Transkript
Update/Forum
Urologische Tumoren: landesweit Tumorboards gefordert
Anregungen zur Optimierung des interdisziplinären Managements
Immer neue Therapieoptionen bei urogenitalen Tumoren erfordern ein interdisziplinäres Management zwischen Urologen, Onkologen und Radioonkologen (ggf. weitere Gruppen) vor Therapiebeginn und bei Therapieänderung zur Sicherung der Behandlungsqualität. Leider sind Tumorboards nicht in allen Schweizer Regionen vorhanden. Die landesweite Implementierung multidisziplinärer Netzwerke respektive der Einschluss der Fachärzte in Tumorboards der Spitäler ist wesentlich.
U. BANGERTER, D. BERTHOLD, A. CALDERONI, G. CASANOVA, P.-Y. DIETRICH, J. EIGENMANN, M. GANDER, S. GILLESSEN, U. HUBER, V. PRAZ, R. STREBEL, F. STOFFEL UND A. ZIPPELIUS
Medizinisches Wissen ist für eine adäquate Therapie des Patienten entscheidend. Während des Studiums, der nachfolgenden Facharztausbildung und schliesslich in kontinuierlicher Fortbildung soll das Fachwissen neben der täglichen Arbeit akquiriert werden, damit eine Behandlung nach den aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen gewährleistet ist. Mit der rasanten medizinischen Entwicklung ist die Ärzteschaft zunehmend gefordert. Waren die Ärzte 1988 mit «nur» 30 000 monatlich neu erscheinenden Publikationen konfrontiert, so sind es heute 64 000. Die Anzahl der Neuerscheinungen hat sich demnach in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt! Die Suche nach klinischen Studien ergibt für das Jahr 2007 monatlich etwa 3000 Publikationen (1). So wird geschätzt, dass ein Allgemeinarzt täglich etwa 20 Originalarbeiten lesen müsste, um einigermassen auf dem Laufenden zu bleiben (2). Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sich ein Spezialist «fast nur» in seinem Fachgebiet kontinuierlich weiterbilden kann. Dadurch entsteht jedoch eine zunehmende Fragmentierung des medizinischen Wissens, was in Kontrast steht zu der Notwendigkeit fachübergreifender Kenntnisse, damit viele Krankheiten behandelt werden können. Die zunehmende Spezialisierung medizinischen Wissens erfordert eine erhöhte Kommunikationsaktivität mit anderen Disziplinen zur Sicherung der medizinischen Qualität. Dies gilt insbesondere für Karzinome des Urogenitaltrakts. Aus diesem Grund haben sich Ende 2008 ausgewählte Onkologen und Urologen der Deutschschweiz, der
Romandie und des Tessins mit dem Ziel getroffen, das interdisziplinäre Management urologischer Tumorpatienten zu überdenken und zu optimieren.
Inzidenz und Mortalität urologischer Tumoren
Zu den häufigeren urologischen Karzinomen gehören das Prostata-, das Blasen- und das Nierenzellkarzinom sowie die Keimzelltumoren. In den westlichen Industriestaaten ist das Prostatakarzinom das am häufigsten diagnostizierte Karzinom und nach dem Bronchuskarzinom die zweithäufigste tumorbedingte Todesursache beim Mann. In der Schweiz werden jährlich mehr als 5600 neue Prostatakarzinome diagnostiziert; über 1500 Männer sterben pro Jahr an Prostatakrebs (3, 4). Etwa 300 Männer erkranken jährlich in der Schweiz an Hodenkrebs. Obwohl maligne Hodentumoren nur gerade 1% der Krebserkrankungen der Männer ausmachen, handelt es sich um den häufigsten soliden Tumor bei Männern zwischen dem 25. und 35. Altersjahr (5). Das Urothelkarzinom (Harnblasenkrebs) ist in Europa mit einer jährlichen Inzidenz von 31,1/100 000 bei den Männern und 9,5/100 000 bei den Frauen der vierthäufigste Tumor bei den Männern respektive der siebthäufigste Tumor bei den Frauen (6). Seit 1970 steigt die Inzidenz des Nierenzellkarzinoms an. Es werden jährlich aktuell zirka 720 Neuerkrankungen in der Schweiz diagnostiziert (3). Heute ist das Nierenzellkarzinom bereits für etwa 2,4% aller Krebstodesfälle ursächlich (7).
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Update/Forum
Heutige Aufgabenverteilung zwischen Urologen und Onkologen
Beim Prostatakarzinom kann, solange ein organbegrenztes Tumorstadium vorliegt, eine kurativ intendierte Therapie – entweder chirurgisch oder mittels Radiotherapie – erfolgen. Die Hormontherapie wird in der Regel vom Urologen durchgeführt. In der kastrationsresistenten Situation dagegen wird der Fall meist an einem Tumorboard diskutiert. Patienten mit Keimzelltumoren werden in der Regel primär vom Urologen untersucht und behandelt. Zumeist führt der Urologe das Staging und eine Semikastration durch und bespricht den Fall dann idealerweise am Tumorboard mit den Onkologen und Radioonkologen. Die Zusammenarbeit in der Behandlung des Blasenkarzinoms scheint derzeit sehr unterschiedlich und individuell gestaltet zu sein. Die Onkologie wird in gewissen geografischen Regionen ab Stadium T2 immer präoperativ in die Therapiewahl involviert; in anderen Regionen hingegen erfolgt die Einbindung nach situativer Entscheidung, aber meist postoperativ. Eindeutiger scheint die Zusammenarbeit beim Nierenzellkarzinom. Solange es sich um einen lokalisierten Tumor handelt, wird der Patient in der Regel je nach Grösse und Lage des Tumors nephrektomiert oder teilnephrektomiert. Meist wird der Patient erst bei Vorliegen von Metastasen an den Onkologen überwiesen. Auch hier wäre es sinnvoll, die Fälle an einem Tumorboard zu besprechen, da zurzeit Therapiestudien in der adjuvanten Situation laufen.
Tumorboards: Plattform für die Therapiewahl
In einem qualitativ hochstehenden Tumorboard für urologische Karzinome sind kompetente Vertreter aller benötigten Fachrichtungen versammelt. Der Urologe, der Onkologe, der Radiologe, der Radioonkologe sowie idealerweise auch der Pathologe sind an der Diskussion des Falls und der Wahl der Therapie beteiligt, was deren Qualität maximiert und das Risiko für Fehlentscheide minimiert. Da diese Spezialisten an der Front des medizinischen Geschehens tätig sind, haben sie neben der State-of-the-Art-
Therapie auch Kenntnisse über aktuell laufende Studien, die dem Patienten einen Zusatznutzen bringen könnten. Ausserdem erfüllt das Tumorboard die Kriterien eines ausgezeichneten Mediums zur Fort- und Weiterbildung. Idealerweise sollte jeder onkologische Patient vor Therapiebeginn an einem Tumorboard besprochen werden. Damit wäre die maximale medizinische Qualität bei der Therapiewahl gewährleistet. Bei einfachen, medizinisch eindeutigen Fällen wird die Besprechung im interdisziplinären Plenum nur wenig Zeit in Anspruch nehmen. Sollte es jedoch in einer Fachrichtung neue medizinische Erkenntnisse geben, kann dieses Wissen in die Therapiefindung einfliessen, womit auch alle Beteiligten frühzeitig über Änderungen im Therapieplan informiert sind. Es entspricht auch dem breiten Wunsch der Onkologen, generell früher ins Management einbezogen zu werden.
Lösungsvorschlag für eine punktuelle Fallbesprechung in Praxen In der Schweiz organisieren sich die Ärzte zunehmend in solchen fachübergreifenden Organen. Werden nur diejenigen Netzwerke, die ihr Zusammenwirken unter sich vertraglich regeln, berücksichtigt, zählen wir in der Schweiz aktuell 86 Ärztenetze (8). Versucht man jedoch eine Liste aller angebotenen Tumorboards zu finden, sucht man vergeblich. Auch eine Auflistung multidisziplinärer Ärztenetzwerke ist nicht erhältlich. Solche Instrumente würden es dem interessierten Arzt erleichtern, eine möglichst nahe und seinen Bedürfnissen entsprechende Lösung zu finden. In vielen kantonalen und universitären Spitälern besteht bereits eine exzellente fachübergreifende Zusammenarbeit. So verfügen heutzutage alle grösseren Spitäler über ein Tumorboard, das in vielen Regionen – leider aber nicht überall – auch den praktizierenden Fachärzten offensteht. Viele niedergelassene Spezialisten ziehen eine punktuelle, bilaterale, fachübergreifende Fallbesprechung vor, um eine Zweitmeinung einzuholen respektive um eine optimale Behandlungsstrategie zu diskutieren. So entfällt der Zeitaufwand für eine Teilnahme an einem Tumorboard. Dieser stellt nämlich ge-
rade für den niedergelassenen Arzt ein grosses Problem dar und wird in gewissen Regionen durch geografische Gegebenheiten noch verstärkt. Durch die Anerkennung der Tumorboards als Fortbildung und entsprechende Vergebung von Credits könnte diese Situation entkräftet werden.
Frühe Zusammenarbeit für die Prognose sehr wichtig Trotz wünschenswerter fachübergreifender Zusammenarbeit bei allen urologischen Tumorpatienten ist diese auch bei zumeist gut funktionierender Interdisziplinarität noch nicht überall implementiert: Beispielsweise beim Blasenkarzinom zeigen Metaanalysen, dass eine neoadjuvante Therapie vor der Zystektomie einen Überlebensvorteil bringt. Es kommt jedoch häufig vor, dass Blasenkarzinompatienten erst nach erfolgter Zystektomie dem Onkologen vorgestellt werden. Auch beim nicht metastasierten Prostatakarzinom könnte der Patient von einer fachübergreifenden Fallbesprechung profitieren: Bei organbegrenzten Tumorstadien wird heute vor allem zwischen zwei Therapieoptionen gewählt – der radikalen Prostatektomie und der Radiotherapie. In einigen Fällen kann aber auch die «active surveillance» oder eine Hormontherapie für den Patienten vorteilhaft sein. Ferner wird aktuell beim Vorliegen gewisser Kriterien zusätzlich zur Radiotherapie häufig auch eine adjuvante Hormontherapie empfohlen. Dabei ist die Therapiewahl von verschiedenen Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand und Naturell des Patienten, dem Differenzierungsgrad respektive Gleason Score, dem TNM-Stadium sowie dem PSAWert und der -Anstiegsgeschwindigkeit (early rising PSA) abhängig. Auch hier könnte der Patient von einer gemeinsamen interdisziplinären Evaluation profitieren. Die meisten Prostatakarzinompatienten werden aber erst im kastrationsresistenten Stadium an einem Tumorboard vorgestellt. Besonders wesentlich erscheint den Autoren darüber hinaus die Interdisziplinarität ▲ bei Patienten mit Keimzelltumor ▲ in der neoadjuvanten Situation beim
Blasenkarzinom und
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▲ in Situationen, in denen kein Standard existiert.
Interdisziplinarität für die «second opinion» In Genf zeigte sich in den letzten Jahren eine neue, interessante Entwicklung: Prostatakarzinompatienten holten vermehrt aus eigener Initiative vor einer operativen Tumorentfernung durch den Urologen eine onkologische Zweitmeinung ein. Einerseits mag dies an der geografischen Nähe zu Frankreich liegen, wo keine onkologischen Behandlungen – inklusive operativer Tumorentfernungen – mehr initiiert werden, ohne dass zuvor ein onkologisches Konsil durchgeführt wurde, andererseits kann das Verhalten der Patienten das Bedürfnis widerspiegeln, vor der Entscheidung für einen chirurgischen Eingriff eine Zweitmeinung aus einer anderen Disziplin einzuholen. Auch dieser Patientenwunsch wird durch die Diskussion in einem Tumorboard oder einem fachübergreifenden Ärztenetz gelöst.
Schlussfolgerung
Aufgrund der Einführung neuer Therapieoptionen bei Patienten mit urogenitalen Tumoren wird das frühe interdisziplinäre Management immer wichtiger. Da Onkologen und Radioonkologen viel Expertise in der adjuvanten und neoadjuvanten Situation haben, sollten sie möglichst früh in die Behandlung involviert werden. Idealerweise sollte jeder Patient vor Therapiebeginn und bei Therapieänderung an einem multidisziplinären Tumorboard vorgestellt werden,
so wie es beispielsweise beim Mamma-
karzinom bereits implementiert ist.
Leider ist dieses Vorgehen bei urogenita-
len Tumoren nicht überall implementiert.
Daher wäre für Fachärzte, die keinen
schnellen Zugang zu einem Tumorboard
haben, die Fallbesprechung in Form
eines fachübergreifenden Netzwerks
wünschenswert. Effizient wären in sol-
chen Situationen auch ein elektronisches
Tumorboard oder Telekonferenzen. We-
gen des fehlenden direkten Kontakts
sind diese zwar nicht optimal, solche Ein-
richtungen wären aber geeignet, leicht
zugänglich und mit vertretbarem Zeitauf-
wand verbunden, um die multidiszi-
plinäre Therapiediskussion zu erreichen.
Die interdisziplinäre Besprechung urolo-
gischer Tumorpatienten steigert die Be-
handlungsqualität durch den fachüber-
greifenden Ansatz mit regelmässigem
Erfahrungs- und Wissensaustausch und
ermöglicht die Anwendung der jeweils
aktuellen Richtlinien sowie von mehreren
Personen validierten Konzepte. In die-
sem Sinne wäre es wünschenswert, dass
1. die Tumorboards der Spitäler allen
interessierten Fachärzten offenstehen
und
2. die Tumorboards von den Fachge-
sellschaften als Fortbildung aner-
kannt werden.
▲
Dr. med. Urs Huber (Korrespondenzadresse) OnkoZentrum Zürich Seestrasse 259 8038 Zürich E-Mail: huber@1st.ch
sowie
Urs Bangerter1, D. Berthold2, A. Calderoni3, G. Casanova4, P.-Y. Dietrich5, J. Eigenmann6, M. Gander7, S. Gillessen8, U. Huber9, V. Praz10, R. Strebel12, F. Stoffel13, A. Zippelius11 1 UroZentrum Zürich, 2 Instituto Oncologico della Svizzera Italiana, Bellinzona, 3 Università della Svizzera Italiana, Lugano (Dept. Onkologie/Hämatologie) onkologisch-hämatologische Fachpraxis, 4 Spez. FMH Urologie, Urologische Praxis, Lugano, 5 Hôpitaux Universitaires de Genève (Division d’Oncologie), 6 Spez. FMH Urologie, Urologische Praxis, Fribourg, 7 Spez. FMH Innere Medizin und Onkologie, Onkologische Fachpraxis, Lausanne, 8 Kantonsspital St. Gallen (Abt. Onkologie/Hämatologie), 9 OnkoZentrum Zürich, 10 CHUV, Klinik für Urologie, Lausanne, 11 Universitätsspital Basel, Klinik für Onkologie, 12 Kantonsspital Chur, (Abt. Onkologie), 13 Spez. FMH Urologische Fachpraxis, Bellinzona.
Interessenkonflikte: Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung der Firmen Pfizer und Bayer ermöglicht.
Quellen:
1. Sönnichsen A, Rinnerberger A: Medizinische Informationsflut und Wissenstransfer in die Praxis – eine Quadratur des Kreises? Schweiz. Ärztezeitung 2008; 89: 44.
2. Shaneyfelt TM: Building bridges to quality. JAMA 2001; 286(20): 2600–1.
3. Schweizerisches Krebsregister. http://asrt.ch/
4. Madersbacher S, Studer UE: Prostatakarzinom. Schweiz. Med. Forum 2002; 46: 1096–100.
5. Schefer H, Schöpfer A, Arnold W, Thum P, Stucki P: Hodentumore. Schweiz. Med. Forum 2003; 40: 950–59.
6. Jost L: Das Urothelkarzinom. Schweiz Med. Forum 2003; 25: 585–91.
7. Ochsenbein AF: Onkologie: Zielgerichtet gegen das Nierenzellkarzinom? Schweiz. Med. Forum 2007; 7: 23–24.
8. Berchtold P, Peier K, Peier C: Erfolgreiche Entwicklung der Ärztenetze in der Schweiz. Schweiz. Ärztezeitung 2008; 89: 47.
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