Transkript
Journal Club
European Cancer Anaemia Survey (ECAS)
Anämie: häufig, klinisch relevant und unterbehandelt
Viele Untersuchungen haben seit längerem darauf hingewiesen, dass ein optimaler Ausgleich der krebsassoziierten Anämie positiv zum Gesamterfolg der Tumortherapie beiträgt. Jetzt hat die bisher grösste Langzeitstudie zu Anämie bei Krebspatienten (ECAS) ein repräsentatives Bild zur Grösse des Problems in Europa dokumentiert: Im Verlauf der sechsmonatigen Erhebung waren fast 70 Prozent der Patienten zu einem Zeitpunkt anämisch. Der niedrige Hämoglobinwert im Blut korrelierte eindeutig mit schlechtem Befinden (Performance-Status). Nur 38,8 Prozent der Patienten mit Tumoranämie wurden behandelt.
Bisher stammten Informationen zur Prävalenz, Inzidenz und Therapie der Tumoranämie nur aus kleineren Studien, die sich gezielt mit diesem Thema beschäftigten, oder aus klinischen Studien mit verschiedenen Zytostatika. Fast alle zeigten, dass die Tumoranämie mit einem schlechteren Outcome korreliert. Allerdings bezogen sich diese Erkenntnisse auf ein selektiertes Patientenkollektiv mit überwiegend schwerer Anämie (Hämoglobinwert < 8 g/dl). Zu Prävalenz, Inzidenz und klinischer Bedeutung der Anämie, insbesondere in einer leichten bis mittelschweren Ausprägung in einer grossen Population von Tumorpatienten, fehlte es bisher an Daten («leicht» definiert als: Hämoglobinwert zwischen 10 und 12 g/dl, «mittelschwer»: Hämoglobinwert zwischen 8 und 10 g/dl). 748 Zentren, 15 000 Patienten Mit ECAS wurde eine prospektive epidemiologische Beobachtungsstudie in 24 europäischen Ländern unternommen, in denen 748 onkologische Zentren teilnahmen. Eine einzige Abweichung von einem repräsentativen Querschnitt war entstanden: Das Prostatakarzinom war in dem Gesamtkollektiv von 15 367 eingeschlossenen Patienten etwas unterrepräsentiert, da diese Tumorart in Europa häufig von Urologen behandelt wird. Patientendaten wurden zu Beginn, an sechs Kontrollterminen und am Ende der Studie nach sechs Monaten erhoben. Bei Chemotherapiepatienten fand die Datenerhebung am Ende jedes Zyklus, bei Radiotherapiepatienten drei bis sechs Wochen nach Beginn der Bestrahlung statt. Von den eingeschlossenen Patienten beendeten 68,2 Prozent die Studie. Die evaluierbare Population umfasste 14912 Patienten; 455 mussten als fehlklassifiziert ausgeschlossen werden. Für die Analyse des weiteren Verlaufs während der Studie und die Therapie kamen weitere 1284 Patienten nicht in Betracht, da keine Verlaufsdaten vorlagen (analysierbare Population: n = 13 628). Fast 40 Prozent mit Anämie bei Studienbeginn Von den 14 520 Patienten, von denen bei Studienbeginn Hämoglobinwerte vorlagen, waren 39,3 Prozent anämisch (Hämoglobinwert < 12 g/dl). Bei den meisten (29,3%) lagen die Werte zwischen 10 und 11,9 g/dl. Gehäuft von Anämie betroffen waren, mit 48,5 Prozent, Patienten mit persistierender oder rezidivierender Tumorerkrankung und, mit 50,5 Prozent, Patienten, die zu Beginn bereits eine Chemotherapie erhielten (43,5% bei Radiochemotherapie zu Studienbeginn). Der Schweregrad der Anämie korrelierte mit dem WHO-Performance-Status. Schlechte Score-Werte von 2 bis 4 hatten 50,7 Prozent der Patienten mit schwerer Anämie (Hämoglobin < 8 g/dl), 40 Prozent mit mittelschwerer Anämie (8 bis 9,9 g/dl), aber auch 24,8 Prozent mit leichter Anämie (10 bis 11,9 g/dl). Der mittlere Hämoglobinwert in der Gruppe mit WHO-Score 0 lag mit 12,8 g/dl signifikant höher als in der Gruppe mit WHOScore 4 mit 10,2 g/dl. Schwere Anämien bei gynäkologischen Tumoren und Lungenkrebs Von den Patienten, deren Daten analysiert werden konnten, hatten 67 Prozent zu irgendeinem Zeitpunkt der Erhebung anämische Hämoglobinspiegel. Bei über einem Drittel (39,3 %) dieser Patienten lag der niedrigste gemessene Wert unter 10 g/dl. merksätze ▲ Nach den Therapieleitlinien der ASH/ASCO wird eine generelle Indikation für die Therapie der Tumoranämie erst bei Hämoglobinwerten unter 10 g/dl gesehen. Zwischen 10 und 12 g/dl und bei symptomatischen Patienten kann eine Therapie durchgeführt werden. ▲ ECAS zeigt, dass 14% der Tumorpatienten mit Hämoglobinwerten unter 10 g/dl nicht behandelt werden. Die Hälfte der Patienten mit schlechtem WHO-Performance-Score erhält zudem keine Anämietherapie. Die ASCO/ASHLeitlinien bleiben folglich unberücksichtigt. ▲ ECAS findet eine hohe Prävalenz und Inzidenz der Tumoranämie. Auch die leichte Anämie wirkt sich auf den Performance-Status signifikant aus. ONKOLOGIE 4/2004 35 Journal Club Neueste Richtlinien der EORTC Die European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) hat aktuell neue Richtlinien zur Behandlung von Anämie mit Erythropoietin bei Krebspatienten her- ausgegeben. Hierzu gehören v.a.: ▲ Beseitigung zusätzlicher Anämieursachen, sofern möglich (wie Eisenmangel, Blutun- gen, Mangelernährung, Hämolyse) vor Be- ginn der EPO-Therapie ▲ Frühzeitiger Behandlungsbeginn, bei ei- nem Hb-Spiegel von 9–11 g/dl; Fortset- zung bis Hb 12–13 g/dl und bis der Patient eine Verbesserung der Symptome verspürt. Die EORTC-Richtlinien wurden von einem in- terdisziplinären Team von Onkologen und Hämatologen (s. Quelle) erarbeitet, welches eine systematische Durchsicht der zwischen 1996 und 2003 veröffentlichten Literatur vornahm. hir Quelle: Bokemeyer, C., Aapro, M.S., Courdi, A., Foubert, J., Link, H., Osterborg, A., Repetto, L., Soubeyran, P.: EORTC guidelines for the use of erythropoietic proteins in anaemic patients with cancer. Eur. J. Cancer. 2004 Oct; 40 (15): 2201–16. Besonders häufig und schwer betroffen waren Patienten mit gynäkologischen Tumoren und Lungenkrebs: ▲ 81,4 Prozent bei gynäkologischen Tumoren (davon 57,2% mit Werten zwischen 10 und 11,9 g/dl, und 35,3% mit Werten zwischen 8 und 9,9 g/dl) ▲ 77 Prozent bei Lungenkrebs (davon 53,9% mit Werten zwischen 10 und 11,9 g/dl und 39,3% mit Werten zwischen 8 und 9,9 g/dl). Von den Patienten, die Chemotherapie erhielten, waren drei Viertel, von den kombiniert behandelten Patienten 71,8 Prozent und von den Patienten ohne jegliche Tumortherapie im Studienzeitraum 39,7 Prozent zu einem Studienzeitpunkt anämisch. Eine Inzidenzpopulation von 2732 Patienten, die bei Beginn der Studie keine Anämie aufwies und während der Studie erstmals Chemo- oder Radiotherapie erhielt, wurde gesondert analysiert. Von ihnen entwickelten 53,7 Prozent eine Anämie (38,5% leicht, 13,8% mittelschwer und 1,4% schwer). Die Anämiequote lag mit 62,7 Prozent am höchsten bei den Chemotherapiepatienten. Mit der Zahl der Zyklen nahm die Inzidenz stetig zu. Patienten mit Lungenkrebs und gynäkologischen Tumoren zeigten wiederum die höchsten Anämieraten (von 70,9% bzw. 64,6%). Unzureichende Therapie Von den 9118 Patienten mit Anämie zu irgendeinem Zeitpunkt erhielten 61,1 Prozent keine Anämietherapie. Die meisten unbehandelten Patienten (47,2%) wiesen eine leichte Anämie auf, 12,9 Prozent eine mittelschwere und 0,9 Prozent eine schwere. Fast drei Viertel (73,8%) der Brustkrebspatientinnen mit Anämie blie- ben unbehandelt. Selbst von den Patien- ten mit einem schlechten Performance- Score ≥ 2 erhielten 51 Prozent keine Therapie. Erythropoietin kam bei den 38,9 Prozent der gegen Anämie behandelten Patien- ten am häufigsten zum Einsatz, entweder allein oder in Kombination mit Bluttrans- fusionen und/oder Eisensubstitution. Tatsächlich musste der Hämoglobin- Wert im Mittel erst auf 9,7 g/dl absinken, bevor eine Therapie begonnen wurde. Bei einem Drittel der Patienten, die Erythropoietin erhielten und bei 52,7 Prozent der Patienten, die transfundiert wurden, setzte die Therapie erst bei Hämoglobinwerten < 9 g/dl ein. Einige klinische Studien zeigen, dass ein Anstieg des Hämoglobinwerts nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern auch die Mortalität senkt. Eine aktuelle Cochrane-Analyse mit 1624 Patienten fand eine Reduktion des Mortalitätsrisi- kos um 20 Prozent durch Anämietherapie mit Erythropoietin. ▲ Angelika Bischoff Quelle: Ludwig H. et al.: The European Cancer Anaemia Survey (ECAS): A large, multinational, prospective survey defining the prevalence, incidence, and treatment of anaemia in cancer patients: European Journal of Cancer 2004; 40: 2293–2306. 36 ONKOLOGIE 4/2004