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Im Fokus: Primäre Hirntumoren bei Erwachsenen: Gliome
Systemtherapie bei Gliomen
Medikamentöse Ansätze bei Glioblastomen, anaplastischen Gliomen und niedrig gradigen Gliomen
Eine Systemtherapie gehörte lange Zeit nicht zur Standardtherapie von Gliomen. In den letzten zehn Jahren hat jedoch ein Umbruch stattgefunden: ZNS-gängige Medikamente und prädiktive Faktoren bei den einzelnen Gliomsubtypen erlauben eine differenzierte Therapieempfehlung.
SILVIA HOFER, ROGER STUPP
Gliome betreffen als infiltrative Erkrankung das gesamte Gehirn (Abbildung 5), deshalb gehört zur lokalen Therapie – Operation und Radiotherapie – zu einem bestimmten Zeitpunkt meist auch eine Systemtherapie. Im Folgenden werden die aktuellen Therapieoptionen für die verschiedenen Subtypen von Gliomen dargestellt.
Glioblastome (GBM, WHO-Grad IV)
Die aktuelle Klassifikation dieser Entität finden Sie in der Tabelle Seite 6 dieser Ausgabe. Trotz multimodalen Therapieansätzen bleibt das Glioblastom eine unheilbare Krankheit. Das mittlere Überleben nach der heutigen Standardtherapie liegt bei knapp 1,5 Jahren.
Überlebensvorteil bringt, ohne Beeinträchtigung der Lebensqualität (2). Wegen der grundsätzlich nur kurzen Überlebenszeit wird meist ein vereinfachtes und verkürztes Bestrahlungsschema empfohlen (z.B. 40 Gy über 3 Wochen anstelle der üblichen 60 Gy innert 6 Wochen) (3). Laufende Studien untersuchen zudem eine alleinige Chemotherapie bei älteren Patienten. Der Allgemeinzustand (in der Onkologie meist als WHO- oder Karnfoski-Performance-Status ausgedrückt), Komorbiditäten, kognitiver und neurologischer Zustand sind für die individuelle Therapieempfehlung von Bedeutung.
Profitieren alle Patienten von einer kombinierten Radiochemotherapie?
Kombinierte Radiochemotherapie Seit der kürzlichen Publikation einer grossen, randomisierten Studie (1) gilt die postoperative RadioChemotherapie, gefolgt von sechs Monaten weitergeführter Chemotherapie, als anerkannter internationaler Therapiestandard für Patienten mit einem neu diagnostizierten Glioblastom und gutem Allgemeinzustand (Abbildung 1). Diese Studie wurde von der EORTC (European Organisation for Research and Treatment of Cancer) und dem NCIC (National Cancer Institut of Canada) geleitet. Die 573 Patienten wurden randomisiert und erhielten entweder eine Strahlentherapie alleine oder Radiotherapie mit gleichzeitiger Temozolomid-(Temodal®-)Chemotherapie, gefolgt von sechs Monaten Temozolomid-Erhaltungstherapie. Die Zwei-Jahres-Überlebensrate für Patienten mit der Kombinationstherapie betrug 27%, aber nur 10% unter der alleinigen Strahlentherapie. Da ein höheres Alter der Patienten häufig ein prognostisch ungünstiger Faktor ist, wurde die Altersgrenze in der EORTC/NCIC-Studie auf 70 Jahre gelegt. Zu beachten: Kürzlich wurde in einer randomisierten Studie gezeigt, dass zumindest die Radiotherapie auch bei Patienten über 70 Jahren einen
Die Rolle des DNA-Reparatur-Gens: MGMT Eine wissenschafltiche Begleitstudie zur erwähnten EORTC/NCIC-Studie hat das Tumorgewebe der Patienten untersucht und kam zu einem interessanten Schluss: Die Inaktivierung des MGMT-Gens entscheidet über den Therapieerfolg. Dieses Gen respektive das entsprechende Reparationsprotein (die sog. Methylgunanin-Methyltransferase) kann den DNA-Schaden – verursacht durch eine alkylierende Chemotherapie – rasch reparieren. Fehlt dieses Enzym im Tumor, reagiert er besonders empfindlich auf die Chemotherapie. Bei Glioblastomen ist das MGMTGen bei rund der Hälfte der Patienten inaktiviert, das heisst methyliert (Methylierung des Genpromoters). Im Rahmen der EORTC/NCIC-Studie hatten 45% der Tumoren einen methylierten MGMT-PromotorStatus. Die Zwei-Jahres-Überlebensrate bei diesen Patienten betrug 46% nach der kombinierten Chemoradiotherapie, aber lediglich 14% bei Patienten, bei denen das Resistenzgen exprimiert war (4, Abbildung 2). Sicher ist die Methylgunanin-Methyltransferase nicht der alleinige Resistenzmechanismus, der für das Scheitern einer alkylierenden Chemotherapie bezie-
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hungsweise für das Auftreten eines Tumorrezidivs verantwortlich ist. Die Daten suggerieren aber, dass eine alkylierende Chemotherapie bei Tumoren mit exprimiertem MGMT wahrscheinlich nur wenig wirksam ist. Im Rahmen von laufenden Studien werden die prospektive Testung des Aktivierungsstatus der MGMT etabliert und alternative Therapiestrategien entwickelt. Bis zum Vorliegen von Resultaten empfehlen wir die routinemässige MGMT-Testung zurzeit noch nicht (20). Allgemein wird die kombinierte Radiochemotherapie und nachfolgende Chemotherapie von den Patienten gut vertragen. Lebensqualitätsanalysen konnten dies bestätigen (5).
Abbildung 1: Postoperative Standardtherapie beim Glioblastom (1) (EORTC/NCIC-Therapieschema, adaptiert nach [1])
Myelosuppression Die kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid und auch die häufig eingesetzten Kortikosteroide bewirken eine iatrogene Immunsuppression. Diese zeigt sich in einem Abfall der CD4Zellen auf Bereiche < 200/µl. Dieser Zustand kann einige Monate über den Abschluss der Kombinationstherapie hinaus anhalten, deshalb wird eine Pneumocystis-carinii-Prophylaxe empfohlen (mittels Pentamidin®-Inhalationen 1 x pro Monat oder Bactrim® forte 3 x pro Woche). Die Dauer dieser Prophylaxe sollte sich nach der Lymphozytenzahl richten. In der Regel erholen sich die Lymphozytenwerte auf über 500/mm3 respektive die CD4Werte auf über 200/mm3 innert vier bis acht Wochen nach Abschluss der Radiochemotherapie (6).
Überleben
methylierte MGMT
nicht methylierte MGMT
Monate
Abbildung 2: Überlebenraten bei Glioblastompatienten unter Radiochemotherapie: Patienten mit Inaktivierung (Methylierung) der MGMT (Methylguanin-Methyltransferase), hauptsächliches Resistenzenzym für alkylierende Substanzen, profitieren deutlich im Vergleich zu solchen, bei denen das Enzym MGMT nicht methyliert ist (4, 20).
Radiosensibilisierung durch die Chemotherapie In-vitro-Daten bestätigen die Synergie von Temozolomid mit Radiotherapie (7). Trotz allgemein guter Verträglichkeit beobachtet man unter der Kombinationstherapie gehäuft therapiebedingte frühe Nekrosen (2 bis 6 Monate postoperativ), welche sich bildgebend und klinisch schwer von einem Frührezidiv unterscheiden (8). Gelegentlich ist eine zweite chirurgische Intervention notwendig. Histologisch findet man dann flächige Nekrosen mit spärlichen Tumorzellinfiltraten und praktisch fehlenden soliden Tumoranteilen (Abbildung 3). Dies ist an sich ein erwünschter Thera-
pieeffekt, muss aber als solcher erkannt und in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden. Eine Messung des Metabolismus, zum Beispiel mit MRI-Spektroskopie oder PET, kann im Einzelfall weiterhelfen (9). Zusammenfassend zeigen die Daten, dass eine kombinierte Radiochemotherapie, früh postoperativ eingesetzt, bei den aggressiv wachsenden Glioblastomen für das Überleben wichtig ist.
Optionen beim Glioblastomrezidiv Trotz verbesserter Primärtherapie rezidivieren praktisch alle Glioblastome früher oder später. Eine sinnvolle Therapie im
Rezidiv bleibt eine Herausforderung, eine Standardtherapie fehlt noch. Die Therapieempfehlungen richten sich nach Art der initalen Behandlung, Zeitpunkt und Intervall des Rezidivs seit der Primärtherapie, der Tumorlokalisation und -grösse. Neue Therapieansätze werden im Rahmen klinischer Studien untersucht; einige Studienprotokolle sind an ausgewählten Zentren auch in der Schweiz verfügbar. (Hierzu empfiehlt sich eine frühzeitige Überweisung, da verschiedene Vortherapien häufig einen Ausschluss für ein Studienprotokoll bedeuten.) Grundsätzlich sollte die Indikation
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zu einer erneuten Operation geprüft werden, besonders bei «rasch therapiebedürftigen» Symptomen. Auch mit einer Zweitoperation ist eine medikamentöse Therapie angezeigt, da die Tumoren andernfalls sofort wieder nachwachsen. Als Chemotherapeutikum kann nochmals Temozolomid eingesetzt werden (wenn die vorherige Therapie einige Monate zurückliegt), aber auch die gut verträglichen Nitrosoharnstoffe, beispielsweise Lomustin (CCNU, Prava®) oder Carmustin (BCNU) sind wirksam. Irinotecan (CPT11, Campto®) alleine oder in Kombination mit dem VEGF-Antikörper Bevacizumab (Avastin®) zeigt Aktivität, wobei Bevacizumab mit einer erhöhten Blutungsgefahr einhergeht (und deshalb nicht innert 6 Wochen vor oder nach einem operativen Eingriff eingesetzt werden sollte) (10). Das PCVRegime (Procarbazin, CCNU, Vincristin) wurde früher häufig verwendet; es ist aber sehr knochenmarktoxisch, besonders nach chemotherapeutischer Vorbehandlung, und wird deshalb heute seltener eingesetzt. Taxane, Gemcitabin und Topotecan sind nicht aktiv bei Glioblastomen. Die EGFR-Tyrosinkinase-Hemmer (Gefitinib und Erlotinib) haben, trotz initial hoffnungsvollen Berichten, in einer kontrollierten und randomisierten PhaseII-Studie der EORTC keinen Erfolg gezeigt (11) – trotz häufig amplifiziertem oder überexprimiertem EGFR auf den Glioblastomzellen. Offenbar genügt die alleinige Inhibierung der EGFR-Phosphorylierung nicht, mögliche andere molekulare Mechanismen müssen prospektiv erfasst werden. Ausserhalb von Studien sollen diese Substanzen deshalb nicht eingesetzt werden.
Anaplastische Gliome (WHO-Grad III)
Die aktuelle Klassifikation dieser Entität finden Sie in der Tabelle Seite 6 dieser Ausgabe. Zirka 20 bis 30% aller neu diagnostizierten primären Hirntumoren beim Erwachsenen sind WHO-Grad-III-Gliome. Früher wurden diese sogenannten anaplastischen Tumoren und die Glioblastome (WHO Grad IV) gemeinsam als maligne Gliome bezeichnet und auch gleich behandelt. Heute wissen wir, dass es sich molekulargenetisch und biologisch um
Abbildung 3: Posttherapeutische Nekrose nach kombinierter Radiochemotherapie: flächige Nekrose, wenig infiltrierende Tumorzellen in Nachbarschaft von Gefässen (Abb. NeuropathologieInstitut USZ)
Postoperative Therapien
Neudiagnosen
Standard
Glioblastome
TMZ/RT → TMZ (1)
anapl. Astrozytome anapl. OligodendroGliome oder Mischgliome Grad-II-Gliome (low-grade-Gliome) Rezidive Glioblastome
anaplastische Astrozytome anaplastische Oligozytome
RT RT
RT (16, 17)
Re-Exposition mit TMZ Nitrosoharnstoff, PVC Beva/CPT 11 wie GBM wie GBM
alternativ hypofrakt. RT > 70 Jahren Studien Studie RT → CT oder CT bei Rezidiv (14, 15) Studie (18) Chemotherapie (18)
entsprechend Studien
Studien Studien
Abbildung 4: Postoperative Standard- und Alternativtherapien bei Gliomen
RT = Radiotherapie, CT = Chemotherapie, TMZ = Temozolomid, PCV = Procarbazin, CCNU, Vincristin, CPT = Irinotecan, Beva = Bevacizumab, GBM = Glioblastome
distinkte Entitäten handelt. Der klinische Verlauf von anaplastischen Gliomen ist langsamer. Bei anaplastischen Astrozytomen beträgt die mittlere Überlebenszeit zwei bis drei Jahre. Patienten mit reinen anaplastischen Oligodendrogliomen (mit einem genetischen Informationsverlust auf dem langen Arm von Chromosom 1 und dem kurzen Arm von Chromosom 19, sog. LOH 1p/19q) können von über sieben Jahren ausgehen.
Während bei Glioblastomen die kurzzeitige Prognose bei therapeutischen Überlegungen eine Rolle spielt und allfällige Langzeittoxizitäten nicht mehr erlebt werden, fallen bei weniger aggressiven Tumoren die Risiken einer Kombinationstherapie ins Gewicht. Langzeiterfahrungen zur Toxizität nach kombinierter Radiochemotherapie fehlen noch. Die Erfolge der kombinierten Radiochemotherapie bei den Glioblastomen dürfen
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Abbildung 5: Gliome sind infiltrative Erkankungen des Gehirns, Tumorzellen sind mikroskopisch nachweisbar bis in die gegenüberliegende Hemisphäre in abnehmender Dichte (schematische Darstellung adaptiert nach histologischen Untersuchungen von Prof. P.C. Burger, John Hopkins University, Baltimore, USA, mit freundlicher Genehmigung).
bestätigen konnten, wurde durch die früh eingesetzte Chemotherapie (vs. Chemotherapie erst beim Rezidiv) das Überleben erstaunlicherweise nicht verbessert. Lediglich das progressionsfreie Intervall war unter der frühzeitigen (adjuvanten) Chemotherapie etwas verlängert. Die Strategie, Chemotherapie erst beim Rezidiv zu geben, war in beiden Studien immer noch eine effektive Therapie. Somit kann bei kleinen Tumoren eine Radiotherapie alleine als postoperative Therapie angeboten werden und eine Chemotherapie erst beim Auftreten eines Rezidivs. Anaplastische Oligodendrogliome und anaplastische Mischgliome können bei Auftreten des Rezidivs mit Chemotherapie behandelt werden, sei es mit einer Erstlinien- oder Zweitlinientherapie. Dabei werden Temozolomid oder das PCVRegime am häufigsten verwendet.
Abbildung 6: Die Methylgruppe an der O6-Position des Guanins wird durch die MGMT entfernt. Dieser Methylgruppen-Transfer führt zu einer irreversiblen Inaktivierung der MGMT, sie wird degradiert (sog. Suizidreaktion). Die Reparaturkapazität einer Zelle hängt von der MGMT-Menge ab. Die MGMT-Menge ist bei einem Individuum in verschiedenen Organen unterschiedlich.
nicht direkt auf WHO-Grad-III- oder gar Grad-II-Tumoren übernommen werden. Anaplastische Gliome befallen jüngere Patienten mit einer Häufung um die dritte bis vierte Lebensdekade. Nur wenige Chemotherapiestudien haben ausschliesslich anaplastische Gliome eingeschlossen, die Datenlage ist entsprechend beschränkt. Metaanalysen suggerieren jedoch einen Vorteil einer Chemotherapie auch bei WHO-Grad-IIITumoren hinsichtlich einer Verlängerung des Überlebens beziehungsweise eines
verlängerten progressionsfreien Überlebens (12). Die Chemotherapie kann aber auch erst im Rezidivfall eingesetzt werden. Die ausschliessliche postoperative Bestrahlung als Ersttherapie bleibt weiterhin eine Option. Im Rahmen einer weltweiten, von der EORTC koordinierten Studie wird der Effekt einer frühzeitigen Temozolomid-Chemotherapie zusammen mit Bestrahlung oder nachfolgender Bestrahlung mit einer alleinigen Radiotherapie verglichen. Diese Studie schliesst Patienten ein mit anaplastischen Astrozytomen und einem fehlendem LOH-1p/19q-Gen (welches der schlechten prognostischen Subgruppe entspricht). Prognostisch günstiger sind die anaplastischen Oligodendrogliome mit LOH1p/19q-Gen, sie gelten als besonders empfindlich auf Chemotherapie (13). Kürzlich wurden etwas überraschende Resultate zweier ähnlich angelegter, randomisierter Studien publiziert, welche von der RTOG (USA) und EORTC (Europa) (14, 15) durchgeführt wurden, und zwar bei Patienten mit anaplastischen reinen oder gemischen Oligodendrogliomen. Das PCV-Regime wurde vor oder im direkten Anschluss an die postoperative Bestrahlung verabreicht. Obwohl beide Studien eine bessere Prognose für Patienten mit reinen Oligodendrogliomen und LOH-1p/19q
Diffuse Astrozytome und Oligodendrogliome (WHO-Grad II )
Die aktuelle Klassifikation dieser Entität finden Sie in der Tabelle Seite 6 dieser Ausgabe. Diese Low-grade-Tumoren manifestieren sich sehr häufig mit epileptischen Anfällen. Nach Einstellung mit Antiepileptika (AE) können die Patienten über längere Zeit ohne wesentliche Symptome sein. Hier ist eine aktiv beobachtende, abwartende Haltung (watchful waiting) gerechtfertigt. Dies bedeutet jedoch, dass Patienten mindestens zweimal jährlich gesehen werden sollten und in der Regel eine MRI-Kontrolle veranlasst wird. Im Falle von Tumorprogress, Zeichen der malignen Transformation (erkennbar z.B. in der MRI-Kontrastmittelaufnahme) oder zunehmender Symptomatik ist eine Radiotherapie indiziert. Häufig ist die Tumorinfiltration diffus und verlangt ein sehr grosses Bestrahlungsvolumen, was ein entsprechendes Risiko späterer neurokognitiver Behinderungen mit sich trägt. Deshalb wird mit einer Bestrahlung so lang wie möglich zugewartet. Ein Alter über 40 Jahre, Tumorgrösse über 6 cm, Tumoren, welche die Mittellinie überschreiten und neurologische Defizite sind prognostisch negative Faktoren (16, 17).
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Als Alternative zur Strahlentherapie wurde die Wirksamkeit von Chemotherapie in mehreren kleinen Phase-II-Studien geprüft (18). Meist wurde das PCVSchema oder Temozolomid verwendet. Es dauert lange, bis ein therapeutischer Effekt beobachtet wird (> 6 Monate), und häufig ist der Erfolg nur klinisch fassbar (z.B. Rückgang der Frequenz von epileptischen Anfällen), wohingegen das MRI meist eine Stabilisierung des Befunds zeigt. Im Rahmen von prospektiven Studien wird aktuell evaluiert, ob Aminosäuren-PET-Untersuchungen ein metabolisches Therapieansprechen frühzeitig erfassen könnten (19). Auch bei den Grad-II-Tumoren scheinen Patienten mit LOH-1p/19q-Gen besser auf Chemotherapie anzusprechen. Ob Chemotherapie (über 12 Monate) oder Radiotherapie (50 Gy über 5 Wochen) als Erstlinientherapie eingesetzt werden soll, wird gegenwärtig im Rahmen einer grossen EORTC/ NCIC-Studie (22033/26033) geprüft, die auch für Schweizer Patienten offen ist. Der primäre Endpunkt wird das progressionsfreie Überleben sein. In zweiter Linie interessieren die Lebensqualität und die
kognitiven Funktionen. Bei einer Krankheit, bei welcher ein Überleben über einige Jahre zu erwarten ist (5 bis 15 Jahre mit Erleben von Spättoxizitäten der Therapien), ist der sequenzielle Einsatz einzelner Therapiemodalitäten einer multimodalen Upfront-Therapie vorzuziehen.
Weitere Massnahmen
Bei allen prospektiven grossen Studien ist eine Tumorgewebeasservation essenziell. Das Tumorgewebe und eine Blutprobe (als «Normalgewebe») sollen noch im Operationssaal tiefgefroren werden, um die molekularen Begleituntersuchungen durchführen zu können. Dies ist unabdingbar für das Verständnis der Gliomerkankung und für Therapiefortschritte. Supportive Massnahmen sollen im Verlauf der Erkrankung grosszügig verschrieben werden. Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie helfen, Funktionseinbussen zu kompensieren und die Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten. Verbesserungspotenzial besteht im Bereich der Unterstützung von Angehörigen, denn sie erfahren meist
Chemotherapie und Antiepileptika
Gewisse ältere Antiepileptika (AE), inbesondere Phenytoin (Epanutin®, Phenydan®), Carbamazepin (Tegretol®), Oxcarbamazepin (Trileptal®) oder Phenobarbital (Luminal®), erhöhen den hepatischen Metabolismus vieler Chemotherapeutika durch Enzyminduktion. Obwohl der Metabolismus von Temozolomid und Nitrosoharnstoffen durch diese Enzyminduktion nicht erhöht wird, betrifft dies viele neuere Substanzen, welche im Rezidivfall eingesetzt werden. Idealerweise werden Patienten frühzeitig auf Antiepileptika der 3. Generation z.B. Lamotrigin (Lamictal®), Levetiracetam (Keppra®) oder Topiramat (Topamax®) umgestellt. Valproat (Depakine®) inhibiert den Lebermetabolismus, jedoch in klinisch nicht signifikantem Ausmass.
Molekulare Diagnostik und Gliome
LOH 1p/19q Bei den WHO-Grad-II- und -Grad-III-Gliomen mit oligodendroglialer Komponente ist eine molekulare Klassifizierung nach LOH 1p/19q für die Prognose wichtiger als die histomorphologische Einteilung, welche stark vom beurteilenden Pathologen abhängig ist. Tumoren mit einem LOH 1p und 19q sprechen gut auf Chemotherapie an, trotzdem soll dieser Marker für den Entscheid, ob eine Chemotherapie eingesetzt wird oder nicht, nicht als einziges Kriterium verwendet werden, da LOH 1p/19q mehr prognostischen als prädiktiven Wert hat. Reine anaplastische Oligodendrogliome zeigen in 60 bis 70% einen kombinierten LOH 1p/19q. Anaplastische Oligoastrozytome weisen diesen Allelverlust seltener auf.
MGMT (Methylguanin-Methyltransferase) Alkylierende Substanzen wie Temozolomid und Nitrosoharnstoffe (CCNU, BCNU) wirken hauptsächlich über die Methylierung der DNA, speziell an der O6-Position des Guanins mit resultierendem Basenpaar-Mismatch und Zelltod. Einige Tumoren exprimieren das Reparaturenzym MGMT. Dieses Enzym kann das methylierte O6-Guanin entfernen (Abbildung 6), was einer Resistenz des Tumors gegenüber der Chemotherapie gleichkommt. Tumoren mit niedriger MGMT-Aktivität (durch Methylierung des Promotors des MGMT-Gens) sind chemosensibler. Oligodendrogliome scheinen eine niedrige MGMT-Expression zu haben, was wiederum assoziiert zu sein scheint mit einer 1p/19q-Deletion.
innert kurzer Zeit eine komplette Umstel-
lung familiärer und beruflicher Gegeben-
heiten. Die Krebsliga, Fragile Suisse und
private Organisationen können Unter-
stützung anbieten.
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Dr. med. Silvia Hofer (Korrespondenzadresse) Klinik und Poliklinik für Onkologie UniversitätsSpital Zürich Rämistrasse 100 8091 Zürich E-Mail: silvia.hofer@usz.ch
und
PD Dr. med. Roger Stupp Centre Pluridisciplinaire d’Oncologie Clinique Hôpital Universitaire Vaudois (CHUV) Rue du Bugnon 46 1011 Lausanne E-Mail: roger.stupp@chuv.ch
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Prisma
Primäre Hirntumoren weltweit: einige Zahlen
Im Vergleich mit anderen malignen Tumoren treten primäre Hirntumoren selten auf. Die häufigste Form, das Glioblastoma multiforme (GBM), ist zugleich die aggressivste. Gemäss Schätzungen (1) werden 2007: ● etwa 26 000 neue Fälle an GBM in den
USA, in Japan, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Grossbritannien diagnostiziert ● allein in den USA zirka 14 000 Menschen an Hirntumoren sterben.
Forschungspipeline trotz «orphan disease» Für die pharmazeutische Forschung steht die Entwicklung neuer Medikamente bei GBM (und anderen Hirntumoren) wegen der relativen Seltenheit dieser Tumoren zwar nicht im Vordergrund, spielt aber aus besonderen Motiven dennoch eine Rolle: Wegen des allge-
mein schlechten Überlebens mit den älteren Standardtherapien hat die Entwicklung neuer, zielgerichteter Therapien eine Chance auf Realisierung (selbst wenn nur bescheidene Therapieerfolge erreicht werden). Dr. Tom Gray, Datamonitor Oncology Analyst, meint vor dem Hintergrund hoher Entwicklungskosten und Medikamentenpreise: Die Seltenheit der primären Hirntumoren gebe Arzneimittelherstellern einige regulatorische Vorteile, insofern, dass Restriktionen in der Kostenerstattung hierbei aufgehoben sein könnten. In der Forschungspipeline bei Hirntumoren findet sich ein beachtenswertes Studienvolumen bezüglich der «targeted therapies»: Hierzu gehören beispielsweise Therapien mit Bevacizumab (Avastin®, Roche) und Cediranib (Recentin®, AstraZeneca), welche in Phase-IIStudien geprüft werden. Gray schätzt,
dass noch zwei Jahre vergehen, bevor
diese Medikamente für Hirntumorpati-
enten allgemein zugänglich sind. Unter
den neuen Therapien bei der Indikation
GBM steht Temozolomid (Temodal®) der-
zeit auf dem ersten Platz. Dabei sei im-
mer die Notwendigkeit der (besonders
bei Hirntumorpatienten) sehr individuel-
len Behandlung und Indikation zu beach-
ten, so Gray.
▲
hir
Quelle: 1. Datamonitor press release, 5. September 2007.
(Korrespondenz: Matthew Dick, Tel. +44-20-7551-9387; E-Mail: mdick@datamonitor.com)
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