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BECKENBODEN I UPDATE OUTLETOBSTRUKTION I KONSERVATIV BEKKENBODEN I UPDATE OUTLETOBSTRUKTION I KONSERVATIV
WENN MAN MUSS UND NICHT KANN
«Darm-Ausgangs-Verstopfung» häufiger mit steigendem Alter
Bei einer Outletobstruktion wird die Füllung des Darmes zwar gespürt, aber der Stuhlgang ist zu selten, zu hart und bereitet krampfartige Schmerzen. Geschätzt sind davon 15 Prozent aller Frauen und 5 Prozent aller Männer betroffen, der Leidensdruck ist hoch. Konservative Ansätze gelten als Erstlinientherapie.
Barbara Köhler
VERDAUUNG – WAS IST NORMAL? Es gibt grosse individuelle Unterschiede: Sowohl eine Entleerung von 3- bis 4-mal täglich als auch mit Abständen von 3 bis 4 Tagen ist normal. Die Durchgangszeit der Nahrung beträgt 36 bis 72 Stunden.
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Die Verstopfung aufgrund einer Beckenbodendysfunktion («Outletobstruktion», Behinderung des Ausganges) ist eine von drei Formen der Obstipation und kann eigenständig, als Folge einer anderen Erkrankung oder der Einnahme von Medikamenten auftreten. Als Einflussfaktoren gelten vor allem das Alter, Bindegewebsschwäche, hormonelle Veränderungen und Senkungen der Bauchorgane. Ferner können sich mechanische (z.B. Geburtstraumata, Folgen chirurgischer Eingriffe) oder neurologische Störungen auswirken. Nur etwa ein Drittel der Betroffenen nimmt medizinische Hilfe in Anspruch. Zum einen liegt die Tabuschwelle bei Störungen der analen Ausscheidungsfunktionen noch höher als bei der Harninkontinenz, ferner sind die Möglichkeiten der Physiotherapie nur wenigen Patienten, aber auch nicht allen Angehörigen der Gesundheitsfachberufe bekannt.
Entleerungswunsch nachgeben
Bei vielen Menschen weist der Darm die stärkste Aktivität nach dem Aufstehen auf. Essen und Trinken verstärken diese Aktivität, indem die Darmperistaltik etwa 20 bis 30 Minuten nach einer gut gekauten Mahlzeit angeregt wird und den Stuhl in Richtung Darmausgang bewegt. Normalerweise wird die Entleerung bei einem Volumen von etwa 200 ml durch Dehnreize der Darmwand und der angrenzenden Beckenbodenmuskulatur aus-
gelöst. Diesem Entleerungswunsch sollte unbedingt innerhalb von 15 bis 20 Minuten nachgegeben werden, da sonst der Stuhl durch retrograde Peristaltik rückwärts bewegt und durch die weiter stattfindende Absorption härter wird. Der Drang verschwindet mit der Zeit, und die Durchlaufzeit kann sich verlängern («slow transit»).
Anzeichen einer Outletobstruktion
Bei einer Outletobstruktion liegt die Ursache am Ende des Darmes; entweder ist die Koordination der Beckenbodenmuskulatur gestört, oder es liegt ein Darmvorfall vor. Zeichen können sein (Rom-IIIKriterien): • heftiges Pressen mit dem gleichzeitigen Gefühl
der analen Blockierung • klumpiger oder harter Stuhl • Gefühl der unvollständigen Darmentleerung • manuelle Hilfe bei der Entleerung (Ausräumen
mit dem Finger oder durch Darmspülungen) • Stuhlgang nur mit Abführmitteln • weniger als 3 Stuhlgänge pro Woche.
Untersuchungen helfen differenzieren
Differenzierte Fragen helfen, Grunderkrankungen auszuschliessen und den Obstipationstyp zu erkennen. Daneben werden Untersuchungen zur Verweildauer des Darminhaltes (Transitzeitmessung mit röntgendichten Kügelchen), der Funktionsfähigkeit (Darmspiegelung, MR-Defäkogra-
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fie) und Nervenversorgung des Enddarmes durchgeführt. Mit Ultraschall wird die Schliessmuskulatur des Anus in Bezug auf die Anatomie und die Funktionsfähigkeit untersucht. Die Muskelfunktion der analen Schliessmuskulatur wird bei willentlicher und unwillkürlicher Aktivität überprüft (Kneif-Test und Husten-Test) sowie in Bezug auf Koordinationsstörungen der Beckenmuskulatur und Ausweichbewegungen wie zum Beispiel das Anspannen der Gesässmuskulatur. Ein Behandlungskonzept im multiprofessionellen Setting verfolgt diese zentralen Behandlungsansätze: • Verhaltensschulung und Basismedikation • Verbesserung der Funktionsfähigkeit des End-
darmes und der Beckenbodenmuskulatur • gegebenenfalls operativ korrigierende Mass-
nahmen.
Verhaltensschulung und Basismedikation
Aufgrund der hohen Hemmschwelle ist eine offene, geduldige und verständnisvolle Kommunikation durch alle beteiligten Gesundheitsfachpersonen notwendig. Beratung baut Ängste und falsche Vorstellungen ab – beispielsweise hinsichtlich einer normalen Häufigkeit der Stuhlentleerungen – und entwickelt mit den Betroffenen gemeinsam Lösungsstrategien, meist medikamentös unterstützt. Die korrekte Anwendung der Medikamente bedarf häufig einer adäquaten Erklärung, insbesondere wenn selbst gekaufte Medikamente oder bestimmte Nahrungsmittel zusätzlich zum Einsatz kommen. Eine Diät mit ballaststoffreicher Nahrung und ausreichender Flüssigkeitszufuhr hilft oft. Abführmittel (Laxanzien) kommen häufig zum Einsatz, dürfen jedoch nur kurzzeitig eingenommen werden, weil sie längerfristig die Wirksamkeit einbüssen und oft den Kaliumhaushalt durcheinanderbringen. Insbesondere beim Frühstück sollte auf eine ruhig und gut gekaute Mahlzeit Wert gelegt werden. Nach etwa 20 bis 30 Minuten erfolgt häufig der Drang zur Entleerung, dem unbedingt nachgegeben werden sollte. Wenn der Entleerungsdrang auf dem Weg zur Arbeit ausgelöst wird, ohne dass ihm Folge geleistet werden kann, sollte der zeitliche Ablauf des Morgens neu gestaltet werden. Bisweilen ist die einfachste Lösung, 20 Minuten früher aufzustehen und das Frühstück am Vorabend zu planen.
Funktionsfähigkeit von Enddarm und Beckenbodenmuskulatur verbessern
Für das Training des Beckenbodens und der analen Schliessmuskulatur werden der Beckenboden
und die äussere Schliessmuskulatur angesteuert, wobei man zusätzlich den Effekt des Overflows der Aktivität des äusseren auf den nicht willkürlich ansteuerbaren inneren Schliessmuskels erhofft. Die Beckenbodenmuskulatur ist ferner für die korrekte Position des Analkanals verantwortlich und erhöht ihren Tonus bei jeglicher Erhöhung des intraabdominalen Drucks, wie zum Beispiel durch Husten oder Heben, unwillkürlich. Eine Beckenbodentherapie durch speziell geschulte Physiotherapeuten leitet zu korrektem Üben und adäquatem Verhalten an. Die Physiotherapie sollte mit 9 bis 18 wöchentlichen bis zweiwöchentlichen Therapiesitzungen über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten erfolgen und durch tägliches selbstständiges Training, auch mit Heimgeräten, begleitet werden. Sollte bei guter Mitarbeit nach spätestens 6 bis 9 Monaten kein Erfolg ersichtlich sein, ist der physiotherapeutische Zugang vermutlich nicht wirkungsvoll – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Über operative Massnahmen muss spätestens dann nachgedacht werden. Zentrale Ziele der Beckenbodenrehabilitation sind die Normalisierung der Beckenbodenaktivität bezüglich Schnellkraft, Kraftausdauer, Reaktionsfähigkeit und Koordination sowie die Optimierung der analen Kontinenz und des Entleerungsverhaltens. Häufig ist in der Praxis neben der mangelhaften Anspannungsfähigkeit auch eine mangelhafte Entspannungsfähigkeit der Schliessund Beckenbodenmuskulatur zu beobachten.
WAS ESSEN, WAS LASSEN? Ballaststoffreich sind zum Beispiel Vollkornbrot, rohes Gemüse und Obst bei ausreichender Trinkmenge. Darmanregend sind zum Beispiel ein Glas lauwarmes Wasser auf nüchternen Magen am Morgen, Leinsamen oder Weizenkleie, abführende Nahrungsmittel wie Rhabarber, Sauerkraut, eingeweichte Dörrpflaumen, Buttermilch, Melonen und Feigen. Verstopfend können kakaohaltige Produkte, Bananen, Äpfel, Heidelbeeren, schwarzer Tee und Milch sein.
DIE RICHTIGE STUHLENTLEERUNG Die Entleerung sollte ungestört und entspannt während 5 bis 10 Minuten auf einer nicht zu hohen Toilette erfolgen. Bisweilen ist ein Fussschemel hilfreich. Die Atmung sollte ruhig fliessen, ohne übermässiges Pressen, mit entspannten Schultern. Oft ist es hilfreich, durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen. Bei zu starker Druckerhöhung im Bauchraum kann eine Erhöhung der Beckenboden- und Schliessmuskelaktivität ausgelöst werden, die für eine Entleerung kontraproduktiv ist. Man kann diese Reaktion mit einer Zahnpastatube vergleichen, auf die man drückt, ohne den Deckel abgenommen zu haben. Zeitlicher Druck oder die Vorstellung, jeden Tag entleeren zu müssen, wirken hinderlich. Die korrekte Sitzposition bei flektierter, entspannter Wirbelsäule und aufgestützten Ellbogen sollte instruiert werden, wobei es oft notwendig ist, die allgemeine Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule und Beckengelenke zu verbessern. Anatomische Abbildungen und Modelle mit der Darstellung des Beckenbodens und der Beckenorgane helfen, Verständnis für den Zusammenhang und den Nutzen des physiotherapeutischen Zuganges zu entwickeln. Nach der Entleerung sollte die Schliessmuskulatur 2- bis 3-mal angespannt und bewusst entspannt werden, um diesen Vorgang zu automatisieren und damit die Outletobstruktion zu lindern. Auf manuelles Ausräumen des Enddarmes sollte möglichst verzichtet werden, da die Koordination des Entleerungsvorganges und die Steuerung durch das Nervensystem stark beeinträchtigt werden.
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KOMPLEX Die Outletobstruktion ist ein komplexes Krankheitsbild und mit starkem Leidensdruck verbunden. Sie muss im multiprofessionellen Setting diskutiert werden und erfordert speziell durch Experten angepasste Behandlungskonzepte.
BARBARA KÖHLER, Medau-Gymnastiklehrerin und Physiotherapeutin. Ambulante Physiotherapie in perinealer Rehabilitation Stadtspital Triemli, Zürich. Dozentin Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Winterthur. Master of Physiotherapy Science MPTSc, Dr. rer. medic. und Professur Innere Organe und Gefässe ZFH.
Die Beckenbodenmuskulatur und im Speziellen die Schliessmuskulatur sollte beim Training exakt angesteuert und aktiviert werden. Die Kontrolle ist durch manuelles und apparativ kontrolliertes Biofeedback möglich. Da der Beckenboden überwiegend von Slow-Twitch-Fasern gebildet wird, sollte der grössere Anteil des Trainings aus längeren und submaximalen Muskelkontraktionen bestehen (10 s Spannung bei 40% der Maximalspannung und 20 s Pause während 20 min). Fast-Twich-Fasern werden durch kurze und maximale Anspannungen trainiert (1–3 s bis zur Maximalkraft und 20 s Pause und Wiederholungen bis zur Ermüdung). Das Training kann in jeder Ausgangsstellung und über den Tag verteilt durchgeführt werden. Erfolgreich ist eine gemeinsame Planung mit Patienten, um das tägliche Üben in den Alltag zu integrieren.
Regel: erst Einzeltherapie, dann Gruppentherapie
Unkontrolliertes Gruppentraining oder Üben nach Büchern und Broschüren sollte vermieden werden, da dies mit Frustrationen verbunden sein kann und infolge von Pressaktivitäten oder Training falscher Muskelgruppen (insbesondere der Gesässmuskeln) die Beckenbodendysfunktion häufig verstärkt. Biofeedback kann als Messverfahren der Ansteuerbarkeit der Muskulatur eingesetzt werden und stellt eine Lernhilfe für Beckenbodentraining dar. Anspannung und Entspannung können palpatorisch, aber auch apparategestützt optisch und/ oder visuell kontrolliert werden. In der klinischen Praxis kommen anale Elektroden, bei Frauen gelegentlich auch vaginale Elektroden zum Einsatz. Mit Elektrostimulation kann sehr schwache und unkoordiniert arbeitende Beckenbodenmuskulatur beim Training unterstützt werden. Die Schliessmuskulatur wird aktiviert, und ungewollte Bewegungen des Enddarmes werden gehemmt. Auch die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) empfiehlt den Einsatz von Elektrotherapie zur Verbesserung der Darmaktivität, zur Kräftigung des Beckenbodens und des äusseren Schliessmuskels sowie zur Entspannung bei überaktivem Beckenboden. Es empfiehlt sich, zum täglichen Training Heimgeräte einzusetzen. Mithilfe eines Ballonkatheters wird das Volumen der Füllung (vorzugsweise Wasser) an drei Messpunkten ermittelt: 1. die Sensitivität des Rektums in Bezug auf die subjektive Wahrnehmung von Darminhalt; 2. der erste Drang zur Entleerung; 3. der Punkt der Maximalfüllung meist bei etwa 50 ml Wasser. Das Ballontraining weist zur Erhebung
wissenschaftlicher Daten Messungenauigkeiten auf, kann jedoch in der Praxis ausgezeichnet zur Wahrnehmungs- und Entleerungsschulung genutzt werden. Patienten können mit dieser simulierten Darmfüllung den Pressdruck üben, während die korrekte Aktivität der Schliessmuskulatur palpatorisch kontrolliert werden kann.
Erfolge der Beckenbodentherapie
Der Einsatz der oben genannten Techniken bringt Erfolge in 50 bis 80 Prozent der Fälle. Insbesondere ist die Aufklärung darüber hilfreich, dass tägliche Entleerung nicht notwendig ist. Eine allgemeine Erhöhung der körperlichen Aktivität zeigt gute Erfolge bei chronischen Obstipationen, weniger bei der Outletobstruktion. Anscheinend steht hier die Beckenbodendysfunktion im Vordergrund. Die Wirksamkeit des Beckenbodentrainings mit Biofeedbackunterstützung, Ballontraining und/oder Elektrostimulation bei Outletobstruktion wurde bisher in wenigen Studien untersucht. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Level der bisherigen Effektivitätsnachweise aufgrund der grossen Heterogenität der Studienprotokolle und der multiplen Interventionen bei eher kleinen Populationen als gering eingestuft werden muss. Dennoch empfiehlt die ICS Beckenbodentherapie als Erstlinientherapie. Weitere adäquate und standardisierte Studien, auch mit Langzeitergebnissen, sollten folgen.
Wann operieren?
Wenn mit der konservativen Therapie nach maximal 9 bis 12 Monaten keine Erfolge zu verzeichnen sind, kann ein operatives Eingreifen ins Auge gefasst werden (siehe Seite 23). Prinzipiell sollten vor jeder Operation die konservativen medikamentösen und /oder physiotherapeutischen Möglichkeiten ausgereizt sein.
Literatur bei der Verfasserin.
Kontakt: Prof. Dr. rer. medic. Barbara Köhler Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW Winterthur E-Mail: barbara.koehler@zhaw.ch
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