Transkript
COMPLIANCE UND SELBSTMANAGEMENT
Non-Compliance:
Merkmale, Kosten und Konsequenzen
Non-Compliance verursacht
hohe Kosten. Verschiedene
Merkmale des Patienten, des
Arztes und der Behandlung
führen zu schlechter Com-
pliance. Verbessert werden
kann sie durch eine ver-
änderte Arzt-Patienten-Bezie-
hung und durch Patienten-
schulung, welche ein wirk-
sames Selbstmanagement
ermöglicht.
Franz Petermann1
A us Non-Compliance resultieren heute in der Bundesrepublik Deutschland vermutlich 15 bis 20 Milliarden Euro Kosten, also ungefähr 10 Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen. Seit gut fünf Jahren wird die Frage diskutiert, ob mit eigenverantwortlichen, hochmotivierten Patienten diese Kosten gesenkt werden können. Eine bessere Compliance stellt eine Wirtschaftlichkeitsreserve des Gesundheitswesens dar. Bedeutend ist die Compliance insbesondere bei der Langzeitbehandlung chronisch Kranker.
Non-Compliance: Ausmass
Das Ausmass der Non-Compliance ist schwer zu quantifizieren. Die Angaben hierzu schwanken je nach Definition, Messmethode, Krankheitsgruppe und Beobachtungszeit-
raum. In Anlehnung an Volmer und Kielhorn [1998] lassen sich aber doch einige Angaben machen (vergleiche Tabelle 1). Hierbei ist gut belegt, dass die Compliance besonders stark abnimmt, wenn sich die Symptome bessern, die Therapie sehr lange dauert, die Anzahl der Medikamente zunimmt (Multimorbidität2 vorliegt) und wenn unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Je einfacher die (medikamentöse) Behandlung, je persönlicher die ärztliche Betreuung und je deutlicher der Effekt der Behandlung, desto besser die Compliance. Bei der Asthmatherapie beispielsweise verbesserte sich die Compliance entscheidend, wenn man die Häufigkeit der Applikationen (Medikamente, Inhalationen) von vier auf drei senkte und vor allem, wenn die Medikamenteneinnahme oder zum Beispiel die Inhalation um die Mittagszeit entfiel. Compliance wird jedoch nicht beeinflusst durch den sozioökonomischen Status, das Bildungsniveau und die Intelligenz des Patienten, den Schweregrad und die Dauer der Erkrankung, die Anzahl der Symptome und auch nicht durch Rezidive.
Non-Compliance: Kosten
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Kosten, die aus der Non-Compliance resultieren. Eine Übersicht von Volmer und Kielhorn [1998; siehe Tabelle 2] zeigt, dass diese Kosten aus folgenden Komponenten resultieren: ■ Kosten vermeidbarer Krankenhausaufenthalte ■ Kosten vermeidbarer Pflegeleistungen ■ Kosten zusätzlicher Arztbesuche
Franz Petermann
■ Kosten von Notfalleinweisungen ■ Kosten nicht eingenommener Medikamente ■ andere direkte Kosten ■ indirekte Kosten (vergleiche Tabelle 2). Neben den direkten Krankheitskosten sind auch die indirekten Kosten von Belang, die gemäss internationalen Analysen in ähnlicher Höhe anzusetzen sind wie die direkten Kosten. Die indirekten Kosten resultieren unter anderem aus dem Verlust an Produktivität beziehungsweise an Arbeitseinkommen und aus den Kosten von krankheitsbedingten Fehlzeiten (zum Beispiel Krankenhausaufenthalte). Die Kosten werden durch das Patientenverhalten oder die unzureichende ärztliche «Betreuungskompetenz» verursacht. Unangemessenes Patientenverhalten resultiert auch und vor allem aus emotionalen Bar-
1 Der vorliegende Artikel basiert auf einem Referat, das der Autor am 1. Medvantis Forum für Gesundheitsmanagement am 20. Februar 2004 in Bern gehalten hat.
2 Multimorbidität: Der Patient leidet an mehreren Krankheiten.
30 Managed Care 4 ● 2004
COMPLIANCE UND SELBSTMANAGEMENT
Tabelle 1:
Non-Compliance-Raten nach Volmer und Kielhorn (1998)
Krankheit/Krankheitsgruppe Asthma Diabetes Epilepsie Hypertonie Osteoporose Rheuma
Non-Compliance-Rate 20% 40–50% 30–50% 50% 55–70% > 50%
■ geringe Fähigkeit zur Interozeption3 ■ Erleben starker Nebenwirkungen.
Arztmerkmale
■ unvollständige oder unangemessene Patientenaufklärung ■ fehlerhafte Verschreibung von Medikamenten beziehungsweise falsche Dosierung ■ schlechte Kommunikation: wenig Verständnis und Zeit für den Patienten.
rieren im Kontext der Bewältigung einer chronischen Krankheit.
Selbstmanagement und Compliance
Das Problem der Non-Compliance ist nur lösbar, wenn die Beziehung zwischen Ärzten und Patienten verändert wird, indem man die Verantwortung für die Behandlung neu aufteilt. Im Hintergrund steht dabei
«Eine bessere
Compliance stellt eine
Wirtschaftlichkeitsreserve
des Gesundheits-
»wesens dar.
die Annahme, dass das Krankheitsmanagement aktiv vom Patienten gestaltet werden muss. Dies bedeutet, dass gemeinsam mit dem Arzt Behandlungsziele und konkrete Massnahmen festgelegt werden, die einen optimalen Gesundheitszustand langfristig gewährleisten. Der Selbstmanagement-Ansatz stellt damit ein explizit patientenorientiertes Vorgehen dar [Petermann, 1998], wobei
der Expertenstatus des Arztes erhalten bleibt. Eine Vielzahl von Merkmalen bestimmt darüber, ob Patienten-Compliance vorliegt oder ob sie reduziert ist. Die Abbildung gibt eine Übersicht über Bedeutungsfacetten des Compliance-Begriffes und zugleich erste Hinweise, durch welche Merkmale (Ursachen) die Compliance begünstigt oder verhindert werden kann. Vor allem durch Patienten- und Arztmerkmale sowie durch Charakteristika der Behandlung (insbesondere Medikamentenmerkmale) lässt sich die Compliance beschreiben. Am Beispiel des Asthmas lässt sich zeigen, wann die Compliance besonders schlecht ist:
Patientenmerkmale
■ Gleichgültigkeit und mangelnde Krankheitseinsicht ■ schlechte Erfahrungen mit vorherigen Behandlungen ■ geringe Erwartungen an den Behandlungserfolg ■ sehr hohe oder sehr niedrige Ängstlichkeit ■ Unterschätzung des Schweregrades der Erkrankung
Medikamentenmerkmale
■ unangenehmer Geschmack ■ Nebenwirkungen (zum Beispiel Probleme bei Kortisonangst) ■ unmittelbare oder verzögerte Wirkung ■ zu hohe Behandlungsanforderungen (Inhalation, mehrmalige Anwendung pro Tag).
Folgende Merkmale der Arzt-Patienten-Beziehung fördern die Compliance: ■ Interessiertheit, Offenheit, Zugänglichkeit und Freundlichkeit des Arztes ■ akzeptierende, wertschätzende und respektvolle Grundhaltung gegenüber dem Patienten ■ aktive Einbeziehung des Patienten in die Therapieplanung ■ dialogische Kommunikation mit dem Patienten statt Vorschriften ■ Eingehen auf die persönlichen Erwartungen des Patienten ■ intensive, aufmerksame und kontinuierliche Betreuung des Patienten ■ persönliches Vertrauensverhältnis statt Expertenattitüden.
3 Interozeption: Wahrnehmung von körperlichen Reaktionen am eigenen Körper.
Tabelle 2:
Kosten der Non-Compliance nach Volmer und Kielhorn (1998)
Direkte Kosten Krankenhauseinweisungen zusätzliche Arzt- und Apothekenbesuche Notfallaufnahmen Therapiewechsel, weggeworfene Medikamente etc.
Indirekte Kosten Verlust an Produktivität Verlust an Arbeitseinkommen Vorzeitige Todesfälle
Intangile Kosten Verlust an Lebensqualität Verlust an Patientenzufriedenheit Verlust an Vertrauen in medizinische Behandlung
Managed Care 4 ● 2004 31
COMPLIANCE UND SELBSTMANAGEMENT
Krankheitseinsicht bzw. -akzeptanz
Arzt-PatientenKommunikation
Therapieeinwilligung/
-willigkeit
Compliance
Kenntnisse/ Fertigkeiten des Patienten
Alltagshandeln/ Routinisierung
krankheitsbezogene Informiertheit
Einhalten ärztlicher Verschreibungen
Lifestyleänderung
Abbildung: Bedeutungsfacetten und Bedingungen der Compliance
Im Blickpunkt sollte zukünftig der aufgeklärte und geschulte Patient stehen, der die Unterstützung des Experten aktiv sucht und die Rückmeldung des Arztes differenziert im Alltag umsetzt. Wichtig ist auch, dass der Arzt den Patienten vor «Fehlern» schützt. So überschätzen sich geschulte Patienten häufig und führen ein risikohaftes Selbstmanagement durch. Aus einer sol-
«Dreh- und Angelpunkt
aller Compliance-
Probleme scheint die
Gestaltung der Arzt-Patient-
»Beziehung zu sein.
chen Selbstüberschätzung treten bei Diabetikern gehäuft Hypoglykämien4 oder beim Asthmapatienten Atemnot (Anfälle) auf. Geschulte Patienten, die sich in der beschriebenen Weise überschätzen, bagatellisieren häufig ihre chronische Krankheit und erzeugen auf diese Weise ein neues Compliance-Problem.
Perspektiven
Dreh- und Angelpunkt aller Compliance-Probleme scheint die Gestal-
4 Hypoglykämie: Unterzuckerung
tung der Arzt-Patient-Beziehung zu sein. So ist es für ein optimales Krankheitsmanagement nötig, dem chronisch Kranken schrittweise Verantwortung zu übertragen – nachdem er vom Experten angeleitet und geschult wurde, mit seiner Krankheit umzugehen. Indem der Patient schrittweise eigenverantwortlicher mit seiner Erkrankung umgehen kann, erfährt er immer grössere Kompetenzen. Die Compliance muss im Arzt-Patient-Kontakt immer wieder hergestellt werden, deshalb ist es nötig, psychologisch fundierte und praxiserprobte Leitlinien für die ärztliche Patientenbetreuung zu entwickeln (Disease-Management-Programme). Auch bei einer evidenzbasierten und wirksamen Therapie kann es im Alltagsmanagement des Patienten Probleme geben, die vom Arzt zu erfragen sind. Kontinuierliche ärztliche Betreuung bedeutet, dem Patienten eindeutige und klare Rückmeldungen über Schwierigkeiten und Fortschritte der Behandlung zu geben. ■
Autor:
Prof. Dr. phil. Franz Petermann
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazerstrasse 6 D-28359 Bremen
E-Mail: fpeterm@uni-bremen.de
Kasten:
Was versteht man unter Compliance?
Häufig wird der Begriff «Compliance» mit der Befolgung von Therapieverordnungen und ärztlichen Vorschriften gleichgesetzt. Der Experte (der Arzt) ordnet an, und der Patient «gehorcht». Diese Sichtweise unterstellt, dass die Krankheitsdefinitionen des Arztes eindeutig und seine Verordnungen unstrittig sind. Eine solche Form des Patientengehorsams wird der Aufgabe nicht gerecht, eine hinreichende Patientenmotivation aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Soll eine chronische Krankheit erfolgreich behandelt werden, so ist es erforderlich, dass sich der Patient am Krankheitsmanagement aktiv und möglichst selbstständig beteiligt.
Unter Compliance wird das Ausmass verstanden, in dem das Verhalten einer Person hinsichtlich der Einnahme eines Medikamentes, des Befolgens einer Diät oder der Veränderung eines Lebensstils mit dem ärztlichen oder gesundheitlichen Rat korrespondiert. Die Compliance macht auch eine Aussage über die Qualität von DiseaseManagement-Programmen (DMP). Disease Management bedeutet expertengeleitetes Selbstmanagement im Kontext der Bewältigung einer chronischen Krankheit.
Compliance ist kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal des Patienten, sondern ein komplexes, dynamisches und situationsabhängiges Phänomen, das sich während des Behandlungsverlaufs unterschiedlich äussern kann. Die meisten Menschen tendieren zu einer mittleren Compliance, die sich zwischen 30 und 70 Prozent eingehaltener ärztlicher Vorgaben bewegt.
Literaturhinweise:
Petermann, F. (Hrsg.) (1998). Compliance und Selbstmanagement. Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. & Mühlig, S. (1998). Grundlagen und Möglichkeiten der Compliance-Verbesserung. In: F. Petermann (Hrsg.). Compliance und Selbstmanagement (S. 73–102). Göttingen: Hogrefe.
Volmer, T. & Kielhorn, A. (1998). Compliance und Gesundheitsökonomie. In: F. Petermann (Hrsg.). Compliance und Selbstmanagement (S. 45–72). Göttingen: Hogrefe.
32 Managed Care 4 ● 2004