Transkript
INTEGRIERTE VERSORGUNG
Der lange Weg zur integrierten Versorgung
Nachdem die bisherigen
Hausarztsysteme und HMOs
die Probleme im Gesund-
heitswesen nicht oder nur
ansatzweise lösen konnten,
sollen nun integrierte Versor-
gungsnetze Abhilfe schaffen.
Der Beitrag erläutert aus
Sicht der Krankenversicherer,
welche Anforderungen sol-
che Netze erfüllen müssen
und welche Rahmenbedin-
gungen es braucht, damit
überhaupt solche Netze
entstehen.
Karl Kunz, Heinz Dönni
W ir haben ein ausgezeichnet ausgebautes Gesundheitswesen: In den Städten gibt es beinahe an jeder Kreuzung eine Apotheke, die Anfahrtszeit zum nächsten Spital ist kaum länger als 20 Minuten, und je nach Kanton leisten wir uns einen Arzt auf 126 bis 636 Einwohner. Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Leistungserbringer, Hersteller und Zulieferer medizinischer Güter, die uns alle bestens versorgen. Als Patienten sind wir froh um dieses Angebot und machen auch ausgiebig davon Gebrauch. Das Gesundheitssystem ist föderalistisch aufgebaut und nicht koordiniert, da wundert es kaum, dass es
zu unnötigen beziehungsweise unangemessenen Leistungen kommt. Dafür sorgen schon die Anreize, die allesamt auf Mengenausweitung ausgerichtet sind: Einzelleistungstarif, unterschiedliche Kostenträger für stationäre und ambulante Behandlungen, unterschiedliche Tarife je nach Status des Versicherten und vieles mehr. Im Zusammenhang mit der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen reden wir denn auch vom Mengenproblem, was ja nichts anderes heisst, als dass wir unsere Ressourcen nicht immer sinnvoll einsetzen. Dass darunter auch die Qualität der medizinischen Versorgung leidet, liegt auf der Hand.
Gatekeeper-Systeme – Hoffnung und Ernüchterung
So weckten denn zu Beginn der Neunzigerjahre die ersten Hausarztmodelle und HMOs grosse Hoffnungen: In den Hausarztsystemen soll der Hausarzt, der das Vertrauen des Patienten geniesst, eine Lotsenfunktion im Gesundheitswesen übernehmen und den Patienten im Fall einer Krankheit durch das unübersichtliche Angebot im Gesundheitswesen begleiten. Dadurch sollten bezüglich Kosten und Qualität Vorteile erreicht werden. Nach über zehn Jahren Erfahrung muss man nun aber mit statistisch erhärteter Ernüchterung feststellen, dass solche Vorteile gegenüber der ordentlichen Versicherung in den schwach gesteuerten Hausarztmodellen kaum messbar sind. Im Wesentlichen haben folgende Gründe zu diesem Resultat beigetragen: ■ Risikoselektion der Versicherten: In den Hausarztmodellen befinden
Karl Kunz
Heinz Dönni
sich gesündere Versicherte als in der konventionellen Versicherung, das zeigt sich insbesondere auch daran, dass der Anteil der Versicherten mit einer frei wählbaren Franchise wesentlich grösser ist als in der konventionellen Versicherung. ■ Behandlungsstil: Der Hausarzt macht kaum einen Unterschied zwischen Hausarztsystem- und konventionell Versicherten bei der Erfül-
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lung von Patientenwünschen nach zusätzlichen Untersuchungen und Therapien. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass auch keine Unterschiede in der Behandlungsqualität feststellbar sind und dass daher ganz eindeutig nicht von einer Zweiklassenmedizin gesprochen werden kann. ■ Kostenbewusstsein: Kostenanalysen haben aufgezeigt, dass sich vor allem Patienten für das Hausarztsystem entschieden haben, die sich
«Im Hinblick auf das
elektronische Patienten-
dossier könnte das Genfer
Projekt ‹e-toile› einen prakti-
kablen Lösungsansatz
für integrierte Versorgungs-
»netze aufzeigen.
bereits in der konventionellen Versicherungsform kostenbewusst verhalten haben. Erfreulich sind Indizien dafür, dass in den stärker strukturierten ärztlichen Betriebsgesellschaften im längerfristigen Trend Kostenvorteile zum Tragen kommen. Die Krankenversicherer zahlen dafür aber auch zusätzliche Entschädigungen. Einzig bei den HMOs scheinen klare Vorteile belegt zu sein. Allerdings sind der Ausbreitung der HMOs Grenzen gesetzt, da sich, bedingt durch das für einen ökonomischen Betrieb notwendige Einzugsgebiet, nur grössere Städte als HMO-Standort eignen. Offenbar sind auch für die Versicherten die Anreize ungenügend: Was zählt, ist der Prämienrabatt. Für die meisten Versicherten wiegt die imaginäre Wahlfreiheit offenbar mehr als das Vertrauen in den Hausarzt. Unsere heutigen ManagedCare-Modelle haben es bis jetzt nicht geschafft, der Bevölkerung aufzuzeigen, dass sie in einem koordinierten oder sogar integrierten System besser aufgehoben wäre.
Integrierte Versorgung – die Lösung?
Das Gesundheitswesen ist ein komplexes System von Angeboten,
Fähigkeiten, Bedürfnissen Verantwortlichkeiten, Interessen, Zielsetzungen und Organisationsformen. Die Vorteile einer Integration dieser Elemente über den gesamten Behandlungsprozess scheinen plausibel. Zudem geht vom Wort «Integration» etwas «Wohltuendes» aus, weil es den Drang zur Vervollkommnung des Systems, zur Ganzheitlichkeit ausdrückt (den wir aus der Natur kennen). Doch was meinen wir konkret mit diesem Begriff? Was braucht es, damit «integrierte Versorgung» im Gesundheitswesen mehr ist als ein Schlagwort?
Anforderungen an integrierte Versorgung
Integrierte Versorgungsnetze können nur zum Erfolg führen, wenn sie die folgenden Voraussetzungen erfüllen: a) Im Zentrum müssen die Bemühungen um eine effiziente und wirkungsvolle Versorgung des Patienten stehen, und nicht die beschränkten Sichtweisen einzelner Leistungserbringer (z.B. Arzt, Spezialist, Spital). b) Um die Vorteile einer integrierten Versorgung zum Tragen zu bringen, müssen sämtliche Leistungserbringer eingebunden werden. Andernfalls könnte die Qualität beeinträchtigt oder unerwünschtes Ausweichen auf nicht integrierte Angebote gefördert werden. c) Entlang der gesamten Behandlungskette sind durchgängige Prozesse zu etablieren, wobei der sicheren, schnellen und einfachen Kommunikation eine zentrale Bedeutung zukommt. Ein wichtiges Instrument dazu wäre das elektronische Patientendossier. In diesem Zusammenhang ist das Projekt «e-toile» im Kanton Genf (www.e-toile-ge.ch) von ganz besonderem Interesse; es könnte einen praktikablen Lösungsansatz für integrierte Versorgungsnetze aufzeigen. Der schnelle und gezielte Austausch von Patienteninformationen, unter strikter Wahrung des Datenschutzes, kann einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses im Gesundheitswesen leisten.
d) In einem integrierten Versorgungsnetz müssten (und könnten) die Voraussetzungen für eine sinnvolle Steuerung des Ressourceneinsatzes geschaffen werden. Eine Budget-Mitverantwortung der Leistungserbringer (auf Stufe Versorgungsnetz) würde die Anreize zum verantwortungsbewussten Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen fördern. Damit verbunden könnte dem Versorgungsnetz ein gewisser Spielraum für überobligatorische Leistungsangebote zugestanden werden. e) Krankenversicherer und Versorgungsnetze müssen enger zusammenarbeiten, um die Steuerungsmechanismen und Qualitätskriterien optimal weiterentwickeln zu können. f) Es sollten mehrere Netze pro Region angeboten werden, und Kriterien wie Qualität und Kosten sollten für die Versicherten/Patienten transparent gemacht werden. Damit könnte der Wettbewerb unter den Netzen und unter den Krankenversicherern gefördert und ein vielfältiges Angebot für die Bevölkerung aufrechterhalten werden. Wenn es für einen ganzen Kanton nur ein einzi-
«Flächendeckende
Angebote fördern eher die
Erhaltung teurer Struk-
turen als die Optimierung
»der Versorgung.
ges Modell gäbe, wie es das Projekt IMC im Kanton Thurgau anstrebt, würden verschiedene Vorteile eines integrierten Versorgungsnetzes verloren gehen. Flächendeckende Angebote fördern eher die Erhaltung teurer Strukturen als die Optimierung der Versorgung.
Voraussetzungen für integrierte Versorgung
Solange sich mit garantierten Leistungen der Krankenversicherer und mit Einzelleistungstarifen eine Praxis lukrativ betreiben lässt, haben Versorgungsnetze, die Qualitätsanforderungen und Budgets einhalten müssen, wenig Chancen. Erst wenn
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die Anreize für Leistungserbringer so gesetzt sind, dass der Einzelne durch die Zusammenarbeit in einem integrierten Versorgungsnetz Vorteile für sich generieren kann, wird es zu Innovationen in der Versorgung und deren Finanzierung kommen. Mit der Vertragsfreiheit würden die Voraussetzungen geschaffen, damit sich die Spreu vom Weizen scheidet. Der Versicherte/Patient wird dasjenige Preis-Leistungs-Verhältnis wählen, das ihm am besten behagt. Das heisst, er wechselt entweder den Arzt oder die Krankenversicherung, wenn ihn ein anderes Angebot mehr anspricht. Weitere wichtige Massnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für integrierte Versorgungsnetze wären einerseits die Erhöhung der Wirksamkeit des Risikoausgleichs, um die Investitionen in die Optimierung des Behandlungsprozesses zu fördern. Andererseits eine Abgeltung der Einsparungen, die durch die Vermeidung unnötiger Hospitalisationen heute bei den Kantonen anfallen. Beide Massnahmen gehören zurzeit wohl in die Welt des Wunschdenkens, was ihre Bedeutung auf dem Weg zu erfolgreichen integrierten Versorgungsnetzen keineswegs mindert.
Fazit
Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Gesetzesänderungen im Bereich Managed Care gehen in die richtige Richtung. Der neue Begriff der «integrierten Versorgungsnetze» wird aber toter Buchstabe bleiben, wenn nicht mindestens gleichzeitig die Vertragsfreiheit im ambulanten Bereich eingeführt werden wird. ■
Autoren:
Karl Kunz
Geschäftsführer Unimedes
Heinz Dönni
Leiter Hausarztsysteme Unimedes
Haldenstrasse 25 6006 Luzern
Kontaktadresse: E-Mail: karl.kunz@unimedes.com
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