Transkript
UPDATE SECTIO UND SPONTANGEBURT
LOSLASSEN KANN, WER VERTRAUEN HAT
Interview mit Dr. med. Brida von Castelberg
Nach 20 Jahren als Chefärztin Geburtshilfe am Triemlispital in Zürich sagt Brida von Castelberg: «Jede Geburt ist eine Gratwanderung, erst eingreifen, wenn erforderlich.» Die Realität sieht oft anders aus: Sectioraten variieren kantonal von 18 bis 40 Prozent; und in bestimmten Kliniken werden Frauen subtil in Richtung Kaiserschnitt manipuliert …
Christian Larsen
«DIE INTERESSEN
DES ARZTES HABEN
MEINER MEINUNG
NACH IN DER ENT-
SCHEIDUNGSFINDUNG
»NICHTS ZU SUCHEN.
SIE HABEN SICH MIT VERVE WÄHREND ZWEIER JAHRZEHNTE FÜR EINE HUMANE GEBURTSHILFE EINGESETZT. WELCHES IST IHR WICHTIGSTES CREDO? Brida von Castelberg (BvC): Jede Geburt ist eine Gratwanderung. Ein ganz natürlicher Vorgang, der aber urplötzlich kippen und zur Katastrophe werden kann. Mein Credo lautet: «Gewehr bei Fuss und erst eingreifen, wenn es notwendig ist.» Nur so gelingt es, den Dingen respektvoll ihren Lauf zu lassen und bei Bedarf schnell und gezielt zu intervenieren.
WELCHES IST DIE WICHTIGSTE VERÄNDERUNG IN DER GEBURTSHILFE DER LETZTEN 20 JAHRE? BvC: Die Risikotoleranz hat rapide abgenommen. Im Zeitalter der Planbarkeit müssen Baby und Geburt perfekt sein. Geht etwas schief – ganz unabhängig von der Ursache –, gibt es wenig Spielraum. Was früher als Schicksal angenommen wurde, gilt heute als unzumutbar.
MIT WELCHEN FOLGEN? BvC: Für Geburtshelfer gilt heute die Maxime der Risikominimierung. Auch in der Schweiz scheinen sich amerikanische Verhältnisse anzubahnen. In verschiedenen Gliedstaaten der USA gibt es wegen der hohen Haftpflichtprämien keine freischaffenden Geburtshelfer mehr. Gleichzeitig schafft der Versuch, Risiken um jeden Preis zu vermeiden, wieder neue Risiken. Zum Beispiel die
Geburtseinleitung: Zu früh eingesetzt, werden die Wehen nach zwei Tagen eines zermürbenden Einleitungsversuchs nicht mehr toleriert, was zu neuen Risiken und Problemen führt.
HÄUFIG WIRD ARGUMENTIERT, DER KAISERSCHNITT SEI SICHERER FÜR KIND UND MUTTER. STIMMT DAS? BvC: Ja, für das Kind schon. Vor allem, wenn sich ernsthafte Probleme abzeichnen. Schwere Komplikationen wie das Steckenbleiben mit den Schultern oder eine schwere Beeinträchtigung der kindlichen Herztätigkeit lassen sich so zuverlässig vermeiden. Sectio-Babys leiden gehäuft an Atemproblemen, zudem werden Spätfolgen diskutiert – das alles fällt aber im Vergleich zu den schweren Geburtskomplikationen wenig ins Gewicht. Für die Mutter sieht die Bilanz so aus: keine Dammverletzung, leicht erhöhtes Thromboserisiko, etwa gleiches Blutungsrisiko. Am häufigsten unterschätzt werden Dauer und Intensität der Operations- und Narbenschmerzen.
DIE SECTIORATEN IM JAHR 2013 VARIIEREN VON 18 PROZENT IM KANTON JURA BIS ZU 40 PROZENT IM KANTON ZUG (ZH 36%, BE 33%, BS 34%). WIE ERKLÄREN SIE SICH DIE UNTERSCHIEDE? BvC: Die ländliche Population verhält sich völlig anders als die Bevölkerung in Stadt und Agglomeration. Auf dem Land lässt man den Doktor nachts noch schlafen … (denkt nach). 40 Prozent ist hap-
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pig. Gewisse Privatkliniken in Zürich bringen es sogar auf 50 Prozent! Jede zweite Geburt ein Kaiserschnitt. Im Jura gibt es bestimmt weniger Privatkliniken (lacht).
DER WUNSCH DER SCHWANGEREN NACH EINER NATÜRLICHEN GEBURT UND DIE WIRTSCHAFTLICHEN INTERESSEN DES ARZTES IM FALLE EINER SECTIO STEHEN SICH DIAMETRAL ENTGEGEN. WIE SIEHT IHRE PERSÖNLICHE GÜTERABWÄGUNG ZWISCHEN PATIENTENORIENTIERUNG UND WIRTSCHAFTLICHKEIT AUS? BvC: Die Interessen des Arztes haben meiner Meinung nach in der Entscheidungsfindung nichts zu suchen. Aber auch gar nichts. Aufklärung ist die Aufgabe des Arztes, die Entscheidung aber Sache der Patientin. Wer das anders sieht, sollte die Geburtshilfe besser lassen … Es heisst ja Geburtshilfe und nicht Geburtsmedizin. Klar, es gibt Ärzte, bei denen Verdienst und freies Wochenende ganz oben auf der Liste stehen. Mitunter hat das Ganze System! Da werden Frauen subtil in Richtung Kaiserschnitt manipuliert, mit Aussagen wie «Ihr Beckenboden wird nach der Geburt auch nicht mehr wie früher sein» oder «Ihr Becken ist vielleicht doch etwas eng für eine spontane Geburt». Ich habe schon groteske Situationen erlebt.
DIE KRANKENHAUSSTATISTIK ERLAUBT DIFFERENZIERTE RÜCKSCHLÜSSE AUF DIE INDIKATION ZUR SECTIO (2172 IM JAHR 2013). KLASSIKER WIE NABELSCHNURVORFALL (35 MAL) UND LUNGENEMBOLIE (17 MAL) SIND SELTEN. DIE ERMESSENSDIAGNOSE «KOMPLIKATION DURCH ABNORME FETALE HERZFREQUENZ» WIRD 7512 MAL ALS HAUPTDIAGNOSE GEFÜHRT. KURZUM: DER VERDACHT LIEGT NAHE, DASS BABYS HEUTE ZU LEICHTFERTIG MIT DEM SKALPELL ZUR WELT GEBRACHT WERDEN. WIE LÄSST SICH DER VORWURF ENTKRÄFTEN? BvC: Was die Ethik eines jeden Arztes betrifft, lässt sich gar nichts entschuldigen. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Spitälern. Im öffentlichen Spital ist rund um die Uhr ein «Gebärsaalarzt» anwesend. In der Privatklinik ist der Belegarzt allein verantwortlich. Hat er eine volle Sprechstunde, kann er nicht abwarten, wie sich die Geburt entwickelt. Im Notfall muss die Entbindung innerhalb von 10 Minuten starten. Das zwingt oft zu vorzeitigem Handeln.
WIE LIESSE SICH DAS PROBLEM LÖSEN? BvC: Privatärzte und Privatkliniken verdienen gut. Obschon sie relativ wenig allgemeine Patientinnen betreuen, kassieren sie in Zürich für alle Pa-
tienten – auch für Private und Halbprivate – den Sockelbeitrag der allgemeinen Grundversicherung. Mit diesem Geld könnten sie gemeinsam einen «Gebärsaalarzt» finanzieren. So könnten sie sich neue Entscheidungsräume erschliessen und in Sachen geburtshilflicher Notfälle mit den öffentlichen Spitälern gleichziehen. Das wäre ein echter Gewinn für die Gebärenden.
EIN WORT ZUR DISKUSSION «DAMMSCHNITT VERSUS DAMMRISS». FRÜHER GALT EIN KONTROLLIERTER DAMMSCHNITT IM VERGLEICH ZUM EINREISSEN DES DAMMES ALS SICHERER. UND HEUTE? BvC: Heute ist es umgekehrt: Beim Dammschnitt wird meist mehr Muskelgewebe zerstört. Beim Dammriss ist das Gewebe meist so flach aufgewalzt, dass vor allem Haut und Bindegewebe entlang des natürlichen Faserverlaufs einreissen – und weniger Muskelfasern. Hinzu kommt: Der schwere Dammriss 3. Grades lässt sich mittels Dammschnitt nicht verhindern.
WELCHES SIND DIE GOLDENEN REGELN, DIE SIE EINER SCHWANGEREN FRAU IM HINBLICK AUF IHRE GEBURT MITGEBEN? BvC: Gebären ist Vertrauenssache. Am wichtigsten ist Selbstvertrauen. Bei der Geburt geht es um Millimeterarbeit zwischen Kind und Mutter. Loslassen kann nur, wer Vertrauen hat! Unnötige Muskelverspannungen und Verkrampfungen durch Angst wirken sich hinderlich auf die Geburt aus. Yoga hilft, Körperkontrolle und Entspannungsfähigkeit aufzubauen. Theoretisches Wissen, was frau tun sollte, ist meist nutzlos. Zudem: Wenn es Wahlmöglichkeiten gibt, ist es wichtig, sich den Arzt seines Vertrauens sorgfältig auszusuchen. Und ihm dann zu vertrauen, dass er im entscheidenden Moment die Interessen der Gebärenden vertritt und die richtige Entscheidung trifft.
ICH BEDANKE MICH FÜR DAS INTERVIEW UND WÜNSCHE IHNEN, IHREN PROJEKTEN UND IHRER APP ZUR SELBSTUNTERSUCHUNG DER BRUST DAS BESTE!
APP UNTERSTÜTZT B R UST-S ELB S TC H EC K
Zusammen mit zwei weiteren Expertinnen hat Brida von Castelberg auf privater Basis eine App entwickelt, die den regelmässigen Selbstcheck der Brust erleichtern soll. Sie demonstriert mit Video und Animationen den Aufbau der weiblichen Brust und zeigt die richtige Untersuchung. Sie berät zudem, wie vorzugehen bei sicht- oder tastbaren Veränderungen, und erinnert auf Wunsch an die regelmässige Untersuchung.
BRIDA VON CASTELBERG war 1993 bis 2012 Chefärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe des Triemlispitals in Zürich. Heute unterstützt sie ein Ambulatorium für Schwangere in Marokko. Eine von ihr mitentwickelte App zur Selbstuntersuchung der weiblichen Brust («BrustSelbstcheck») kann auf iPhone und Android heruntergeladen werden.
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