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S C H U LT E R I U P D AT E I M P I N G E M E N T I K O N S E R VAT I V
DIE ROLLE DER FUNKTIONELLEN THERAPIE
Häufig wäre ambulante Physiotherapie der Chirurgie ebenbürtig
In der Schweiz werden jedes Jahr rund 10 000 Operationen wegen eines Schulterproblems durchgeführt. Studien machen deutlich: Bei einem Grossteil der Fälle können mit ambulanter Physiotherapie ebenso gute Resultate erzielt werden. Die funktionelle Behandlung erfolgt mittels Mobilisierung, Dehnung und Kräftigung.
Hannu Luomajoki
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Strukturelle Untersuchung mittels Bildgebung
Die strukturelle Diagnostik des Schulterimpingements ist relativ einfach: Im Röntgen sieht man die Einengung des Gelenkraumes zwischen Schultereck und Oberarmkopf, im MRI oder bei der Ultraschalluntersuchung erkennt man Verdickungen oder Entzündungen der Rotatorenmanschette. Ferner können Instabilitäten des Schultergelenks oder Risse der Rotatorenmanschette eine Impingementsymptomatik verursachen. Kurzum: Wenn die Schulter schmerzt, handelt es sich sehr häufig um ein Schulterimpingement – das streng genommen keine Diagnose, sondern ein Symptom ist. Das schmerzhafte «Einklemmen» in endgradiger Anteversion (Flexion) und/oder Abduktion (mit oder ohne Rotationen) wird als Impingement bezeichnet und bedarf einer differenzierten strukturellen und funktionellen Betrachtung. Neben der strukturellen Differenzierung mittels Bildgebung ist für Einordnung der Beschwerden und für das Festlegen einer sinnvollen Therapiestrategie die funktionelle Untersuchung entscheidend.
Funktionelle Untersuchung mittels Provokationstests
In den meisten Fällen ist die funktionelle Untersuchung meines Erachtens wichtiger als die bildgebende. Es gibt mehrere gezielte Provokationstests, die einfach durchzuführen sind und eine
belegt hohe Aussagekraft haben. Folgende fünf werden empfohlen: 1. Hawkins-Kennedy-Test: forcierte Innenrotation
bei 90° Flexion im Schultergelenk 2. Neer-Zeichen: passive Anteversion (Flexion) des
innenrotierten Oberarms bei manuell fixierter Scapula 3. Jobe-Test: resistive Elevation bei innenrotierten, leicht antevertierten und seitlich ausgestreckten Armen 4. Lift-off-Test: Hand hinter Rücken, dann aktive beziehungsweise resistive endgradige Innenrotation im Schultergelenk 5. Arm-Drop-Test: passive Flexion plus Adduktion im Schultergelenk, danach Arm fallen lassen. Am aussagekräftigsten sind diese Tests kombiniert, dabei gelten diese Regeln: Wenn die ersten drei Tests alle negativ sind, kann man ein Schulterimpingement ausschliessen – sogenannte «SnN-out-Regel». Wenn insgesamt drei oder mehr dieser Tests positiv sind, handelt es sich wahrscheinlich um Impingement, sind nur zwei oder ein Test positiv, wird ein Schulterimpingement unwahrscheinlich. Diese diagnostischen Tests sind evidenzbasiert und richten sich primär an den Arzt. Für den Therapeuten ist Folgendes wichtig: a) das Ausmass der schulterschmerzbedingten Einschränkung im Alltag zu quantifizieren und b) die Frage, was therapeutisch getan werden kann.
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Dabei kommen verschiedene Überlegungen zum Tragen: Qualität der Bewegungskontrolle glenohumeral und skapulothorakal, kapsuläre Verkürzung vor allem im hinteren Kapselbereich, haltungsbedingte Faktoren insbesondere eine vermehrte Kyphose der Brustwirbelsäule mit Protraktion von Kopf und Schultern und entsprechender Veränderungen der myofaszialen Strukturen.
Therapie des Impingement-Syndroms: Kräftigungstherapie
Die Evidenz der Effektivität der physiotherapeutischen Behandlung ist beim Schulterimpingement sehr gut. Je eine dänische, norwegische und eine finnische Studie haben klar nachgewiesen, dass die Behandlung von Impingement genauso effektiv ist wie das Operieren (1–3). In einem Review wurde festgestellt, dass Physiotherapie Übungs- und Kräftigungstherapie beinhalten und eventuell mit manueller Therapie unterstützt werden soll (4). Mit anderen Worten: Die physiotherapeutische Behandlung des Schulterimpingements ist globaler bis unspezifischer Natur: Es geht vor allem um Kräftigung und Dehnung. Die Trainingsintensität scheint eine wichtige Rolle zu spielen nach dem Motto «je mehr, desto besser». Es gibt erste Hinweise, gemäss denen exzentrisches Üben – ähnlich wie bei Achillessehnenproblemen und Tennisellbogen – nützlich sind.
Zusatznutzen: Individualisiertes Kräftigungsprogramm
Eine neuere schwedische Studie wollte wissen, ob es eine Rolle spielt, wie man in der Physiotherapie vorgeht (5). Sie sammelten Daten von 102 Patienten, die an einem Schulterimpingement litten und bei denen eine Operationsindikation gestellt wurde. Beide Vergleichsgruppen bekamen Informationen und eine Kortisonspritze. Die eine Gruppe bekam zusätzlich spezifische individuelle Kräftigungstherapie und manuelle Therapie. Das Hauptaugenmerk lag auf der muskulären und Bewegungskontrolle der Scapula. Die Kontrollgruppe bekam vergleichsweise unspezifische und nicht individualisierte aktive Übungen für Schulter und Nacken gemäss einem Standardübungsprogramm. Beide Programme dauerten 12 Wochen. Im Gegensatz zur Kontrollgruppe, von der 63 Prozent der Patienten operiert werden mussten, waren es in der spezifischen Physiotherapiegruppe mit individualisierten Übungen nach drei Monaten nur gerade 20 Prozent der Patienten. Wohlbemerkt: Bei allen lag am Anfang der Studie eine klare Operationsindikation vor.
Scapulakontrolle und Gelenkzentrierung: 2 x 2 Möglichkeiten
Für die Praxis sind die Bewegungsverhältnisse in ihrer individuellen Komplexität wichtig. Wie bewegt sich die Scapula gegenüber dem Thorax? Wie ist das Verhältnis Beweglichkeit Schultergürtel zu Schultergelenk? Dabei gilt es, die verschiedenen Möglichkeiten zu differenzieren: hypermobile Scapula und hypomobiles Schultergelenk; oder umgekehrt; oder beides hypermobil oder beides hypomobil. Zusätzlich kann die jeweilige Hyper- oder Hypomobilität nur in einer bestimmten Richtung betroffen sein. Alle Kombinationen können ein Impingement verursachen. Die Behandlung und die konkreten Übungen sind naturgemäss unterschiedlich. Sobald wie möglich soll mit aktiver Kräftigung begonnen werden. Diese Kräftigung soll die Stabilisatoren der Scapula insbesondere M. trapezius pars ascendens (Abbildung 2) und pars descendens wie auch M. serratus anterior (Abbildung 3) und die gesamte Muskulatur der Rotatorenmanschette beinhalten. Isolierte physikalische Massnahmen wie Ultraschall, Elektrotherapie oder auch Querfriktionen als Einzelmassnahme haben keine gute Evidenz. In Bezug auf die Beweglichkeit und funktionelle «Zentrierung» des Schultergelenks (glenohumerale Rotationsachse) sieht eine häufige Befundkonstellation so aus: • Gelenkbeweglichkeit: Eingeschränkte Innenro-
tation bei normaler oder vermehrter Aussenrotation
Abbildung 1: Aktiver Innenrotationstest
Abbildung 2: Test und Übung Trapezius
Abbildung 3: Test und Übung Serratus anterior der linken Seite
A L LTA GS B E H IN DE R UN G A N HA ND VO N FR AG E B O GE N E R M IT T E L N Häufig benutzte Fragebogen zur Ermittlung der Einschränkung im Alltag wegen Schulterschmerz beziehungsweise der ganzen oberen Extremität sind DASH (disabilities of the arm, shoulder and hand) oder Quick DASH. SPADI (shoulder pain and disability index) ist schulterspezifisch und ermittelt die Einschränkung und den Schmerz separat. «Constant Murray» ist eine zum Teil objektive und subjektive Messbatterie und umfasst Schmerz, Beweglichkeit, Kraft und Behinderung. All diese Assessments haben eine gute Zuverlässigkeit und Validität.
S CHULTERINSTABILITÄT Weiter ist zu beachten, ob das Schultergelenk strukturell oder klinisch instabil ist? Für eine strukturelle Instabilität werden entsprechende Tests gemacht wie zum Beispiel Sulcus Sign, kaudaler anteriorer und posteriorer Drawer Test, Apprehension Test und Relocation Test. Bei Vorliegen einer klinisch relevanten Instabilität – in Abgrenzung zur bandlaxen Hypermobilität ohne klinischen Krankheitswert – ist es wichtig, die Rotationsachse des Schultergelenks zu bestimmen. Sind Aussenrotation und Innenrotation vermehrt oder vermindert? Wie sind das Verhältnis (Abbildung 1) der Innen- und Aussenrotation und die Kraft ? Die Innenrotation sollte 70° betragen.
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W E R F E R S C HU LT E R : P S GI - U N D S L AP - LÄ S I ON E N Eng mit dem Impingement verbunden, aber diagnostisch auseinanderzuhalten sind das PSGI und die SLAP-Läsionen. Das PSGI (Posterior Superior Glenoid Impingement) ist die typische «Werferschulter», die aber häufig mit Rissen in der Rotatorenmanschette (RM) kombiniert ist. SLAP (Superior Labrum Anterior to Posterior) ist eine Läsion des Labrums, die ebenfalls häufig bei Wurfsportler/-innen vorkommt.
HANNU LUOMAJOKI ist Physiotherapeut. Nach dem Master in Physiotherapie in Australien PhD in Finnland über Rückenschmerzen. Heute als Titularprofessor der ZHAW in Winterthur Leiter des Masterprogramms für msk Physiotherapie. Nebst Lehrtätigkeit und Forschung tätig in eigener Praxis in Medbase Archhöfe in Winterthur.
• Muskelkraft: M. Subscapularis ist schwach und die posteriore Kapsel mit den Muskeln der Aussenrotation M. infraspinatus und M. teres minor sind verkürzt. Diese Muskeln müssen mit Weichteiltechniken behandelt und gedehnt werden.
Eine erfolgreiche Rehabilitation des Impingements dauert drei bis sechs Monate. Dies klingt nach viel Zeit, aber eine Operation mit anschliessender Rehabilitation kann noch länger dauern – und kostet ein Vielfaches. Der britische Physiotherapieverband schätzt – auf Evidenz basierend – dass drei Viertel aller Patienten mit Schulterimpingement mittels konservativer Therapie innert sechs Monaten wieder gesund sind (6). Ist dies
nicht der Fall, liegt eine «sekundäre Operationsindikation nach erfolglosem konservativem Therapieversuch» vor. Ausgenommen von dieser Grundregel «Physiotherapieversuch vor Operationsindikation» sind primäre Operationsindikation wie etwa eine massive Ruptur der Rotatorenmanschette.
Literatur beim Verfasser.
Kontakt: Prof. Dr. phil. Hannu Luomajoki Dipl. Physiotherapeut OMT Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW Departement Gesundheit, Institut für Physiotherapie Winterthur luom@zhaw.ch www.zhaw.ch/gesundheit
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