Transkript
Forum Versorgungsforschung in der Onkologie
Versorgungsforschung in der Schweiz
Bedeutung für die Onkologie: Ein wichtiges Instrument zur Beurteilung der Versorgungsrealität von Krebspatienten
SZO 2013; 2: 35–36.
Als Teilgebiet der Forschung über das Gesundheitssystem befasst sich Versorgungsforschung mit «der letzten Meile» – der Kranken- und Gesundheitsversorgung in den Kliniken, Arztpraxen und sonstigen Gesundheitseinrichtungen. Das fachübergreifende Forschungsgebiet beschreibt und evaluiert die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen mit dem Ziel, Grundlagen und praxisnahes Wissen zu erarbeiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen (1).
Im Folgenden wird die Bedeutung der Versorgungsforschung (VF) für die Onkologie anhand einzelner Forschungsprojekte dargestellt. Zudem wird auf die Voraussetzungen eingegangen, die erfüllt sein müssen, damit solche Studien durchgeführt werden können.
Aufgabenstellung
Die VF umfasst die Kranken- und die Gesundheitsversorgung. Die Krankenversorgung befasst sich mit der medizinischen und psychosozialen Versorgung in Krankenhäusern und Arztpraxen oder mit bestimmten Gesundheitstechnologien. Sie ist ein Teilgebiet der Gesundheitsforschung, die zusätzlich auch Prävention und Gesundheitsförderung mit einschliesst. Einige der wichtigen Teilgebiete der VF sind Untersuchungen zu Bedarf und Inanspruchnahme des Gesundheitssystems (2). Die Forschung auf der Ebene der Krankenversorgung wird oft mithilfe der Small-Area-Analysis durchgeführt (3).
So können wichtige Informationen über regionale, institutions- oder patientenbezogene Unterschiede in der klinischen Praxis erkannt werden. Ziel solcher Untersuchungen kann es sein, eine Über- respektive Unterversorgung einzelner geografischer Regionen oder Patientengruppen aufzudecken. Solche Fragestellungen können in Zusammenhang mit nachfrage- oder angebotsinduziertem Handeln untersucht werden. Eine weitere Rolle der VF besteht darin, Richtung und Ausmass zukünftiger Entwicklungen abzuschätzen. Bei dem sich rasch ändernden und immer kostenintensiveren Gesundheitswesen erhält die wiederholte Erfassung des Status quo der Versorgung zunehmende Bedeutung.
Fragestellung der Versorgungsforschung:
Welche Rolle spielen der Wohnort, der
Versicherungsstatus, das behandelnde Spital, der
behandelnde Arzt bei der Behandlung eines
Tumorpatienten?
Beispiel I:
Small-Area-Analysis Die Small-Area-Analysis (gebietsbezogene Analyse) erlaubt den Vergleich der Versorgung onkologischer Patienten in verschiedenen Regionen. So können Daten der medizinischen Statistik stationärer Einrichtungen (geliefert vom Bundesamt für Statistik) über die erbrachten Leistungen erhoben und möglichst kleinen geografischen Einheiten (z.B. Gemeinden) gegenübergestellt werden. Alternativ können sogenannte Versorgungsgebiete (z.B. Spitaleinzugsgebiete) gebildet werden. Wer-
Klazien Matter-Walstra
Bernhard Pestalozzi
den die erhobenen Daten kartografisch dargestellt, lassen sich auf einen Blick wichtige Unterschiede feststellen. Beispiele für solche Erhebungen sind Behandlungsraten (pro Region) oder Liegedauer für einen bestimmten chirurgischen Eingriff. Man kann untersuchen, welche Eingriffe/Behandlungen wo wie oft durchgeführt werden oder wohin sich die Patienten für einen bestimmten Eingriff begeben. Die Ergebnisse erlauben es, Regionen mit überoder unterdurchschnittlichen Werten zu erfassen, indem man für bevölkerungsspezifische Eigenschaften wie Altersverteilung und Geschlecht kontrolliert. In weiteren Schritten können solche Unterschiede im Detail untersucht werden (Abbildung) .
Beispiel II:
Studie «Predictors of State-ofthe-art management of early breast cancer in Switzerland» Diese Studie (4) aus St. Gallen hat Qualitätsmerkmale der Behandlung von Brustkrebspatientinnen detailliert untersucht. Bei Frauen mit Brustkrebs im frühen Stadium wurden zehn Qualitätsindikatoren untersucht und zwischen geografischen Regionen verglichen. Die Studie konnte unter anderem zeigen, dass Wohnort und Alter der Patientinnen unabhängig voneinander Einfluss darauf hatten, in welchem Masse die Patientinnen die nach Guidelines empfohlene Therapie erhielten. Zudem hat-
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 2/2013
35
Forum Versorgungsforschung in der Onkologie
Abbildung: Anteil der aus dem Spital entlassenen Patienten mit einer Krebsdiagnose auf Ebene Medstat (1) (Daten 2006–2008).
Diskussion
Die Beispiele zeigen, dass die Versor-
gung von Krebspatienten in der
Schweiz nicht einheitlich ist. Die
Gründe für solche Unterschiede kön-
nen sowohl auf der Seite der Leistungs-
erbringer (angebotsinduziert) als auch
auf der Seite der Patienten (nachfrage-
induziert) liegen. Die Frage, ob teil-
weise eine Über- oder Unterversorgung
besteht, ist sehr schwierig zu beantwor-
ten. Dazu müssten Ergebnisse der VF
mit patientenbasierten Outcomes ver-
knüpft werden, was im Moment noch
kaum möglich ist. Ein weiterer Schritt
wäre die Verknüpfung der Resultate mit
Kostendaten. Die Resultate der VF
könnten auch dazu dienen, den Einfluss
gesundheitspolitischer Entscheide und
langfristiger Projekte (wie z.B. der Ein-
führung der diagnosebezogenen Fall-
gruppen, DRG) auf die Versorgung und
deren Qualität zu erfassen.
▲
ten der Spezialisierungsgrad und das Engagement der Spitäler im Bereich klinischer Studien einen Einfluss auf die Qualität respektive die Angemessenheit der angewendeten therapeutischen Massnahmen.
Beispiel III:
Studie «End of Life (SAKK End of Life 89/09)» Diese Untersuchung des Netzwerks Outcomes Research der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) ist noch nicht vollständig ausgewertet. Sie befasst sich mit der Behandlungsintensität von Krebspatienten am Ende ihres Lebens. Die Studie untersucht zum Beispiel, wie häufig Krebspatienten in verschiedenen Kantonen im letzten Monat ihres Lebens hospitalisiert werden. Oder sie fragt, welcher Anteil von Patienten im letzten Monat eine Chemotherapie oder eine Radiotherapie erhalten hat. Erste Resultate zeigen, dass Wohnkanton oder Versicherungsstatus der Patienten Einfluss darauf nehmen, wie häufig Therapien im letzten Monat durchgeführt werden oder wie häufig Hospitalisationen erfolgen.
Voraussetzungen für Versorgungsforschung
Versorgungsforschung sollte auf möglichst viele und unterschiedliche Datenquellen zugreifen können, um für die Schweiz möglichst flächendeckende Aussagen zu bestimmten Fragestellungen machen zu können. Wichtige mögliche Datenquellen sind unter anderem Krebsregister (bisher leider nicht flächendeckend in der Schweiz vorhanden), Krankenversicherer, Abrechnungen oder medizinische Statistiken der Spitäler. Sehr schwierig für die erwähnte End-of-Life-Studie war das Verlinken (Zusammenführen) der einbezogenen Datenquellen (Krebsregister, Versicherer, Spitäler), weil die Zuständigkeiten im Bereich des Datenschutzes für Patienten und Institutionen schwierig abzuschätzen und teilweise ungeklärt waren und deshalb langwieriger Abklärungen bedurften. Einzelne Spitäler verweigerten den Zugang zu ihren Daten trotz garantierter Anonymisierung. Die VF könnte sehr davon profitieren, wenn Datensätze zu Behandlungsergebnissen, Patientenzufriedenheit oder Lebensqualität in der Schweiz besser zugänglich gemacht würden.
Dr. Klazien Matter-Walstra Institute of Pharmaceutical Medicine/ECPM Universität Basel 4056 Basel sowie SAKK 3008 Bern E-Mail: klazien.matter@sakk.ch
Prof. Dr. med. Bernhard Pestalozzi Klinik für Onkologie Universitätsspital 8091 Zürich E-Mail: bernhard.pestalozzi@usz.ch
Quellen:
1. Badura B, Schaeffer D.: J. vT. Versorgungsforschung in Deutschland. Fragestellung und Förderbedarf. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft. 2001; 9: 294–311.
2. Wennberg JE.: Unwarranted variations in healthcare delivery: implications for academic medical centres. BMJ. 2002; 325: 961–64.
3. Matter-Walstra K.: «Small area analysis» als Instrument für die Versorgungsforschung in der Schweiz. Schweizer Krebsbulletin. 2012; 32: 202–04.
4. Ess S, Joerger M, Frick H, et al.: Predictors of state-of-the-art management of early breast cancer in Switzerland. Ann Oncol. 2011; 22: 618–24.
36 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 2/2013