Preisausschreibung der SGIM-Foundation.
Die SGIM-Foundation ist eine Stiftung der SGIM mit der Zielsetzung, Lehr- und Forschungsprojekte auf dem Gebiet der allgemeinen Inneren Medizin zu fördern und zu unterstützen. Ziel der diesjährigen Preisausschreibung ist es, die Behandlungsqualität allgemeininternistischer Patienten zu verbessern und potenziell schädliche Überdiagnosen zu vermeiden. Drei wissenschaftliche Förderbeiträge à 50 000 Franken zu Forschungsprojekten sind zu folgenden Themen ausgeschrieben:
L Prävalenz von Überdiagnosen in verschiedenen Bereichen wie Screening, Laboruntersuchungen, Bildgebung und Senkung von Krankheitsgrenzwerten
L Konsequenzen von Überdiagnosen (Follow-up-Untersuchungen, Behandlungen, Kosten und Reaktion der Betroffenen wie Angst, etc.)
L Interventionen, die das Risiko für Überdiagnosen vermindern.
Die Projektanträge in englischer Sprache sind bis zum 31. Januar 2015 bei der SGIM-Foundation, Solothurnerstrasse 68, Postfach, 4002 Basel, einzureichen. Sie werden von einem unabhängigen Expertenbeirat geprüft, welche drei Projekte auswählt und für Forschungsprojekte zum Jahresthema vergibt. Die Preisvergabe findet im Rahmen der 83. SGIMJahresversammlung 2015 zum Thema
«Healthy Medicine» der SGIM vom 20. bis 22. Mai 2015 im Congress Center in Basel statt. Detaillierte Informationen zur Einreichung eines Gesuches sind unter www.sgim.ch/deutsch/forschung zu finden.
Weitere Infos: Prof. Dr. med. Jean-Michel Gaspoz Präsident der SGIM-Foundation und Vorsteher des SGIM-Präsidiums
oder Lukas Zemp Generalsekretär/ Geschäftsstellenleiter SGIM Tel. 061-225 93 30 oder E-Mail: info@sgim.ch
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