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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Was ist integrierte Versorgung?
Eine Begriffsklärung
Der Präsident des Forums Managed Care, eine Ständerätin, ein Vertreter der Krankenversicherer und der Präsident des Dachverbandes der bestehenden Netzwerke, med-swiss.net, erläutern, was sie unter integrierter Versorgung verstehen und welche
Ergebnisse sie von ihr erwar-
ten. Das Vorwort hat der Prä-
sident von med-swiss.net.
Aus der praktischen Erfahrung, dass das Gesundheitswesen der Schweiz bei immer noch guter Qualität, aber sehr hohen Ausgaben ausgesprochen individualistisch und unkoordiniert aufgebaut ist, haben sich in den letzen Jahren viele Netzwerke gebildet, welche mit pragmatischem Ansatz versuchten, über eine bessere
Zusammenarbeit und Steuerung die Effizienz der Gesundheitsversorgung zu steigern. Es ist kennzeichnend für die Schweizer Managed-Care-Szene, dass erst jetzt ernsthaft versucht wird, gemeinsame theoretische Grundlagen und Definitionskriterien für Versorgungsnetze zu erarbeiten. Dieser Weg birgt allerdings grosse Vorteile: Durch die Vielfalt der Experimente konnten wertvolle Erfahrungen gesammelt werden, welche nun in die theoretische Aufarbeitung einfliessen können. (Dr. med. Max-Albrecht Fischer, Präsident med-swiss.net)
INTEGRIERTE VERSORGUNG
Was ist integrierte Versorgung?
PD Dr. med. Peter Berchtold Präsident Forum Managed Care
Integrierte Versorgung heisst, dass Gesunderhaltung und Prävention, Behandlung und Betreuung, Nachsorge und Rehabilitation zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft sind. Integrierte Versorgung und Managed Care sollen dabei, wie im englischen Sprachraum, als Synonyme verstanden werden. Herausragende Unterschiede zur heute vorherrschenden Selbstorganisation der einzelnen Akteure sind der höhere Vernetzungsgrad und die bessere Steuerbarkeit integrierter Versorgungssysteme.
Trix Heberlein
Ständerätin (FDP),
Mitglied der Kommis-
sion für soziale
Sicherheit und Ge-
sundheit
Das Krankenversicherungsgesetz hat 1994 die Möglichkeit geschaffen, besondere Versicherungsmodelle einzuführen. Wir können uns freiwillig einschränken bei der Arztwahl, wir können uns Netzwerken anschliessen, und sollten damit von einem Prämienrabatt profitieren. Die bestehenden Modelle sind aber noch weit von Managed Care oder gar integrierter Versorgung entfernt. In den Vorlagen zur laufenden Gesetzesdiskussion sind solche Modelle wieder vorgesehen und ansatzweise ausgestaltet. Bessere Kontrolle der Art und Zahl der Behandlungen, eine Übersicht über verordnete Medikamente oder konsultierte Ärzte, HMO-Praxen – dies sind erste Ansätze von Managed Care in unserem Land. Eine integrierte Versorgung geht jedoch bedeutend weiter: Sie umfasst das gesamte Spektrum, von der ersten ambulanten Konsultation über verordnete Medikamente, Spitaleinweisungen (unter Berücksichtigung aller bereits vorgenommenen Untersuchungen), Behandlungen im Spital und den Austritt bis hin zu den notwendigen weiteren Behandlungen zu Hause.
Welches sind die Erwartungen an die integrierte Versorgung? Was soll sie leisten, damit sie sich bei allen Beteiligten und Betroffenen als Standard durchsetzen kann?
Im Grundsatz will integrierte Versorgung Einzelleistungen, die von einzelnen Fachpersonen oder Institutionen angeboten werden, zu Paketen bündeln. Damit werden Leistungen koordiniert, Doppelspurigkeiten abgebaut, Behandlungs- und Betreuungsabläufe transparenter und steuerbarer gemacht sowie neue Preisgestaltungen ermöglicht. Von einer Leistungsbündelung profitieren nicht nur Finanzierer und Regulierer, sondern auch Individuen und Patienten. Denn der Nutzen von Leistungspaketen ist für Patienten klarer wahrnehmbar als jener von Einzelleistungen.
Für den Versicherten bringt die integrierte Behandlung nur Vorteile. Er wird besser beraten, die Leistungen sind kontrollierbar und überschaubar für alle Beteiligten. Mehrfachbehandung, Unverträglichkeiten oder andere unerwünschte Komplikationen können eher ausgeschlossen werden.
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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Walter Frei Stabstelle Politik, Santésuisse
Der Begriff bezeichnet die koordinierte, die einzelnen Sektoren übergreifende Gesundheitsversorgung von Patienten (insbesondere bei komplexen Behandlungsprozessen oder chronischen Erkrankungen). Dem entsprechen auf der Leistungsseite Versorgungsstrukturen, welche geordnete und effiziente Abläufe bei der Behandlung und Pflege ohne zeitliche und inhaltliche Brüche ermöglichen, und auf der Versichererseite Vergütungsformen, die auf den gesamten Leistungsprozess und nicht einzelne Leistungsbereiche ausgerichtet sind.
Dr. med. Max-Albrecht
Fischer
Präsident med-
swiss.net
med-swiss.net hat unter dem Titel «Vision 08» eine Arbeitsgruppe gebildet, welche Merkmale und Definitionskriterien für Netzwerke sammelt und wertet: Gemeinsam sind allen Modelle das Streben nach einer Steuerung aus einer Hand und, damit verbunden, Massnahmen zur Qualitätsentwicklung/-sicherung. Bezüglich Budgetmitverantwortung sind vielfältige Lösungen entstanden: von der Nulllösung bis zur Kopfpauschale. Allgemein hat sich allerdings die Meinung durchgesetzt, dass irgendeine Form der Budgetmitverantwortung notwendig ist, um die Anreize für die Leistungserbringer längerfristig umzukehren. Doch die Dualität von Leistungserbringern und Finanzierern ist zu wahren: Die Netzwerke sollen nicht als Versicherer auftreten, die Versicherungen sollen selber keine Netzwerke betreiben. Mehrere Varianten sind auch in Bezug auf die vertikale Vernetzung denkbar. Die Integration der gesamten Behandlungskette inklusive medizinverwandter Berufe ist eine Extremvariante. Die Prozesse sollen die Strukturen bestimmen. Dabei ist zu bedenken, dass mit vermehrter Integration entlang der Behandlungskette bedeutende Wettbewerbselemente verdrängt werden, etwa das Aushandeln von (günstigeren) Pauschalen mit einzelnen Leistungsanbietern.
Was ist integrierte Versorgung?
Sie muss entscheidend zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Behandlungen beitragen. Die Qualität wird durch folgende Faktoren gefördert: ■ Die Medizin wird ganz in den Dienst eines Patientenproblems gestellt. ■ Die Kontinuität in der Behandlung über verschiedene Sektoren wird garantiert. ■ Einzelkämpfer aller Sektoren werden in ein medizinisch und ökonomisch verantwortliches Team eingegliedert. ■ Die gesamte Versorgung wird vom Endpunkt her definiert. Die Wirtschaftlichkeit wird verbessert: ■ indem die Kosten treibende Einzelleistungsvergütung durch pauschale,
Unbestrittenes Ziel der integrierten Versorgungsnetze ist es, bei gesicherter Qualität die medizinischen Leistungen zu günstigerem Preis anzubieten und durch Elemente der Prävention die Nachhaltigkeit der medizinischen Versorgung zu steigern. Ausdrücklich kein Merkmal der Versorgungsnetze ist aber jede Form einer offenen oder versteckten Rationierung. Diese, sollte sie dereinst notwendig sein, bleibt ausschliesslich Aufgabe der Politik. Die Versorgungsnetze wollen für Versicherte und Patienten einen Mehrwert erzielen. Nur damit kann mittelfristig erreicht werden, dass sich diese Form der Krankenversicherung als Standard durchsetzt.
Welches sind die Erwartungen an die integrierte Versorgung? Was soll sie leisten, damit sie sich bei allen Beteiligten und Betroffenen als Standard durchsetzen kann?
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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Wie wird eine gute integrierte Versorgung gemessen (Kosten-NutzenRelation)?
Es existiert keine simple Messmethode zur Nutzenevaluation für integrierte Versorgung als Ganzes, höchstens für einzelne Integrationsmassnahmen. Und der Nachweis einer «guten integrierten Versorgung» gelingt nur in einem Systemansatz, welcher Nutzen und Qualität aus den verschiedenen Perspektiven der Akteure (Patienten, Leistungserbringer, Versicherer und Staat) feststellbar macht. Gegenüber traditioneller Versorgung bedeutet Integration und Steuerung natürlich zusätzlichen Aufwand und damit Kosten, welche transparent ausgewiesen werden sollen.
Aus dem oben Gesagten ergibt sich auch, dass die Kosten-Nutzen-Relation mittelfristig sicher positiv sein wird. Dies lässt sich daran messen, dass die Qualität besser kontrolliert werden kann und dass die Leistungen mengenmässig überschaubarer bleiben. Mit diesem Modell werden also Kosten und damit auch Prämien gespart.
Wirkt sich die integrierte Versorgung auf die Chancengleichheit aller Bevölkerungsschichten bezüglich der Gesundheitsversorgung aus?
Grundsätzlich stehen integrierte Versorgung und Chancengleichheit nicht im Widerspruch zueinander. Und die «klassenlose» Medizin gibt es heute nicht, beziehungsweise sie war schon immer eine Utopie. In diesem Sinne können einzelne Integrationsbemühungen sowohl zu mehr wie auch zu weniger Chancengleichheit führen. Allerdings ist der Begriff Chancengleichheit auch ein häufig missbrauchtes Schlagwort. So etwa wenn, als Schreckensszenario für die Schweiz, auf den sehr teuren und für sozial Schwächere nicht zugänglichen Privatversicherungsbereich der Gesundheitsversorgung in Grossbritannien verwiesen wird.
Auch auf die Chancengleichheit wirkt sich das Modell positiv aus. Denn auch Personen, die sich weniger wehren können, werden durch neue Systeme wie HMOs, Managed Care und eben integrierte Versorgungsnetze besser versorgt: Der Behandlungsablauf ist für alle Patienten derselbe! Damit sind Qualität und Chancengleichheit gewahrt.
Trix Heberlein Ständerätin (FDP), Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
PD Dr. med. Peter Berchtold Präsident Forum Managed Care
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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Sektoren übergreifende Vergütungsformen und eine entsprechende Budgetverantwortung abgelöst wird. ■ indem Schnittstellenprobleme wie unnötige Mehrfachuntersuchungen, überflüssige Diagnostik und so weiter reduziert werden.
Durch Vergleiche mit der konventionellen Behandlung bezüglich Kosten, Qualität, Dauer und so weiter und durch Patientenbefragungen. Während Kostenvergleiche keine grossen Probleme aufwerfen dürften, stehen leider anerkannte Instrumente zur Messung der Qualität noch nicht zur Verfügung.
Die Qualitätsentwicklung und -sicherung ist nicht nur Garant dafür, dass unter dem Spardruck keine Leistungen vorenthalten werden, sondern soll auch dazu dienen, die Kosten-Nutzen-Relation abzubilden. Die Netzwerke werden dann den grössten Nutzen erzielen, wenn sie die Nachhaltigkeit ihrer Anstrengungen nachweisen können. Letztlich ist dies nur durch die Beobachtung des individuellen Krankheitsverlaufs über standardisierte Patientenpfade im Vergleich zu einem gleichartigen Patientenkollektiv möglich. Eine verfeinerte Erhebung von Morbiditäts- und anderen Daten ist dafür unumgänglich. Gerade hierzu ist eine elektronische Vernetzung sehr hilfreich.
Wie wird eine gute integrierte Versorgung gemessen (Kosten-NutzenRelation)?
Die integrierte Versorgung ist mit einer Einschränkung der Arztwahlfreiheit verbunden, muss aber nicht zu ungleichen Behandlungschancen verschiedener Bevölkerungskreise führen, und zwar aus folgenden Gründen: ■ Erstens soll weiterhin für alle Versicherten die freie Wahl zwischen integrierten Netzwerken und der konventionellen Versorgung bestehen. ■ Zweitens ist die integrierte Versorgung geeignet, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern, und würde damit sogar die Behandlungschancen von Bevölkerungsschichten verbessern, die auf eine kostengünstige Versicherungsform angewiesen sind.
Die Versorgungsnetze dürfen nicht zum Vehikel politischer Partikularinteressen werden. Nur wenn sie alle Bevölkerungsschichten erreichen, werden sie langfristig glaubwürdig bleiben. Das bisherige Image als reine Sparmodelle ist für die Zukunft hinderlich. Ich wünsche mir als Motto für die Versorgungsnetze: «gute Qualität zu gutem Preis». Bei sich öffnender Schere der Zweiklassenmedizin können die Versorgungsnetze allen Bevölkerungsschichten den Zugang zu einer sinnvollen und bedürfnisgerechten Spitzenmedizin sichern.
Dr. med. Max-Albrecht Fischer Präsident med-swiss.net
Wirkt sich die integrierte Versorgung auf die Chancengleichheit aller Bevölkerungsschichten bezüglich der Gesundheitsversorgung aus?
Walter Frei Stabstelle Politik, Santésuisse
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