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Kongressbericht
52. Jahrestreffen der American Society of Hematology (ASH), Orlando, 4. bis 7. Dezember 2010
Akute myeloische Leukämie (AML)
AML: Konsolidation und Aufbruch
An dem weltweit grössten und wichtigsten Hämatologiekongress mit 20 000 Teilnehmern war erneut ein Grossteil der Beiträge der AML gewidmet. Seit etwa 30 Jahren hat sich an dem Gerüst, auf dem die kurative Therapie der AML ruht, nicht viel geändert.
Der Weg zur individualisierten Therapie
Der Übersichtsvortag von H.F. Fernandez zur Standardtherapie der AML klärte wichtige Fragen, die noch vor wenigen Jahren zu Diskussionen geführt hatten: Bei jüngeren Patienten (< 60 Jahren) besteht die AML-Standardinduktionstherapie aus dem dosisintensivierten «3+7»Schema (Doxorubicin 90 mg/m2 über 3 Tage, Cytarabin 100 mg/m2 über 7 Tage). Bei Erreichen einer kompletten Remission folgen bei Patienten mit einem guten zytogenetischen und molekularen Risikoprofil 4 Zyklen einer Hochdosis-AraCTherapie (1,5 g oder 3,0 g/m2, alle 12 h, Tage 1–6) als intensive Konsolidationstherapie (Hematology 2010) (vgl. Tabelle). Entscheidend für die Induktionsphase ist die Dosisintensivierung der Anthrazyklinmedikation. Weitere Intensivierungen oder Modifikationen, wie die zusätzliche Gabe des CD33-Antikörpers Gemtuzumab-Ozogamicin, haben sich in der Vergangenheit nicht bewährt (#2175). Für die Induktionstherapie könnte die Therapie mit CPX.351, einem fixen 5:1-Gemisch von AraC und Daunorubicin in liposomaler Galenik, allerdings ebenso einen Fortschritt bedeuten (verminderte 60-TagesMortalität 4,7% vs. 14,6%; #655) wie die autologe Stammzelltransplantation (SCT) anstelle der Chemotherapie in der Konsolidation (5-Jahres-RFS 39%/29%; #36; #1669). Die Zugabe des Histon-Deazetylierung-Inhibitors Valproat zur Standardinduktionschemotherapie führte hingegen nur zu einer Verlängerung der Aplasie und damit zu gehäuften infektiologischen Komplikationen. Kardiale Risikopatienten können alternativ als Induktionstherapie Fludarabin (30 mg/m2, Tage 1–5) und AraC (2 g/m2, Tage 1–5) erhalten (Hematology 2010).
Neue Möglichkeiten der Prognosebestimmung Die Prognose der AML wird laut einem Übersichtsvortrag von J.M. Foran nicht mehr nur aufgrund der Klinik (t-AML, Alter, Geschlecht, Rasse, Performance-Status und Komorbiditäten, Verzögerung der Therapie, Leukozytenzahl), sondern aufgrund zytogenetischer und molekularer Untersuchungen bestimmt (siehe Tabelle). Die Morphologie von Blut und Knochenmark ist zwar immer noch entscheidend für die primäre Diagnosestellung, dient im Weiteren aber allenfalls noch als Leitfaden für die molekulare Diagnostik (PCR bei Promyelozytenleukämie) und nur noch sekundär zur Subklassifikation (AML 0–7). Die zytogenetischen Untersuchungen müssen rasch erfolgen, wenn die weiteren molekularen Abklärungen in Abhängigkeit von der Zytogenetik (t8;21, inv16: cKIT+ = ↓; normal: FLT-3-ITD+ = ↓, NPM-1 = ↑, CEBPA = ↑) verordnet werden sollen. Für andere in der Tabelle nicht erwähnte Mutationen, wie IDH1+2 (#101, #102), TET2 (#176) oder RUNX1 (#754), konnte bisher keine prognostische Relevanz nachgewiesen werden (Hematology 2010). Verschiedene Arbeiten konnten hingegen zeigen, dass der Anteil von Leukämiestammzellen (LSC) im Knochenmark (#759, #951) bei Diagnosestellung und nach Erreichen einer kompletten Remission (CR) respektive der fluoreszenzzytometrische Nachweis von «minimal residual disease» (MRD) im Knochenmark nach erfolgter Induktionstherapie von grosser prognostischer Bedeutung ist (#760, #1702, #1717, #2714, #2719, #2740). Gen-Expressions-Mikro-Arrays, MikroRNS-Signaturen, SNP-Arrays und DNSMethylierung-Arrays hingegen sind bisher noch ohne Relevanz in der klinischen Routinediagnostik (Hematology 2010), legen aber den Grundstein für neue Ansätze in der Diagnostik, Prognostik und Therapie.
Spezielle Patientengruppen Alle Patienten mit mittlerem und hohem Risiko (Rezidivwahrscheinlichkeit > 35%) sollten, wenn möglich, in CR1 mit einer
allogenen Stammzelltransplantation konsolidiert werden (Fernandez, Hematology 2010). Dies gilt insbesondere auch für die AML-Patienten mit normalem Karyotyp und FLT-ITD Mutationen (#2172; siehe unten). Auch ältere Patienten (> 60 Jahre) profitieren, je nach Performance-Status und Komorbiditäten, von einer Induktionschemotherapie und, zumindest bezüglich CR, bei gleicher Toxizität auch von höheren Anthrazyklindosen (S.M. Luger, Hematology 2010). Die Frage einer nachfolgenden Konsolidationstherapie (1 Zyklus Hochdosis-AraC-Therapie 1,0 g– 3,0 g/m2, alle 12 h, Tage 1–6) muss für jeden Patienten individuell entschieden werden (klinische und zytogenetische Risikofaktoren, s.o.). Alternativ kommt für die Konsolidation eine «reduced intensity»-Stammzelltransplantation in Betracht, die bei älteren Patienten, zumindest bis zum Alter von 70 Jahren, ähnlich gute Ergebnisse aufweist wie bei jüngeren Patienten (S.M. Luger, Hematology 2010).
Neue Alternativen beim älteren AML-Patienten
Ältere Patienten, für die eine Hochdosisinduktionstherapie nicht in Betracht kommt, sollten, wenn möglich, mit einem neuen, weniger aggressiven Chemotherapieschema behandelt werden, welches der reinen Supportivtherapie überlegen ist. (S.M. Luger, Hematology 2010). So konnten durch die Zugabe von Bortezomib (Velcade®) (1,3 mg/m2, Tage 1, 4, 8, 11) in der «3+7»-Induktionstherapie und in der Konsolidationsphase erste gute Erfolge erzielt werden (CR > 45%; #331). Ältere AML-Patienten sprechen auch auf eine Monotherapie mit Lenalidomid (Revlimid®) an (50 mg/Tag p.o., Tage 1–28, dann 10 mg/Tag, Tage 1–21, 28-Tage-Zyklus, CR 11%, SD 35%, #332). Eine Therapie mit dem Methylierungsinhibitor 5-Azacytidin (75 mg/m2 s.c., Tage 1–5) als Teil einer abgewandelten Standardinduktionstherapie mit Daunorubicin (45 mg/m2, Tage 8–10) und AraC (100 mg/m2, Tage 6–12, #2180) oder als Monotherapie (100 mg/m2, Tage 1–5, #2181) bei Patienten mit geringem
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Blastenanteil im Knochenmark (20–30%, 75 mg/m2, Tage 1–7, 28-Tage-Zyklus, #2183) respektive in Kombination mit Lenalidomid (Azacytidin 75 mg/m2, Tage 1–7, 42-Tage-Zyklus, Lenalidomid 50 mg/Tag, Tage 8–28, 42-Tage-Zyklus; #3288) weist nicht nur eine geringe Toxizität auf, sondern führt auch zu guten Ansprechraten (ORR 67%, #3288) und zu einem verbesserten Gesamtüberleben (OS) (2 a OS 24%, #2183). Ähnlich ermutigende Ergebnisse (CR 50%) erbrachte eine Phase-I-Studie in der Kombinationstherapie mit Decitabin (20 mg/m2/Tag i.v., Tage 1–5) und Panobinostat (pan-Histon/non-Histon Deazetylaseinhibitor; 30/40 mg/Tag p.o., #1060). Neuere Medikamente wie das Purinanalogon der zweiten Generation Clofarabin (10 mg/m2, Tage 1–5 plus AraC 2 x 10 mg s.c. Tage 1–7 alternierend mit Decitabin 20 mg/m2, Tage 1–5, CR 61%, CRp 7%, #336) und der Aurora-BKinase-Inhibitor AZD1152 (Tage 1–7 plus AraC 2 x 20 mg s.c. Tage 1–10, 28-TageZyklus) mit einer CR/CRi von 43% (#656) werden jetzt bei älteren Patienten mit AML eingesetzt und zeigen erste hoffnungsvolle Resultate. Hingegen erscheint eine Dosiseskalation (#334) im Gegensatz zur gestaffelten Gabe (time sequential) von AraC und Mitoxantron (AraC 2 x 2 g, Tag 1 plus Mitoxantron 30 mg/m2, Tage 1+5) mit einer CR/Cri/CRp von 69,9% (A#1068) wenig sinnvoll. Auch Studien mit dem CD33-Antikörper Gemtuzumab (#335) oder dem Pan-Kinase-Inhibitor Sorafenib (#333) verliefen eher negativ.
Neue Wege bei Hochrisikopatienten und ...
Eine sehr interessante Arbeit konnte zeigen, dass Hochrisiko-AML-Patienten (zytogenetisch und molekular definiert, siehe Tabelle) von einer Dosisintensivierung in der Induktionsphase profitieren könnten (AraC, 2 x 3 g/m2/Tag, Tage 1–5 plus Mitoxantron 80 mg/m2, Tag 2. Es resultierte eine therapiebezogene Mortalität (TRM) von 0% und eine CR von 85% (# 3290). Auch der Einsatz des Deazetylaseinhibitors Vorinostat (3 x 500 mg, Tage 1–3) in der Induktionstherapie mit Idarubicin (12 mg/m2, Tage 4–6, plus AraC, 1,5 g/m2, Tage 4–7) zeigte erste erfreuliche Resultate: CR/CRp = 86% (#2189).
Tabelle: AML: Karyotyp und Prognose (Hematology 2010)
Gute Prognose Karyotyp Core binding factor (CBF) – Aberrationen, t8;21 und inv 16; t15;17
Mittelgradige Prognose Karyotyp normale Zytogenetik +8 t3;5 t9;11 anderweitig nicht definierte Aberrationen
Schlechte Prognose Karyotyp komplexer Karyotyp (> 3) monosomaler Karyotyp (Monosomie und 1 weitere strukturelle Aberration) -5; 5q-7, 7q11q23 Aberrationen (ausser t9;11) inv3 t6;9 17p-
Molekulare Mutationen normaler Karyotyp plus NPM-1+ normaler Karyotyp plus CEBPA+, FLT-3-ITD-
Molekulare Mutationen t8;21 und cKIT+ inv16 und cKIT+
Molekulare Mutationen normaler Karyotyp plus FLT-3-ITD+, NPM-1-
CEBPA = CCAAT enhancer binding protein alpha; FLT-3 Fms-like tyrosine kinase; FLT-3-ITD = FLT3 internal tandem duplicates; MLL = mixed lineage leukemia; NPM-1 = nucleophosmin 1
Entsprechendes gilt für den Ersatz von AraC durch Azacytidin in der Induktionsphase (100 mg/m2, Tage 1–5 plus Idarubicin, 12 mg/m2, Tage 1, 3, 5 plus Etoposid, 100 mg/m2 Tage 1–3, mit dem Ergebnis: CR = 43% → CR 67% → CR 80% – je nachdem, ob Azacytidin vor, während oder nach der übrigen Chemotherapie verabreicht wurde (#2184). Angesichts der auch heute noch schlechten Prognose der Hochrisiko-AML werden auch ganz neue Wege beschritten: So zeigen Machbarkeitsstudien in der Therapie dieser Patienten mit dem Farnesyl-Transferase-Inhibitor Tipifarnib (#3315) respektive Impfstudien mit aus peripheren mononukleären Zellen gewonnenen und transfizierten dentritischen Zellen (#2190) durchaus erfreuliche Ergebnisse. Für die FLT-ITD-positiven Patienten liegen erste Phase-1-Studiendaten über die Verträglichkeit einer Therapie mit dem Kinaseinhibitor AC220 (#660) und Sorafenib (#3314) vor. In jedem Fall sollten Hochrisikopatienten, wenn irgend möglich, in CR1 allogen transplantiert werden. Beschleunigte Transplantationen vor Erreichen einer CR zeigen deutlich schlechtere Ergebnisse (4-Jahres-OS 67%/33%; #1336). Auch nach einer Transplantation müssen Pati-
enten mit einem komplexen oder monosomalen Karyotyp weiterhin als besonders rezidivgefährdet gelten (#578, #680, #2748).
... bei refraktärer/ rezidivierter AML
Eine noch grössere Herausforderung stellen Patienten mit einer refraktären oder rezidivierten AML dar. Selbst eine erneute Transplantation hat nur bescheidene Erfolgsaussichten (3-Jahres-OS 15%, #2366), unabhängig davon, ob es sich um eine Familienspender-, Fremdspender- (#2369, #2371) oder eine Nabelschnurspender-Transplantation handelt (#1295). Angesichts der Gesamttoxizität aller vorangegangenen Therapien empfiehlt sich für diese Patienten wahrscheinlich am ehesten eine «reduced intensity»-Konditionierungsvariante, mit der ähnliche Ergebnisse wie mit einer myeloablativen Konditionierung erzielt werden können (#3445).
Alternativen Angesichts der relativ enttäuschenden Resultate einer Zweittransplantation ist die Suche nach Alternativen nur allzu verständlich. Die Gabe von Azacytidin führt – im Gegensatz zu Decitabin (#2186) –
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zwar nicht in die erneute CR, scheint aber doch das Leben dieser Patienten deutlich zu verlängern (unter der Dosierung 75 mg/m2, Tage 1–7, 28-Tage-Zyklus mit dem Resultat eines 6-monatigen OS von 48% vs. 20% nach Induktionstherapie respektive 10% nach «donor lymphocyte infusion», #1289, #1293, #1294, #3445). In der Kombination mit dem mTOR-Inhibitor Everolimus (Afinitor®) (10 mg/Tag p.o. Tage 5–21) führt Azacytidin (75 mg/m2, Tage 1–5 und 8–9, 28-Tage-Zyklus) in der schwierigen Situation der refraktären/ rezidivierten AML sogar zu einer CR von 10% (#3301). Auch Clofarabin (22,5 mg/m2, Tage 1–5 plus Idarubicin 12 mg/m2, Tage 1–3 plus AraC 750 mg/m2, Tage 1–5) kann für diese Patienten in der Induktion eingesetzt werden (Resultat: CR 21%, #1061). Als neue Hoffnungsträger in so hoffnungsarmer Situation dürfen einerseits der IL3R-Antagonist SL-401 (CR 2/74) und andererseits der «polo-like kinase 1, Plk1»-Inhibitor Volasertib gelten (mit einer CR von 5/28).
Einschätzung neuer Therapieansätze
Das «next generation sequencing» war Thema des Presidential Symposiums beim ASH-Jahreskongress 2009; beim
letzten ASH-Kongress im Dezember 2010 war diese neue, sehr aufwendige, molekularbiologische Methode Inhalt vieler Studien und Abstracts. Unmittelbare tiefere Einblicke in die molekulare Pathogenese der AML oder gar neue prognostische Marker oder Ansatzpunkte für eine zukünftige Therapie haben sich aus diesen Arbeiten jedoch bisher nicht ergeben. Mittelfristig erscheinen daher andere Ansätze zumindest heute noch Erfolg versprechender: ▲ So könnte man Therapien entwerfen,
die die ruhende Leukämiestammzelle (LSC) zum Ziel haben (#178), für die die bisherigen Induktionstherapien nur eine geringe Toxizität besitzen. ▲ Oder man kann Unterschiede zwischen LSC und der hämatopoietischen Stammzelle (HSC), wie in der Expression von tumorspezifischen Antigenen (wie MUC1-C), ausnutzen und durch den MUC1-C-Antagonisten GO-203 Apoptose, Zelltod und eine Inhibition der Proliferation in LSC und Leukämievorläuferzellen induzieren (#848). ▲ Andere Ansätze greifen den alten Gedanken einer immunologischen Therapie der AML auf und versuchen
mittels Anti-CD200-Antikörpern die Inhibition der NK-Zell-Abwehr und die Tregvermittelte T-Zell-Toleranz wieder umzukehren (#848). Am interessantesten erschien mir aber die Erstellung von Kinom- und Phoshatomkarten individueller AML-Zelllinien mittels siRNA. Hieraus ergeben sich unter Umständen neue therapeutische Ansatzpunkte. Darüber hinaus könnten Schlüsselmoleküle dieser Stoffwechselwege als Biomarker in der Überwachung und Erfolgskontrolle einer zukünftigen individualisierten Therapie der AML dienen. ▲
PD Dr. med. Boris Eugen Schleiffenbaum Hämatologie-Zentrum Zürich Klinik Im Park 8038 Zürich E-Mail: boris.schleiffenbaum@hirslanden.ch
Hinweis: Die Zahlen im Klammern beziehen sich auf die Abstraktnummern zum ASH-Jahresmeeting 2010.
Literatur beim Verfasser.
Interessenkonflikte: keine
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