Transkript
GESUNDHEITSPLATZ WINTERTHUR – UNTERNEHMERGEIST UND PATIENTENORIENTIERUNG
Selbsthilfe: Bereichernde Zusammenarbeit
Seit über zehn Jahren unter-
stützt das Selbsthilfezentrum
Region Winterthur Selbst-
hilfegruppen in ihrer Arbeit.
Stadt, Kanton und Stiftungen
tragen das Projekt seit Beginn
mit. Und aus der anfäng-
lichen Opposition zur tra-
dierten Fachwelt ist eine
bereichernde Zusammen-
arbeit zum Nutzen aller ent-
standen.
Regula Kupper
I m Jahr 1992 haben einige Personen beschlossen, in Winterthur ein Kontaktnetz für Selbsthilfegruppen zu gründen. Sie haben eine Adresskartei angelegt und Interessentinnen1 mit ähnlichen Anliegen miteinander in Verbindung gebracht. In unzähligen Stunden Freiwilligenarbeit wurden ein Verein gegründet und Räume und Finanzen beschafft. Der Stadtrat unterstützte das Projekt. Auch der Kanton erklärte die Absicht, drei Zentren (Zürcher Oberland, Winterthur und Zürich) mitzutragen. Drei Winterthurer Stiftungen engagierten sich zudem mit namhaften Beiträgen. Die Gesprächsbereitschaft der involvierten Personen aus Politik, Verwaltung und privaten Stiftungen und deren gute Vernetzung untereinander haben sich für uns als Standortvorteil erwiesen. Im Jahr 1994
konnte die professionell geführte Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen eröffnet werden.
Wie Selbsthilfegruppen arbeiten
Eigeninitiative, Verantwortung und die Bereitschaft zur Veränderung sind bedeutende Elemente in Selbsthilfegruppen. Die meisten arbeiten nach dem Prinzip von Peer-Groups: Sie organisieren sich selbst, ohne fachliche Leitung. Die Aufgaben werden von allen Teilnehmerinnen gemeinsam getragen. Gruppenmitglieder tauschen Erfahrungen aus, tragen Informationen zusammen und recherchieren Fachwissen. Sie erarbeiten sich praktische Bewältigungshilfen für den Alltag. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppen erhalten einerseits Hilfe und geben andererseits den anderen Unterstützung. Die regelmässigen Gruppentreffen werden von einem oder mehreren Mitgliedern abwechselnd moderiert.
Der Wert des Verstandenwerdens
Was macht denn nun eigentlich den Wert einer Selbsthilfegruppe aus? Die Antworten dazu sind erstaunlich einfach und übereinstimmend: «Es tut gut, verstanden zu werden.» Es scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, sich verstanden zu fühlen. Auf die Frage, was denn anders werde, wenn man sich verstanden fühle, kommen Antworten wie: «Ich merke, dass meine Wahrnehmung richtig ist»; «es ist einfacher zu tragen, wenn ich Menschen kenne, die den Schmerz genauso wie ich kennen»; «es fühlt sich stimmig an»; «es gibt mir Kraft/Vertrauen,
Regula Kupper
verstanden zu sein». Mit dem Wunsch, Mitleid zu erhalten, haben diese Aussagen wenig zu tun. Diese Rückmeldungen stimmen überein mit den Forschungen von Aaron Antonovsky [1]. Seine Untersuchungen beschäftigten sich mit der Frage, unter welchen Umständen es Menschen gelingt, gesund zu bleiben, auch wenn sie belastenden Einwirkungen ausgesetzt sind. Sein Konzept der Salutogenese (wie Gesundheit entsteht) besagt, dass Menschen, die ein «Gefühl der Stimmigkeit» und des Vertrauens (Kohärenzgefühl) in sich tragen, besser mit gefährdenden oder schädigenden Situationen fertig werden. Ein Kohärenzgefühl entsteht nach seinen Erkenntnissen dann, wenn Menschen und Situationen verstanden werden (Verstehbarkeit), wenn sie einen Sinn ergeben (Sinnhaftigkeit) und wenn sich Wege zur Lösung eines Problems abzeichnen (Bewältigbarkeit). In der ersten Phase einer
1 Im Text wird abwechslungsweise die weibliche und die männliche Form benutzt.
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GESUNDHEITSPLATZ WINTERTHUR – UNTERNEHMERGEIST UND PATIENTENORIENTIERUNG
Selbsthilfegruppe ist vor allem der erste Pfeiler «Verstehbarkeit» (ich werde verstanden und ich verstehe, was bei mir und anderen vorgeht) wichtig. Im Laufe des Gruppenprozesses wird immer mehr auch an den Pfeilern «Bewältigbarkeit» und «Sinnhaftigkeit» gearbeitet. In dieser Weise tragen Selbsthilfegruppen zur Gesundheitsförderung bei.
Entwicklung der Selbsthilfegruppen
Die Entwicklung der Selbsthilfegruppen zeigt sich in der Schweiz ausgesprochen heterogen, je nach Region mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Selbsthilfebewegung war in ihren Ursprüngen unter anderem auch eine Oppositionsbewegung, die ihren Unmut und ihre Enttäuschung über Fachleute und tradierte Institutionen zum Ausdruck bringen wollte. Sie sah sich als Gegenpol zu einer passiven, autoritätsgläubigen Haltung gegenüber Medizin, Psychiatrie und sozialen Institutionen. Anfangs hatten die Exponentinnen der Selbsthilfe noch mit viel Gegenwind seitens der Fachwelt zu kämpfen. Diese Positionen aus der Pionierzeit haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Einerseits haben viele Fachleute das Potenzial der Selbsthilfegruppen erkannt, andererseits haben Selbsthilfegruppen gelernt, dass die Zusammenarbeit mit Fachleuten für beide Seiten bereichernd sein kann.
Zusammenarbeit mit Fachleuten
Die Teilnahme in einer Selbsthilfegruppe basiert auf Freiwilligkeit, kann also nicht verordnet werden. Anonymität ist eine weitere Grundbedingung. Aus diesem Grund tauschen wir keine Namen und Daten von Gruppenmitgliedern mit anderen Fachstellen aus. Dennoch kann die Teilnahme in einer Selbsthilfegruppe Bestandteil der Therapieplanung sein. Unser Alltag zeigt, wie selbstverständlich Fachleute und ihre Klientinnen eine Selbsthilfegruppe schon als Möglichkeit integrieren. Im vergangenen Jahr gingen über 180 Anfragen von Fachleuten bei uns ein. Und immer mehr Inter-
essierte geben an, von der Ärztin, dem Therapeuten oder sogar von einer Krankenkasse auf die Selbsthilfegruppe aufmerksam gemacht worden zu sein. In den vergangenen Jahren hat der Bekanntheitsgrad von Selbsthilfegruppen stetig zugenommen. Dies führen wir auf Mund-zu-Mund-Propaganda und auf unsere Präsenz in den Medien zurück, die entsteht, wenn wir neue Gruppen ankünden. Wir führen Informationsveranstaltungen durch und orientieren interessierte Fachleute über neue Gruppengründungen. Im September haben wir eine Fachtagung zum Thema Selbsthilfegruppen und deren Bedeutung im Gemeinwesen durchgeführt.
Tendenzen für die nächsten Jahre
In den letzten Jahren haben wir individuell an die Gruppen angepasste Werkzeuge entwickelt, geleitet von den Fragen: Wie gelingt es Gruppen möglichst gut, sich selbst zu organisieren? Was brauchen sie, um zielgerichtet an ihren Themen arbeiten zu können? So steht den Gruppen nun ein breites Angebot an Strukturhilfen, Methoden zur Zielklärung und Konfliktbewältigung zur Verfügung. Bei Problemen und zur Unterstützung können sie jederzeit Beratung und Coaching in Anspruch nehmen. Dies führte in den vergangenen Jahren zu einer Arbeitsweise mit mehr Qualität und Tiefe. Eine Tendenz für die kommenden Jahre sehen wir in der Vernetzung der Gruppen untereinander, damit sie Erfahrungen und Informationen austauschen können. Zum Beispiel in Form von Quartalstreffen, in denen Probleme, die sich in Gruppen stellen, diskutiert oder allgemeine Lebensthemen bearbeitet werden. Weiter planen wir mehr Weiterbildungsmöglichkeiten für Selbsthilfegruppenmitglieder in den Bereichen Gruppendynamik, Konfliktsituationen, Zielklärung und Themenbearbeitungsmethoden. Einen wichtigen Schwerpunkt für die Zukunft sehen wir darin, Veranstaltungen für den Dialog zwischen Fachleuten und Selbsthilfegruppen zu organisieren. Die Konzepte der
Patientenorientierung und des Empowerments versuchen viele Fachleute in ihrem Arbeitsalltag konkret umsetzen. Von Selbsthilfegruppen können sie lernen, was Klientinnen brauchen, um verantwortungsvoll an ihrem Heilungsprozess mitwirken zu können. Sie erfahren auch, wie in Selbsthilfegruppen die Ressourcen gestärkt werden und welche
«Einen wichtigen
Schwerpunkt für die
Zukunft sehen wir darin,
Veranstaltungen für den
Dialog zwischen Fach-
leuten und Selbsthilfe-
»gruppen zu organisieren.
Voraussetzungen ihre Klienten mit-
bringen sollten, um erfolgreich in ei-
ner Selbsthilfegruppe mitzumachen.
Selbsthilfegruppen andererseits kön-
nen von Fachleuten profitieren, in-
dem sie Wissenslücken schliessen,
verschiedene Therapiemöglichkeiten
kennen lernen und konkrete Tipps
zur Situationsbewältigung erhalten.
Mit all diesen Massnahmen möch-
ten wir dazu beizutragen, dass sich
immer mehr Menschen selbstbe-
wusst und partnerschaftlich für ihr
Wohlergehen und ihre Gesundheit
stark machen.
■
Autorin:
Regula Kupper
SelbsthilfeZentrum Region Winterthur
Holderplatz 4 8400 Winterthur E-Mail: info@selbst-hilfe.ch
Literaturhinweis:
1. Aaron Antonovsky (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, Tübingen.
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