Transkript
INTEGRIERTE VERSORGUNG
IT im Gesundheitswesen:
Erfahrungen mit einem nationalen Forschungs- und Entwicklungsprogramm in Schweden
Die elektronische Vernetzung
ist ein wichtiges Hilfsmittel
für eine integrierte Versor-
gung im Gesundheitswesen.
Im schwedischen Gesund-
heitssystem ist die elektro-
nische Vernetzung weit
fortgeschritten. Wie kam es
dazu, und welches sind die
Auswirkungen?
Håkan Eriksson
S chweden hat rund 8,9 Millionen Einwohnern. Die Gesundheitsausgaben betrugen 1999 7,6 Prozent des Bruttosozialprodukts. Schweden verfügt über 9 Regionalspitäler, 80 Allgemeinspitäler und 900 Gesundheitszentren. Das Thema Informations- und Kommunikationstechnologie (IT) im Gesundheitswesen ist in Schweden schon früh auf Interesse gestossen. Das hat verschiedene Gründe: Der IT-Sektor ist weit entwickelt, und die IT-Kompetenz der potenziellen Nutzer ist hoch. Die Gesundheitsleistungen sind für alle gleichermassen zugänglich, sodass sich eine elektronische Vernetzung leicht realisieren lässt. Grosse geografische Distanzen und Landesteile mit spärlicher Besiedelung limitieren den Zugang zu Medizin und Pflege. Und schliesslich setzt die Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum nahezu null beträgt, den zunehmenden Gesundheitsbedürfnissen einer alternden Bevölkerung Grenzen.
Ein nationales Programm
In den späten 1990er-Jahren hat das Interesse an einer Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern, Wissenschaft und Industrie im IT-Bereich stark zugenommen. Einige wichtige Ursachen hierfür sind im Kasten aufgeführt. Die KompetenzförderungsStiftung «Knowledge Foundation» wollte die bestehenden Impulse nutzen, um die Entwicklung und Umsetzung von IT im Gesundheitswesen zu fördern. Deshalb hat sie 1997 in Zusammenarbeit mit dem Bund der schwedischen Provinziallandtage1 ein nationales Forschungs- und Entwicklungsprogramm initiiert. Ziel war es, die Qualität und die Effizienz der Gesundheitsversorgung durch die Nutzung moderner IT zu verbessern, die organisatorische und strukturelle Entwicklung des Gesundheitssystems zu erleichtern und die Entwicklung eines funktionierenden Marktes für IT-Produkte und -Applikationen (= -Anwendungsprogramme) im Gesundheitswesen zu unterstützen. Das Programm umfasste 112 Projekte und wurde mit umgerechnet 20 Millionen Euro ausgestattet. Bis heute wurde beziehungsweise wird die Telemedizin in Schweden in über 100 Applikationen getestet und/oder genutzt. Dies geschah erstmals bereits in den 1960er-Jahren; aber richtig in Schwung kamen die Entwicklungen erst in den 1980erJahren. Inzwischen haben 75 Prozent der Spitäler irgendeine IT-Applikation getestet und/oder implementiert. Die Mehrheit dieser Applikationen wurden in Entwicklungsprojekte überführt. Nur vergleichsweise wenige wurden in die regulären Gesundheitsdienste integriert.
Håkan Eriksson
Ergebnisse des Programms
Das Programm hat unter anderem zu den folgenden Ergebnissen und Erkenntnissen geführt: ■ Es wurden Möglichkeiten zur Verarbeitung und Speicherung medizinischer Informationen aller Art (inkl. Bilder) auf digitalen Medien und zur Kommunikation derselben über Internet und über andere Netzwerke geschaffen. ■ Das Programm hat gezeigt, dass Fragen betreffend Datensicherheit und -integrität gelöst werden können und kein ernsthaftes Problem mehr darstellen. ■ Es hat sich gezeigt, dass sich Informationen aus dem Gesundheitssektor mit dem Internet in befriedigender Weise nach aussen sowie innerhalb des Sektors kommunizieren lassen. ■ Das gemeinsame Netzwerk für ITApplikationen im Gesundheitswesen, Sjunet, das zuerst von sieben Provin-
1 In Schweden spielen im Bereich des Gesundheitswesens die 21 Provinzen (entsprechend den Schweizer Kantonen) beziehungsweise deren gewählte Regierungen, die Provinziallandtage, eine wichtige Rolle.
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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Kasten:
Gründe für das zunehmende Interesse an gemeinsamen IT-Lösungen
Das zunehmende Interesse der späten 1990-er Jahre in Schweden an der Entwicklung gemeinsamer Lösungen und Anwendungen im Bereich «IT im Gesundheitswesen» war auf verschiedene wichtige Faktoren zurückzuführen:
● Eine integrierte, patientenorientierte IT-Unterstützung für die Leistungserbringer wurde als prioritäres Ziel erkannt.
● Die Notwendigkeit einer besseren, IT-gestützten Zusammenarbeit zwischen der von den Provinzen getragenen Gesundheitsversorgung und der von den Gemeinden getragenen Alterspflege wurde offensichtlich.
● Die Nutzung gemeinsamer IT-Lösungen, -Komponenten und -Dienste wurde als Weg erkannt, um die Kosten für die Implementierung, den Betrieb und den Unterhalt der IT-Hilfsmittel zu senken.
● Die Bildung grösserer Versorgungsregionen brachte eine Konzentration der strategischen Entscheidungen und der IT-Ressourcen auf weniger Standorte mit sich.
● Die Beteiligung an internationalen IT-Aktivitäten innerhalb der EU und weltweit wurde wichtiger, um den zunehmenden Informationsaustausch über die nationalen Grenzen hinweg bewältigen zu können.
● Immer grössere Mengen von Informationen – medizinische, soziale, administrative und technische – und immer mehr Dienste verschiedenster Art wurden via Intra- und Extranet elektronisch verfügbar.
● Die technischen Lösungen waren so weit entwickelt, dass sie die Entwicklung von IT-Applikationen im Gesundheitswesen nicht limitierten.
All diese Faktoren zusammen bildeten eine Basis für eine koordinierte, gemeinsame IT-Entwicklung, an der sich alle wichtigen Akteure beteiligten.
ziallandtagen aufgebaut wurde, ist zu einem nationalen Netz angewachsen, das alle öffentlichen Leistungserbringer, die Apotheken sowie die Mehrheit der privaten Leistungserbringer einbezieht (siehe Abbildung). Dieses Projekt muss als Durchbruch für die IT-Nutzung im schwedischen Gesundheitswesen bezeichnet werden. ■ Das Potenzial der IT-Medizin (Telemedizin und -pflege) wurde durch verschiedene erfolgreiche Projekte zu Themen wie Fernkonsultationen, Kompetenzentwicklung und so weiter bestätigt. ■ Im Bildungsbereich hat das Programm zur Etablierung von Basisstudien-Programmen (Undergraduate Programs) für Medizininformatik beigetragen. ■ Das Programm hat gezeigt, dass verschiedene Fragen bezüglich Behandlungsabläufen sowie technischer Art innerhalb einer Provinz, innerhalb einer Versorgungsregion oder auf nationaler Ebene gemeinsam gelöst werden müssen, damit IT in grösserem Rahmen und zu verschiedenen Zwecken genutzt werden kann. ■ Es wurden gewisse Umsetzungsprobleme identifiziert, welche die Einführung von IT-Applikationen verzögern können:
■ Beim Versuch, die Geräte ohne Zugang zu speziellem SupportPersonal zum Laufen zu bringen, gab es beträchtliche technische Probleme. Auch die Vorkosten für Geräte und Telekommunikation waren für eine Einführung in grösserem Rahmen viel zu hoch. ■ Ein grosses Hindernis besteht darin, Wege zur Einführung von IT-Applikationen in Gesundheitsdienste zu finden, die sowohl vom beteiligten Personal akzeptiert und verstanden werden als auch zu den angestrebten Verbesserungen führen. ■ Als grösstes Hindernis erwies sich, dass die IT-Medizin bisher noch nicht richtig in die Unternehmensperspektive integriert worden ist und vom Management noch nicht wirklich zur Verbesserung und Erneuerung relevanter Sektoren der Gesundheitsdienste genutzt wird.
Was IT bewirken kann
Die aktuellen Probleme der Gesundheitsversorgung können nicht auf traditionelle Art, das heisst durch Anstellung von mehr Personal und durch Reorganisation, gelöst werden. Diese Pfade sind unter anderem
deshalb verschlossen, weil das Geld zur Finanzierung fehlt und weil es zu wenig qualifiziertes medizinisches Personal gibt. Der wichtigste Grund ist aber, dass die traditionellen Lösungen nicht einmal mehr kurzfristig gut funktionieren und dass sie die Neuorientierung in Richtung langfristiger entwicklungsfähiger Lösungen verzögern und behindern. So betrachtet scheint es künftig unumgänglich zu sein, grundlegende Arbeitsprozesse und deren Interaktion zu reorganisieren. Hierfür nun aber sind IT-basierte Applikationen wichtig. Das heisst nicht, dass die vermehrte Nutzung von IT automatisch zu einer Verbesserung der Gesundheitsdienste führen würde. Vielmehr verlangt die vermehrte Nutzung von IT anfängliche Investitionen und Entscheidungen auf allen Management-Ebenen. Dabei ist zu betonen, dass nicht nur durch die Einführung, sondern auch durch die Verbreitung des IT-Einsatzes wichtige Voraussetzungen für langfristige, entwicklungsfähige Lösungen geschaffen werden.
Schlussbemerkungen
Damit der IT-Einsatz die oben beschriebenen Erfolge zeigen kann, sind die folgenden Aspekte zu beachten: ■ Die traditionellen Methoden zur Einführung neuer Technologien in einen Sektor – via Pilotstudien, Evaluationen und Entscheidungen – funktionieren bei IT-Applikationen nicht. Eine Klinik oder eine Grundversorger-Praxis kann eine solche Applikation nicht völlig allein realisieren, weil der eigentliche Sinn der Applikation darin besteht, es dem Leistungserbringer zu ermöglichen, einfach und schnell mit anderen Leistungserbringern zusammenzuarbeiten und Funktionen, die anderswo (oft in einer anderen organisatorischen Einheit oder in einer anderen Organisation) lokalisiert sind, zu unterstützen. Die wichtigsten Vorteile der IT-basierten Medizin kommen dann zum Tragen, wenn die Applikationen in vielen verschiedenen Situationen und von vielen verschiedenen Leistungserbringern und Unterstützungsdiensten genutzt werden.
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INTEGRIERTE VERSORGUNG / FEEDBACK
Abbildung:
Informations-/KommunikationsInfrastruktur
Callcenter Care-Manager
Internetverbindung
WebSchnittstelle
Telefonleitung des Patienten bzw. Internetleitung
Gemeinsames Netz (Sjunet)
PC Leistungserbringer
Patient
Mobile medizinische Geräte
Applikationen müssen also koordi-
niert und in die gesamten Aktivitä-
ten und IT-Anwendungen des Mana-
gements und der Einrichtungen im
Gesundheitsbereich integriert wer-
den. Es gibt kein einfaches Rezept
und kein allgemein gültiges Mass,
das alle Probleme lösen und zur an-
gestrebten breiten Nutzung IT-ba-
sierter Medizin führen könnte. Viel-
mehr sind mehrere Massnahmen
verschiedener Art erforderlich, wel-
che zusammen etwas bewirken kön-
nen. Es braucht also eine kohärente
Strategie und ein kohärentes Ak-
tionsprogramm.
■
Spitalbehandlung Wahleingriff Grundversorgung Rehabilitation
Apotheke
■ Nicht einmal eine mittelgrosse Provinz ist finanziell in der Lage, alleine IT-Medizin in grösserem Rahmen einzuführen. Viele Applikationen verlangen eine Kooperation mit Sozial- und Gesundheitsdiensten der Gemeinden und, wenn es um hochspezialisierte Medizin geht, mit Universitätsspitälern. Um maximale Ergebnisse zu erzielen, ist also eine regionale und nationale Kooperation erforderlich.
■ Die telemedizinischen und -pflegerischen Applikationen sind nur einer von verschiedenen Bereichen des IT-Einsatzes in den Gesundheitsdiensten; sie werden stark erleichtert, wenn sie koordiniert werden mit anderen IT-Applikationen, insbesondere in den Bereichen Patienten-Administration, Erfassung von Krankengeschichten und anderen medizinischen Dokumentationen sowie Leistungserfassung. All diese
Autor:
Prof. Håkan Eriksson
KK-Foundation and Dept. of Woman and Child Health
Karolinska Hospital SE-171 76 Stockholm
Sweden E-Mail: hakan.eriksson@kbh.ki.se
Übersetzung aus dem Englischen:
Rita Schnetzler
The english version of this article is available at: www.ManagedCareInfo.net
Leserbrief
Fehlende Bestrafung der Selbstschädiger
Zu: Ch. Mäder: Wie bleibt man denn gesund? MC 5/04
Im Zuge der Wellness- und LifestyleBewegung wird Gesundheit als etwas furchtbar Kostbares und Empfindliches dargestellt, was es überhaupt nicht ist: Bei durchnittlich solidem Leben reguliert sich die Gesundheit selbst. In diesem Sinn gibt es keine Gesundheitskosten, sondern bloss Krankheitskosten. Diese hängen zugegebenermassen stark mit dem schädigenden Verhalten eines
Teils der Bevölkerung zusammen, und sie konnten mangels Bestrafung der Selbstschädiger bisher noch kaum beeinflusst werden. Kleines Beispiel: In New York wurde der Zigarettenpreis verfünffacht, was bloss zehn Prozent neue Nichtraucher brachte. Die Zürcher Polizei hat deshalb ihre Kampagne gegen die Raser nicht auf diese selbst fokussiert, sondern auf deren Umgebung – offenbar mit guter
Akzeptanz. In diesem Zusammenhang finde ich es unfair, wenn Christoph Mäder in seinem Artikel das Gesundheitssystem mehr anschuldigt als die Kostenverursacher.
Dr. med. Jean Berner Arzt für Allgemeinmedizin FMH Bahnhofstrasse 48 8305 Dietlikon
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