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Forum Angewandte Ethik in der Onkologie
Der ärztlich assistierte Suizid
Ethische Problemstellungen
In der Schweiz ist der assistierte Suizid seit Langem gesetzlich geregelt. Dennoch ist die Praxis weiterhin kontrovers, gerade mit Blick auf die ärztliche Beteiligung.
Nikola Biller-Andorno
Zwischen Normalität und Skepsis
Auf der einen Seite ist der assistierte Suizid in der Schweiz in gewisser Weise zur Normalität geworden: Gemäss Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs ist Beihilfe zum Suizid straffrei, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Seit zirka drei Jahrzehnten gibt es Organisationen, die Suizidbeihilfe als Dienstleistung anbieten. Die Todesursachenstatistik des Bundesamts für Statistik erfasst die Zahl der assistierten Suizide. Diese haben über das gesamte letzte Jahrzehnt kontinuierlich zugenommen – im Jahr 2009 waren es knapp 300. Bei der Zahl der Suizide insgesamt war jedoch kein Anstieg zu verzeichnen. Im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit eines Suizids hat sich seit 1980 halbiert (1). Auf der anderen Seite bleibt ein Unwohlsein. Will die Schweiz wirklich das Land des Sterbetourismus sein? Wo genau sollen die Praxen der Sterbeorganisationen angesiedelt sein dürfen? Wollen wir assistierten Suizid in öffentlichen Spitälern zulassen? Sollten, unter anderem angesichts problematischer Einzelfälle, Sorgfaltspflichten für Suizidhelfer definiert werden? Ist die Suizidassistenz in die medizinische Ausbildung aufzunehmen, wenn sich Ärzte schon daran beteiligen?
Wie denkt die Ärzteschaft?
Die Ärzteschaft steht dem assistierten Suizid in der Regel eher zurückhaltend gegenüber. In einer aktuellen OnlineUmfrage des «New England Journal of Medicine» im Anschluss an einen Artikel und einen Podcast zum Thema (2) haben sich 82% der Leserschaft (hauptsächlich Ärzte) gegen eine Legalisie-
rung des ärztlich assistierten Suizids ausgesprochen (2). Eine 2008 durchgeführte Pilotstudie in der Schweiz brachte ein ähnliches Ergebnis: Nur 16% der teilnehmenden Ärzte und Pflegenden meinten, assistierter Suizid sei als legitimer Teil der medizinischen Praxis zu betrachten. Allerdings dachten nur 9%, dass ärztlich assistierter Suizid in jedem Fall mora-
Die Mehrheit der Ärzte hielt die Frage der Suizidbeihilfe
für einen individuellen Gewissensentscheid, der unter bestimmten Voraussetzungen zu rechtfertigen sei.
lisch zu verurteilen sei. Die Mehrheit der befragten Ärzte hielt die Frage der Suizidbeihilfe – in Übereinstimmung mit der Position der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) – für einen individuellen Gewissensentscheid, der unter bestimmten Voraussetzungen zu rechtfertigen sei (3). Auch in der Romandie wurde die Haltung der Ärzteschaft gegenüber assistiertem Suizid untersucht (4). Hier zeigte sich ebenfalls einerseits eine grundsätzliche Offenheit gegenüber dem assistierten Suizid, andererseits eine zurückhaltende Einstellung bezüglich der eigenen aktiven Mitwirkung. Die SAMW hat aktuell eine weitere Studie zur Haltung der Ärzteschaft in Auftrag gegeben, die zu einem noch differenzierteren Verständnis beitragen wird (5).
Individueller Gewissensentscheid statt grundsätzliche Ablehnung
Die Zurückhaltung und die Ambivalenz innerhalb der Ärzteschaft sind ver-
ständlich angesichts der enormen moralischen Verantwortung, die eine Beteiligung an einem Suizid mit sich bringt. Zugleich stehen dieser Haltung gesellschaftliche Forderungen nach einem selbstbestimmten und durch medizinischen Sachverstand begleiteten Lebensende gegenüber. Dabei ist wichtig, dass der ärztlich assistierte Suizid keineswegs im Widerspruch zu guter palliativmedizinischer Versorgung zu sehen ist, sondern als Ergänzung des Spektrums an Möglichkeiten, die dem Patienten offenstehen (6). Eine vielfach genannte Sorge betrifft eine Ausweitung des assistierten Suizids in Richtung einer unfreiwilligen Euthanasie. In der Tat finden sich in der Presse immer wieder Berichte von Patienten, die von Pflegenden oder Ärzten «aus Mitleid» getötet wurden, ohne dass die Patienten das gewünscht hätten. Doch findet dieser Missbrauch nicht im Zusammenhang mit Suizidbeihilfe statt, sondern in ungeregelter Weise auf individuelle Initiative. Rechtlich ist die Situation klar: Der Suizidwillige muss nicht nur urteilsfähig sein und die Tatherrschaft haben, er muss den
Der ärztlich assistierte Suizid steht keineswegs im
Widerspruch zu guter palliativmedizinischer Versorgung, sondern ist als Ergänzung zu sehen.
Suizid auch im Einklang mit seinen eigenen Überzeugungen aus freien Stücken durchführen. Im Einzelfall kann es dabei mitunter schwierig sein festzustellen, ob eine Entscheidung freiwillig gefällt worden ist.
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Forum Angewandte Ethik in der Onkologie
Ein Vergleich: «Death with Dignity»Programm in den USA Die Seattle Cancer Care Alliance, ein Onkologiezentrum im US-amerikanischen Bundesstaat Washington, hat vor Kurzem über ein umfassendes Evaluationsprozedere im Rahmen ihres «Death with Dignity»-Programms berichtet, das die Freiwilligkeit sowohl der Patienten mit Suizidwunsch als auch der beteiligten Ärzte maximieren soll (7). Zum einen gelten dort ähnliche Kriterien in der individuellen Abklärung wie für Ärzte in der Schweiz (siehe Kasten). Darüber hinaus erlaubt aber die Integration der Suizidbeihilfe in ein klinisches Zentrum einige interessante zusätzliche Elemente: L Jedem Patienten wird ein «patient
advocate» (in der Regel ein Sozialarbeiter) zur Seite gestellt, der sich auch mit der sozioökonomischen Situation und den Familienbelangen des Patienten auseinandersetzen kann. L Die systematische Erfassung aller Patienten erlaubt eine Analyse der Gruppen, die Suizidbeihilfe besonders nachfragen. Im Fall des Zentrums in Seattle waren das vor allem weisse Männer mit hohem Bildungsniveau (und damit keine Klientel, die üblicherweise als besonders vulnerabel zu betrachten wäre). L Das Verhältnis von Anfragen zu durchgeführten Suiziden im Programm erlaubt ein Monitoring des Patientenanteils, der sich von einer ersten Anfrage zurückzieht. Dies kann als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass ein Rücktritt als valable Option wahrgenommen wird. In Seattle haben zum Beispiel «nur» 35% der Patienten, die angefragt hatten, den Suizid auch realisiert. L Schliesslich werden auch die Gründe, die für den Suizidwunsch ausschlaggebend waren, miterhoben: Es handelt sich dabei nur zum Teil um Aspekte, die guter palliativmedizinischer Versorgung zugänglich sind, wie unzureichende Schmerz- oder Symptomkontrolle.
Darüber hinaus spielen schwerer zu beeinflussende Aspekte, wie Verlust an Körperfunktionen und damit an Lebensqualität, Autonomie und Würde und soziale Faktoren wie Belastung für Angehörige und die finanzielle Bürde durch die Erkrankung eine Rolle.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind wichtig
Die Sorge vor einer moralisch fragwürdigen Ausweitung betrifft nicht allein den individuellen Missbrauch, sondern die Verschiebung sozialer Normen. So könnte man sich vorstellen, dass künftig von älteren Menschen ein Suizid erwartet wird, um hohe Kosten und personellen Aufwand in der Pflege zu vermeiden. Ein sorgfältiges und umfassendes Monitoring der Charakteristika und der Motivation der Personen, die um Suizidbeihilfe nachsuchen, kann dazu beitragen, dass entsprechende Trends frühzeitig erkannt und problematisiert werden können. Die Frage, ob es moralisch richtig ist, Suizidbeihilfe zu leisten oder zu verweigern, lässt sich nicht unabhängig vom Kontext beantworten. Das gilt für den individuellen Fall ebenso wie für die gesellschaftliche Ebene. Ein Land, das
Ein Land, das über einen solidarischen Zusammenhalt verfügt, wird ein geringes
Risiko haben, dass sich eine Gruppe zum Suizid
genötigt fühlt.
über einen ausgeprägten solidarischen Zusammenhalt zwischen den Generationen, zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Gutsituierten und sozial Schwachen verfügt, wird ein geringes Risiko haben, dass sich eine gesellschaftliche Gruppe, zum Beispiel ältere Menschen, zum Suizid genötigt fühlt. In einem solchen Kontext sind liberalere Regelungen möglich, ohne dass es dadurch zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen kommen muss. Ein weiterer protektiver Faktor ist der Zugang zu guter palliativmedizinischer Versorgung am Lebensende, der Ängste
vor dem Allein-gelassen-Werden, dem
Zur-Last-Fallen und unzureichender
Symptomkontrolle mindern kann. Ein
weiterer Aspekt ist schliesslich eine an-
gemessene ökonomische Absicherung,
was Pflegekosten und Altersvorsorge
betrifft. Wenn der finanzielle Aufwand
für die Pflege dazu führt, dass das Fami-
lienvermögen aufgezehrt wird, zum Bei-
spiel das Eigenheim nicht den Kindern
vererbt werden kann, sondern verkauft
werden muss, mag das für manche ein
Argument sein, um Suizidbeihilfe nach-
zusuchen.
L
Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola Biller-Andorno Direktorin Institut für Biomedizinische Ethik Universität Zürich Pestalozzistrasse 24 8032 Zürich E-Mail: biller-andorno@ethik.uzh.ch Internet: www.ethik.uzh.ch/ibme
Quellen:
1. Bundesamt für Statistik: Todesursachenstatistik 2009, Sterbehilfe (assistierter Suizid) und Suizid in der Schweiz, 2012, http://www.bfs. admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/14/ 02/04/dos/04.html.
2. Boudreau JD, Somerville MA, Biller-Andorno N: Clinical decisions. Physician-assisted suicide. N Engl J Med 2013; 368(15): 1450–52. http://www. nejm.org/doi/full/10.1056/NEJM clde1302615).
3. Pfister E, Biller-Andorno N: Physician-assisted suicide: views of Swiss health care professionals. J Bioeth Inq 2010; 7: 283-85.
4. Burkhardt X, Wyss K, La Harpe R: L’assistance au suicide de Suisse: la position des médecins. Rev Med Suisse 2007; 3: 2861–64.
5. http://www.samw.ch/de/Ethik/Lebensende.html.
6. Quill TE: Physicians should «assist in suicide» when it is appropriate. J Law Med Ethics 2012; 40: 57–65.
7. Loggers E, Starks H, Shannon-Dudley M, et al.: Implementing a Death with Dignity program at a Comprehensive Cancer Center. N Engl J Med 2013; 368(15): 1417–24.
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