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Fatigue bei Krebspatienten
Symptomatik, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten Fatigue ist erst im Laufe der letzten 20 Jahre in der Onkologie zu einem anerkannten Patientenproblem geworden. Während früher eine eher nihilistische Einstellung vorherrschte, hat die zunehmende Prävalenz und Ausprägung der Fatigue durch den Einsatz neuer Therapien, insbesondere der biologischen Tumor- und intensiven Kombinationstherapien, die Thematik aktualisiert. Ursachenklärung, Erfassung, Behandlung und Pflege fordern ein differenziertes Vorgehen.
AGNES GLAUS
Verschiedene Autoren schätzen, dass heute über 90% aller Menschen mit Tumorkrankheiten im Laufe ihres Leidens mit Fatigue zu kämpfen haben (1), und dass die aussergewöhnliche Müdigkeit zu einem therapielimitierenden Faktor werden kann. Fatigue wird als Therapienebenwirkung, aber auch als Ausdruck der Krankheitsaktivität sowie des Krankheitserlebens erkannt, womit die multidimensionale Natur des Phänomens zum Ausdruck kommt. Dies erfordert in der onkologischen Betreuung ein differenziertes Vorgehen.
Definition und Symptomatik der Fatigue
Fatigue ist ein Fachbegriff, mit dem deutschsprachige Menschen in der Regel nicht vertraut sind. Das National Comprehensive Cancer Network definiert Fatigue als «ein belastendes, anhaltendes Gefühl
von physischer, emotionaler und kognitiver Müdigkeit im Zusammenhang mit Krebs oder einer Krebsbehandlung, welches mit den Alltagsfunktionen interferiert» (1). Eine Initiative der Fatigue Coalition erstellte 1998 erstmals diagnostische Kriterien für die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD10), womit Fatigue in medizinischen Kreisen zu einer anwendbaren Diagnose wurde (2). Bei einer Konzeptanalyse bei Personen mit Krebs wurde klar, dass Fatigue eine unübliche Müdigkeit darstellt, die sich inhaltlich von der Müdigkeit gesunder Menschen unterscheidet (3). Der Begriff kann als Sammelbegriff verstanden werden, der eine Vielfalt von Müdigkeitsmanifestationen umfasst, welche sich in überwiegend physische, aber auch in affektive und kognitive Sensationen klassifizieren lassen. Diese dreidimensionalen Müdigkeitsmanifestationen sind in der Abbildung dargestellt.
Abbildung: Das multidimensionale «Fatigue-Konzept» (3)
Ursachen
In Analogie zur Theorie der Schmerzentwicklung (4) kann die Entwicklung der Fatigue in Nozizeption, Perzeption und Manifestation eingeteilt werden. Die Nozizeptoren sind spezifische, biochemische, pathophysiologische, immunologische, aber auch behandlungsbedingte Ursachen, die selbsterklärend mit psychologischen Verarbeitungsprozessen und sozialen Einflüssen einhergehen (5). Bei aktiver Tumorkrankheit werden proinflammatorische Zytokine als ein gemeinsamer Denominator in der Pathogenese vermutet (6). Neben diesen immunologischen Mechanismen sind aber auch Folgen der Therapie, der Tumorkrankheit und andere Symptome, wie zum Beispiel Schmerz, Immobilität, Anämie, Schlaflosigkeit oder Ernährungsprobleme als wesentliche Einflussfaktoren für die Entstehung von Fatigue in Betracht zu ziehen (7). Genauso wie beim Schmerz wird ver-
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mutet, dass die Perzeption, die Wahrnehmung und Empfindung der FatigueGefühle, eine Rolle spielen und so die «Müdigkeitsschwelle» bestimmen, welche beispielsweise durch die Art der Krankheitsbewältigung und der erlebten psychosozialen Unterstützung moduliert wird.
Fatigue: «guess or assess»?
Jeder Versuch, die Fatigue zu lindern, geht über die Wahrnehmung durch die behandelnden Fachleute. Obwohl in den letzten Jahren viele Forschungsarbeiten zum Thema Fatigue publiziert wurden, bleibt der Verdacht, dass das Phänomen in der Alltagspraxis kaum vermehrt wahrgenommen und behandelt wird. Sowohl auf Betreuer- als auch auf Patientenseite scheint es Barrieren zu geben, die eine wirksame Kommunikation des Themas erschweren. Resultate einer Studie mit Fokusgruppen haben gezeigt, dass Patienten ein grosses Bedürfnis nach Information über ihre unübliche Müdigkeit haben, und dass sie die Betreuung als ungenügend bezeichnen (8). Patienten nehmen an, dass Ärzte und Pflegende sich nicht besonders für ihre Müdigkeit interessieren, oder dass sie durch das Erwähnen der Müdigkeit gar eine Therapieverzögerung verursachen könnten. Die Alltagspraxis zeigt, dass wir weit davon entfernt sind, Fatigue routinemässig und systematisch anzusprechen. Dennoch bleiben Wahrnehmung («guess») und Messen («assess») der Fatigue der Schlüssel zu jeder Intervention. Heute wird gelegentlich, vor allem in der ambulanten Versorgung, vom Arzt ein Fatigue-Screening mit der einfachen WHO-Klassifikation von 1 bis 4 vorgenommen, und das Resultat wird im Flowsheet der Krankenakte festgehalten. Die klinische Erfahrung zeigt, dass die einfache Frage «Wie geht es Ihnen?» viel über die Lebensqualität und gleichzeitig über Fatigue aussagen kann – sofern die Frage mit echtem Interesse und mit Anteilnahme gestellt wird. Zudem hilft eine durch die Betroffenen selbst ausgefüllte, einfache Fatigue-Intensitäts-Messskala von 0 bis 10, eine Auskunft zu erhalten und den Verlauf systematisch zu dokumentieren. Auch wenn ein komplexeres Messinstrument, wie etwa der Fatigue Assessment
Questionnaire (9) im klinischen Alltag kaum als Screeninginstrument infrage kommt, sollte eine einfache Skala einsetzbar sein. Eine solche Methode könnte auch als ein Einstieg in die psychosoziale Unterstützung genutzt werden, denn die Erfahrung zeigt, dass sich das Einlassen auf die Thematik Fatigue eignet, um mehr über die allgemeine Befindlichkeit der Patienten zu erfahren. Hürni (10) hat in früheren Arbeiten festgehalten, dass die gemessenen Werte der Müdigkeit oftmals mit den gemessenen Werten der Lebensqualität übereinstimmen. Ein Assessment der Fatigue ist selbstverständlich nur dann hilfreich, wenn die Resultate zur Kenntnis genommen und therapeutische Optionen geprüft werden.
Behandlungsmöglichkeiten
Weil der Fatigue so viele verschiedene Ursachen zugrunde liegen, ist deren Behandlung oft unklar und ungenügend. Zum einen gehen einige Tumorformen mit vermehrter Fatigue einher: Beispielsweise scheinen Patienten mit Lungentumoren und Patienten mit Tumoren des Gastrointestinaltrakts oft stark darunter zu leiden (11). Zum anderen sind Patienten unter einer intensiven Tumortherapie (z.B. Frauen mit Brustkrebs und einer adjuvanten Chemotherapie) stark betroffen. Aber auch Krebspatienten mit einer langfristigen, chronischen Krankheit leiden unter unüblicher Müdigkeit, besonders dann, wenn sie sich in der fortgeschrittenen, palliativen Phase befinden. Daraus ergeben sich grundsätzlich drei Interventionsstrategien: 1. Die aktive Bekämpfung der Fatigue
durch gezielte Interventionen, insbesondere in der Tumortherapie- und Rehabilitationsphase. 2. Das Leben mit der Müdigkeit/Fatigue in Anbetracht des eingeschränkten Energiekontos, insbesondere bei chronischer Krankheit. 3. Das Annehmen der Fatigue als Ausdruck der fortschreitenden Krankheit, insbesondere in der palliativen Zeit. Es scheint hilfreich, die Zielsetzung der Fatiguebekämpfung individuell und sorgfältig mit den Patienten festzulegen, um falschen Erwartungen vorzubeugen. Im folgenden Abschnitt werden einige Interventionen zusammengefasst.
Tabelle:
Fatigue-Interventionsstrategien
▲ Fatigue wahrnehmen, anerkennen, screenen, messen
▲ Medikamentöse Linderung der Müdigkeit ▲ Allgemeinmedizinische Probleme lindern ▲ Korrektur von Fatigue-erzeugenden Ursa-
chen – Anämie beheben – andere Symptome bekämpfen ▲ Bewegung, physische Aktivität, Aktivitäts-/ Ruhebalance beachten ▲ «Energiekonto verwalten» im Alltag ▲ Psychologische, spirituelle, kognitive Interventionen ▲ Allgemeine, individuelle Massnahmen ▲ Zulassen der Müdigkeit («Coping»)
Information über die ungewöhnliche Müdigkeit Betroffene und Angehörige haben ein Bedürfnis zu erfahren, weshalb sie sich müde fühlen. Das Wissen darüber, dass es sich um ein häufiges Problem handelt, das bekannt ist, verleiht dem Phänomen nicht nur Berechtigung, sondern vermag auch Fehlvorstellungen abzubauen oder falsche Interpretationen durch Angehörige zu verhindern. Neben dem Gespräch stehen Informationsbroschüren (z.B. «Rundum müde» von der Krebsliga Schweiz) kostenlos zur Verfügung. Auch in der Broschüre «Medikamentöse Tumortherapie», von der gleichen Stelle herausgegeben, beschreibt ein Abschnitt die ungewöhnliche Müdigkeit, vor allem im Zusammenhang mit der Chemotherapie. Patienten haben sich dahingehend geäussert, dass diese Informationsbroschüren viel häufiger abgegeben werden sollten (8).
Kompetente, allgemeinmedizinische Betreuung Eine sorgfältige medizinische Diagnostik kann auf verschiedene Fatigue-Ursachen stossen, für die es Behandlungsansätze gibt. Dazu gehört die Behandlung einer kräfteraubenden Infektion, insbesondere, wenn sie auch die Atmung erschwert und den Gasaustausch in den Lungen verschlechtert, oder auch die Behandlung einer Herzinsuffizienz. Die Be-
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handlung von Komorbiditäten, zum Beispiel die ideale Hypertoniebehandlung, insbesondere bei älteren Patienten, birgt Potenzial für Fatigue-Linderung. Allerdings erfordern diese Komorbiditäten ein regelmässiges, systematisches Ausschliessen einer Polypragmasie, die Fatigue verursachen kann. Nicht zuletzt sind lang wirksame Schlafmittel zu erwähnen, welche am Folgetag einen Hangover verursachen.
Medikamente gegen die Fatigue Im klinischen Alltag werden oft niedrige Dosen von Steroiden als Roborans eingesetzt. Empfohlen wird ein Versuch mit 4 mg Dexamethason morgens für eine Woche (12). Medroxyprogesteronacetat oder Megestrolacetat wurden mit noch unklarem Wirkungsnachweis getestet. Antidepressiva in kleineren Dosen oder Serotoninwiederaufnahme-Hemmer werden gelegentlich eingesetzt; es fehlt aber die Evidenz für den Routineeinsatz. Hingegen wird der Einsatz anderer Psychostimulanzien derzeit vielseitig geprüft, zum Beispiel Modafinil, ein Medikament gegen Narkolepsie. Neuere Studien weisen darauf hin, dass Modafinil einen positiven Effekt haben könnte (13). Eine Untersuchung mit Donepezil, einem Medikament gegen die Demenz, zeigte keine bessere Wirkung gegen Fatigue als Plazebo (14). Erfolg versprechend ist Methylphenidat, welches bei Hyperaktivitätsstörungen eingesetzt wird (15). All diese Behandlungsformen müssen noch weiter erforscht werden. Die klinische Erfahrung der Autorin zeigt aber, dass onkologische Patienten eher abgeneigt sind, noch zusätzliche Medikamente gegen Fatigue einzunehmen. Abschliessend sind hier die Medikamente Erythropoietin und Darbopoietin bei anämischen Patienten unter Chemotherapie zu erwähnen, welche die Fatigue in dieser Situation signifikant positiv beeinflussen können (16).
Korrektur der Anämie und Linderung anderer Symptome Eine Arbeit zeigt, dass anämische Krebspatienten mehr Fatigue erleiden als nicht anämische, und dass beide Gruppen mehr Fatigue empfinden als die normale Bevölkerung (17). Eine andere Studie zeigt, dass Krebspatienten mit einem
Hämoglobin von mehr als 12 g/dl weniger Fatigue empfinden als Patienten mit weniger als 12 g/dl (18). Eine Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der Müdigkeit scheint sich im Bereich des Hämoglobins zwischen 11 g/dl und 13 g/dl einzustellen (16). Diese und weitere Daten zeigen, dass es wichtig ist, bei der Behandlung der Fatigue den Hämoglobinspiegel zu beachten und allenfalls zu korrigieren. Während in der palliativen Situation ein tiefes Hämoglobin rascher mittels einer Bluttransfusion behoben werden kann, besteht Übereinkunft darin, dass das langsame Anheben des Hämoglobins unter Chemotherapie mittels Erythropoietin eine Reduktion der Müdigkeit und Verbesserung der Lebensqualität bewirken kann. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass das Hämoglobin nur einen von vielen Einflussfaktoren für die Fatigue darstellt. Fatigue kann eine Manifestation der Anämie sein, aber die Anämie per se ist nicht dem Konzept der Fatigue gleichzusetzen. Tumorpatienten leiden oft an mehreren Symptomen gleichzeitig. Das Vorkommen von sogenannten Symptomen-Clusters, zum Beispiel Schmerz, Müdigkeit und Schlaflosigkeit, lässt eine Interaktion der Symptome vermuten (19). Dies betont die Wichtigkeit der Linderung anderer Symptome bei der Fatigue-Bekämpfung.
Bewegung, körperliche Aktivität Es zeichnet sich zunehmend ab, dass die therapiebedingte Müdigkeit mit gezielter physischer Aktivität in gewissen Situationen (z.B. bei Frauen mit Brustkrebs und adjuvanter Therapie) verringert werden kann. Als physische Aktivität wird zum Beispiel bei diesen Patientinnen rasches Gehen an der frischen Luft, täglich für zirka 20 Minuten, empfohlen. Patientinnen, die diese Intervention konsequent durchführten, verspürten weniger Müdigkeit, erlebten einen besseren nächtlichen Schlaf und eine bessere Lebensqualität (20, 21). Dass diese Massnahmen nur bei Patienten mit relativ gutem körperlichem Zustand angewandt werden können, ist naheliegend. Trainingsprogramme sind grundsätzlich nur kontraindiziert in Komplikationsphasen (wie Infektionen, drohende Frakturen). Gezielte körperliche Aktivität kann, in be-
grenztem und individuell angepasstem Rahmen, auch Patienten in palliativer Phase guttun. Porock (22) zeigte in einer Untersuchung, dass auch Patienten mit fortgeschrittener Krebskrankheit von körperlichen Aktivitäten profitierten. Erwähnt wurden mehrwöchige Programme mit einem kurzen Spaziergang von 5 Minuten, einmal oder mehrmals täglich, Armbewegungen im Lehnstuhl oder Tanzbewegungen zu bevorzugter Musik. Solche Intervention können Bewegungsabläufe verbessern und Verspannungen lockern. Es ist vorstellbar, dass gezieltes, vertieftes Durchatmen den Gasaustausch positiv beeinflusst. Die klinische Erfahrung zeigt immer wieder, dass Schwimmen oder Velofahren, selbst in schwerer Krankheitssituation, mit relativ wenig Kraftaufwand noch Wohlbefinden verschaffen, und dass Menschen individuelle, manchmal unerwartete Wege wählen. Selten bewirkt die forcierte Bewegung bei Patienten mit aktiven Tumoren totale Erschöpfung (23). In dieser Situation kann die körperliche Aktivierung zur Qual werden. Ein individuelles Vorgehen ist hier erforderlich. Das richtige Mass an Bewegung und Ruhe ist besonders in der Palliativbetreuung eine der grössten Herausforderungen. Patienten mit fortgeschrittener Krankheit bleibt im Kampf gegen die Fatigue manchmal wirklich nur die «Waffe» des Ausruhens. Immer bleibt zu beachten, dass sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Ruhephasen und auch ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Aktivität zu erhöhter Müdigkeit führen können (24).
Energiesparend leben Wenn die Kraft nicht mehr alle üblichen Aktivitäten zulässt, geht es um die gezielte Verwaltung des Energiekontos und um das Setzen von Prioritäten. Eine kranke Mutter wird sich überlegen, ob sie durch eine Haushaltshilfe ihre Energie für die Kinder einsetzen kann. Energiesparend leben heisst, die prioritären Aktivitäten des täglichen Lebens sorgfältig zu planen. Dabei geht es auch um die Erhaltung der Fähigkeiten und des Selbstwertgefühls im Kontext Familie und Beruf. Hilfsmittel, wie Haltegriffe, Sitzgelegenheiten, Rollstuhl, Toilettensitzerhöhung, können helfen, Anstrengun-
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gen zu minimieren; ebenso kann die Mobilisierung mit Rollstuhl, Liege oder dem Auto mithelfen, den Aktionsradius beizubehalten.
Psychologische, spirituelle und kognitive Ansätze Müdigkeit ist auch ein häufiges Symptom einer Depression. Daten zeigen, dass Fatigue und Depression jedoch verschiedene Phänomene sind, und legen nahe, dass es eine grundsätzliche Unterscheidbarkeit zwischen dem Depressions- und dem Fatigue-Syndrom gibt (25). Dies ist deshalb besonders wichtig, weil die Behandlung einer Depression heute – im Gegensatz zur Fatigue-Behandlung – leichter möglich ist. Im Zweifelsfall ist ein psychiatrisches Konsilium zur Differenzialdiagnose sicher angebracht. Es wird vermutet, dass extreme Müdigkeit auch als Folge einer Maladaption an die Krankheitssituation gesehen werden kann (26). Wettergren et al. (27) bestätigt, dass Krebskranke mit einem stärkeren Kohärenzgefühl, also einer eher bejahenden Antwort auf ihr Schicksal, weniger an Fatigue leiden als solche mit einem weniger ausgeprägten Kohärenzgefühl. Solche Daten begründen soziale und psychische Unterstützungsmassnahmen bei der Krankheitsverarbeitung. Zudem ist soziale Isolation, welche als Fatigue-erzeugender Faktor beschrieben wurde, zu verhindern (19). Gerade in der palliativen Zeit, wenn Beziehungen teilweise oder ganz unmöglich werden (z.B. durch Arbeitsunfähigkeit), nimmt die Isolationsgefahr zu. Psychologische oder psychiatrische Interventionen können durchaus auch durch religiöse Unterstützung erfolgreich ergänzt werden. Es hat sich gezeigt, dass gläubige Patienten weniger an Müdigkeit litten als solche ohne Glaubensfundament (28). Die Bedeutung existenzieller Fragen soll in der Betreuung Schwerkranker nicht unterschätzt werden, wenngleich die spirituelle Begleitung heute einen verschwindenden Platz einzunehmen scheint. Die Betroffenheit durch eine schwere Krankheit führt über Zeit zur mentalen oder kognitiven Fatigue. Die Fokussierung aller Gedanken auf spezifische Themen im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen geht auf Kosten des restlichen Lebens. Konzentrations- und
Gedächtnisprobleme, Gefühls- und soziale Einschränkungen werden als Folgen bezeichnet. Postuliert wird, dass es eine Therapie braucht, damit die Aufmerksamkeit wieder anderen Lebensbereichen zugänglich wird, um den Kreislauf zu unterbrechen. Imagination, Relaxation oder Ablenkung durch gezielte Fokussierung auf schöne Dinge seien hier erwähnt (29).
Allgemeine Unterstützungsmassnahmen Generell wird angenommen, dass die Zufuhr von genügend Flüssigkeit die Fatigue lindern kann, wenn auch ohne wesentlichen wissenschaftlichen Nachweis. Flüssigkeit könnte bewirken, dass müdigkeitsinduzierende Abbausubstanzen der Therapie oder anderer Prozesse besser ausgeschieden werden. Bezüglich Vitaminen besteht bei den meisten Patienten sowieso ein Defizit, und ein Supplement mit einem Multivitaminpräparat, welches auch Mineralstoffe enthält, wird oft sehr geschätzt. Die Ernährung, in kleinen Portionen und in abwechslungsreicher Art, ist wichtig für die meist gestörte Energiebalance. Sehr ermüdete Personen sind dankbar für Gerichte, die nicht zu viel Aufwand beim Kauen verursachen und die leicht zu schlucken sind. Erfahrungsgemäss können Genussmittel wie Kaffee, Cola, Tee, Schokolade anregend wirken. Alkohol, insbesondere in Form eines Aperitifs, kann den Appetit anregen, und ein Glas Wein oder Bier ist durchaus empfehlenswert, um die Kalorien zu erhöhen, eine Freude zu bereiten und damit stärkend zu wirken.
Zusammenfassung
Das Konzept Fatigue hat viele Gesichter. Die Betroffenheit des ganzen Menschen spiegelt die Multidimensionalität des Phänomens. Die Wahrnehmung von Fatigue-Manifestationen und das alltägliche Screenen respektive die Nachfrage nach Müdigkeit sollte zur Routineversorgung gehören. Die Therapie basiert auf strategischen Ausrichtungen, die einen realistischen Umgang mit Fatigue fördern und Fehlerwartungen verhindern. Die Interventionen werden von teils bekannten, teils vermuteten Ursachen abgeleitet. Dem Betreuungsteam stellt sich die Aufgabe, die Hauptprobleme und
Ursachen individuell zu identifizieren und
entsprechende, therapeutische Mass-
nahmen in Erwägung zu ziehen. Dazu
können das aktive Bekämpfen der Mü-
digkeit, das Leben mit eingeschränktem
Energiekonto und das Annehmen der
Müdigkeit als Teil der letzten Lebens-
phase gehören.
Zweifellos ist die Gestaltung des Lebens
in der palliativen Phase bezüglich Kraft,
Energie und Fatigue eine Kunst, bei der
Aktivität und Ausruhen in bedachter
Weise angepasst werden müssen. Hierzu
gehört auch Loslassen: «Müde sein dür-
fen» in palliativen Zeiten kann auch als
eine Art Schutzschild dienen. For-
schungsarbeit ist in diesem delikaten
Gebiet nötig, um dem Können und Wis-
sen in Medizin und Pflege eine solide Ba-
sis zu verschaffen.
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Dr. Agnes Glaus (PhD, RN) Wissenschaftliche Mitarbeiterin ZeTuP, Zentrum für Tumordiagnostik, Behandlung und Prävention Rorschacherstrasse 150 9006 St. Gallen E-Mail: aglaus@sg.zetup.ch
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