Transkript
UPDATE | EVIDENZBASIERTE MEDIZIN
ORTHOPÄDIE: IRRTÜMER GESTERN – FORTSCHRITTE MORGEN
Das Fachgebiet Orthopädie gilt als Prototyp des Messbaren, sowohl in diagnostischer als auch in prognostischer Hinsicht. Winkel und Millimeter gelten als Garanten einer machbaren Reparatur. Zum Glück ist Irren menschlich und gehört zur Forschung.
Luzi Dubs
Das Folgende soll kein Plädoyer gegen eine möglichst exakt messende Wissenschaft sein. Das Prinzip einer präzisen Analyse von Messwerten – in der klinischen Untersuchung, in den bildgebenden und laborchemischen Untersuchungen bis zu den genetischen Entschlüsselungen – behält seine Gültigkeit. Die kartesianische Zerteilung der Maschine Mensch nach einem naturwissenschaftlichen Glaubensbekenntnis hat der Orthopädie viele Erkenntnisse über die Entstehung ihrer Krankheitsbilder und die daraus abgeleiteten Therapieideen gebracht. Etwas schwieriger sind die Warum-Fragen nach den Ursachen zu beantworten. So ist anzuerkennen, dass es vielfach bei Hypothesen geblieben ist, da man der Wahrheit der Patientenrealität durch das rein naturwissenschaftliche Zerteilen nicht nähergekommen ist. Erst die Syntheseleistung, die kontextuelle Interpretation der vielen Messdaten, erlaubt Rückschlüsse auf die Gültigkeit der Hypothesen.
Trotz einleuchtender Wirkhypothese ...
Hypothesen entstehen am einfachsten in einem mechanistischen Denkmodell von Ursache und Wirkung. Der Weg zur bestmöglichen Wahrheit, inwieweit durch Anwendung der Hypothesen ein eigentlicher Nutzen in der Patientenrealität entstanden ist, führt über die Biologie (siehe Abbildung). Um diese Fragen soll sich die klinische Forschung kümmern. Aber wie? Die klinische
Epidemiologie (Evidenzbasierte Medizin, EbM) hat in den letzten 20 Jahren ein neues Bewusstsein über einen sauberen Nutzennachweis in der Medizin gebracht, dadurch auch viel Unruhe gestiftet und speziell dort Kartenhäusern zum Einsturz verholfen, wo bewusst mit der Brechstange ein Nutzennachweis erzwungen werden sollte oder unbewusst Nutzendarstellungen mit ungeeigneten Studiendesigns kreiert wurden. Davor blieb die Orthopädie keineswegs verschont. Unumstösslich bleibt das ethische Primat, dem Patienten primär nicht zu schaden und somit die kritische Geisteshaltung mitzubringen, eine ursprüngliche Hypothese immer wieder infrage zu stellen. Diese Aufgabe ist unbeliebt und denjenigen vorbehalten, welche eine gewisse Kultur des Zweifelns mitbringen.
... miserabler Patientennutzen
Wer macht heute noch – wie früher zu Tausenden – intertrochantere Derotationen an der Hüfte wegen Coxa valga et antetorta mit nach innen orientierten Fussachsen? Einleuchtende Wirkungshypothese, aber, wie sich erst nach vielen Jahren gezeigt hat, miserabler Patientennutzen. Von gleichsam reinem pathogenetischem Denken ist heute an der Hüfte die Hypothese eines femoroazetabulären Impingements geprägt, und es wer-
med & move
49
UPDATE | EVIDENZBASIERTE MEDIZIN
«ES KANN JEWEILS
AUCH TROTZ DER OPERATION GUT HERAUS-
»GEKOMMEN SEIN.
«EINLEUCHTENDE
WIRKUNGSHYPOTHESE, ABER, WIE SICH ERST NACH VIELEN JAHREN GEZEIGT HAT, MISERABLER PATIENTEN-
»NUTZEN.
L UZ I DU B S , geboren 1951, seit 1985 in freier Praxis für Orthopädie in Winterthur, Belegarzt Klinik Lindberg. ASG-Travelling-Fellow. Wissenschaftlicher Schwerpunkt Nutzenforschung und Mitbegründer der EbM in der Schweiz, Ehrenmitglied Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie.
den wiederum Tausende an der Hüfte operativ behandelt, ohne dass man klar wissen würde, weshalb sich diese sogenannten Hüftanomalien gebildet haben. Am Kniegelenk wurden früher wegen femoropatellärer Schmerzen unter dem Bild der Chondropathia patellae Tausende von Kniegelenken nach der Methode von Maquet-Bandi mit Beckenspan oder nach Elmslie-Trillat operativ umgestaltet, nach dem Motto: Der Herrgott muss sich im Bauplan geirrt haben. Als Rechtfertigung für solcherlei Eingriffe genügten einige Fallseriestudien, welche vom Prinzip her keine Kausalitätsaussagen erlauben. Es kann jeweils auch trotz der Operation gut herausgekommen sein. Von grosser Bedeutung ist dabei der Selbstbetrug mit Scores, welcher systematisch das operative Resultat begünstigt.
Der Score-Bias – blinder Fleck, Selbsttäuschung, Selbstbetrug
Der Score-Bias hat sich mittlerweile derart verbreitet, dass er kaum mehr auszurotten ist. Ein Score, in der Regel eine Sammlung von maximal 100 Punkten, besteht üblicherweise aus einer bunten Mischung von Punktezuordnungen, im Nebenanteil aus Ergebnisvariablen, die den Patienten interessieren (Fähigkeiten), und im Hauptanteil aus solchen, die den Patienten nicht interessieren (Surrogatparameter wie Messung von Winkeln, Stabilität, Schwellung, Beinachse usw.). Die Autoren solcher Scores haben eigenmächtig Surrogatvariablen Punkte zugeordnet, von welchen sie glauben, dass sie für den Patientennutzen wichtig und gültig seien, und von welchen durch entsprechende operative Massnahmen dann auch ein signifikanter Punktegewinn erwartet werden kann. Wenn man Operierte mit Nichtoperierten vergleichen will, haben die Nichtoperierten gar keine Chance, zu diesem operationsspezifischen Punktezuwachs zu kommen. Ausserdem kann ein Resultat auch noch mit der hohen Gewichtung von Punktezuwachs bei Schmerzbeseitigung verfälscht werden. Wer sich zum Beispiel schont, hat wohl etwas Fähigkeitsverlust von vielleicht 5 bis 10 Punkten, gewinnt aber deren 30 durch die Schmerzbeseitigung. Das Vorhandensein von Schmerzen und deren Intensität drücken sich immer als Fähigkeitsverlust aus, man kann also gut auf diese Messkomponente verzichten.
einer zusätzlichen Körperschädigung ohne je sauber nachgewiesenen Patientennutzen und hat das Potenzial, sich zu einem der grössten Irrtümer der Orthopädie der letzten Jahrzehnte zu mausern. Wer sich die Mühe macht, in den klinischen Ergebnisstudien einerseits separiert die patientenrelevanten Endpunkte wie das validierte Fähigkeitsassessment nach Tegner zu betrachten und alle anderen Mischscores wie Lysholm, IKDC, Noyes usw. wegzulassen, andererseits die Fähigkeiten vor dem Unfall und nicht diejenigen vor der Operation mit dem Endresultat in Beziehung bringt, wird zur Einsicht kommen, dass sich der Fähigkeitsverlust der Operierten nicht von jenem der Nichtoperierten unterscheidet. Hätte man zum Beispiel den Lysholm-Score eingesetzt, dann hätten die Operierten bessere Resultate gezeigt, denn diese hätten vom Punktezuwachs des Stabilitätsgewinns profitiert. Wenn man sich diese seit Jahrzehnten weltweit übliche systematische Selbsttäuschung vor Augen führt, entstehen wahrhaft ungute Gefühle hinsichtlich der Glaubwürdigkeit gewisser wissenschaftlicher Aktivitäten.
Hochkarätige Journals sind keine Garantie für den Inhalt
Auf der anderen Seite werden der Orthopädie auch Mahnfinger vorgezeigt, welche bei genauer Literaturanalyse methodisch nicht überzeugend fundiert sind, auch wenn die Arbeit in einer hochkarätigen Zeitschrift erschienen ist. Die Teilmeniskusentfernung bei degenerativer Meniskusschädigung ist gemäss einer finnischen randomisierten Studie nach Vergleich mit einer Scheinoperation zu unterlassen, was verständlicherweise in der Orthopädie Unruhe ausgelöst hat. Erst die minutiöse Überprüfung durch erfahrene Methodiker der EbM kann gut nachvollziehbare Denkfehler aufdecken, um die Aussagen massiv zu relativieren. Irrtümer aller Arten finden sich, wie kurz aufgezeigt, auch in der Orthopädie zuhauf. Der Fortschritt von morgen muss die parkettsichere Expertise in der kritischen Literaturbewertung sein, damit man letztlich mit gutem Gewissen auf Fehlentwicklungen aufmerksam wird, um auf unnötige Eingriffe verzichten zu können. Hinderlich ist natürlich der Umstand, dass nur gemessen und bezahlt wird, was getan wird – was jeglichen Interventionismus belohnt.
Heilige Kuh oder Körperschädigung?
Die «Rekonstruktion» des vorderen Kreuzbandes am Kniegelenk, eine der heiligsten Kühe in der Orthopädie, entspricht bei genauem Hinsehen
Kontakt: Dr. med. Luzi Dubs Facharzt Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Winterthur E-Mail: dubs.luzi@bluewin.ch
50 med & move