Transkript
V E RA N S TA LT U N G S B E R I C H T
Krise im Gesundheitswesen: Von Abstraktem und Konkretem
Was gelten die Werte Solidarität,
Freiheit und Verantwortung im Ge-
sundheitwesen, das stark unter
Druck geraten ist? An der 6. Tagung
der Arbeitsgruppe «Forum Santé –
Gesundheit» am 22. Januar 04 in In-
terlaken wurde diese Fragen kon-
trovers diskutiert.
In nächster Nähe von Eiger, Mönch und Jungfrau lassen sich Begriffe wie Solidarität, Freiheit und Verantwortung gut diskutieren. Die Gefahr, dass man dabei im Abstrakten hängen bleibt, ist jedoch gross. Diese Überlegungen scheinen sich die Organisatoren der Veranstaltung «Krise im schweizerischen Gesundheitswesen: Zwischen Freiheit und Solidarität?» – die Groupe de Médicométrie der Universität Genf und Sanofi-Synthelabo – gemacht zu haben. Vorausschauend haben sie deshalb Karl W. Lauterbach (Direktor am Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie an der Universität Köln) als externen Beobachter an die Tagung eingeladen. Er verstand es, von Konkretem zu reden.
Charta für ein Gesundheitswesen von Qualität
Die Arbeitsgruppe «Forum Santé – Gesundheit» umfasst 13 Experten aus den verschiedensten Bereichen des Gesundheitswesens, die sich persönlich und unabhängig «für eine bessere Gesundheitspolitik in der Schweiz» einsetzen. Unter der Leitung von Antoine Bailly (Groupe de Médicométrie, Universität Genf) analysierte die Gruppe die Zusammenhänge und definierte die Grundbegriffe Freiheit, Verantwortung und Solidarität. Die Mitglieder einigten sich auf eine Charta, welche das Gesundheitswesen aus der Krise führen soll. Olivier Bugnon, Chefapotheker an der medizinischen Poliklinik Lau-
sanne, erläuterte die vier strategischen Prioritäten: ■ Lösungen erarbeiten, die der Be-
völkerung eine bessere Gesundheit bringen ■ Gesundheitsförderung und Prävention aufwerten (Einflussnahme auf Lebensumstände und -bedingungen statt auf isoliertes persönliches Verhalten) ■ Den Zugang zu zweckmässigen und koordinierten Leistungen gewährleisten ■ Das schweizerische Gesundheitswesen in seiner Gesamtheit organisieren. Die Arbeitsgruppe überprüfte daraufhin mittels einer TED-Umfrage, wie das Publikum zu zentralen konkreten Fragen der Charta steht. So wurde etwa gefragt, ob ein nationales Patientengesetz entstehen soll, worin die Rechte und Pflichten der Patienten festgesetzt werden, und ob die Versicherer mehr Kompetenz erhalten sollen, um die Gesundheitsversorgung mitzuplanen und mitzugestalten. Das Patientengesetz fand breite Zustimmung. Mehr Kompetenzen für die Versicherer, zum Beispiel die Kompetenz, Netzwerke zu leiten und Qualitätskriterien zu definieren, wurden klar abgelehnt. Das Publikum befürwortete sehr deutlich, dass alle wichtigen politischen Entscheide darauf hin geprüft werden sollen, wie sie sich auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken und welche sozialen und wirtschaftlichen Effekte sie haben.
Krise im Gesundheitswesen?
Im zweiten Teil der Veranstaltung diskutierten Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen über die Krise und über die Werte Solidarität, Freiheit und Verantwortung. Die PodiumsteilnehmerInnen waren sich nicht einig, ob es sich überhaupt um eine Krise handelt. Dieter Grauer, Stellvertretender Direktor SGCI (Schweizerische Gesellschaft für Chemische Industrie), meinte, es sei keine Krise,
aber im Gesundheitswesen bestünden schwere strukturelle Mängel: Es gebe zu viele staatliche Interventionen und zu wenig Wettbewerb. Ignazio Cassis, Präsident der SGPG (Schweizerische Gesellschaft für Prävention und Gesundheitswesen) und Tessiner Kantonsarzt, hingegen ist überzeugt, dass es eine Krise sei, schliesslich sei das Gesundheitswesen seit Jahren die grösste Sorge der schweizerischen Bevölkerung. Dabei funktioniere die Gesundheitsversorgung gut. Es handle sich also um keine medizinische Krise, sondern um eine der Gesundheitspolitik. Michèle Berger-Wildhaber, Alt-Ständerätin und Apothekerin aus Neuenburg, argumentierte, dass vor allem die Politiker und die Medien von einer Krise sprechen würden. Die Bilanz im Gesundheitswesen sei positiv: Alle hätten Zugang zur Behandlung, und mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sage, sie sei gesund und zufrieden mit der Gesundheitsversorgung. Auch Peter Saladin, Präsident von H-plus, mochte nicht von einer Krise sprechen, sondern es sei «Jammern auf höchstem Versorgungs- und Qualitätsniveau». Er erinnerte daran, dass die Gesundheit der Megatrend des 21. Jahrhunderts sei und enormes Potenzial für die Wohlstandsvermehrung biete. Zudem sei das Gesundheitswesen eine wirtschaftspolitische Macht. Für den Chefredaktor von «Médecine & Hygiène», Bertrand Kiefer, ist eine Krise entstanden, weil die Medizin so stark wirksam geworden ist. Erstmals könne der ganze Körper und die Seele behandelt werden; es handle sich also um eine Krise der Komplexität.
Grenzen der Werte
Was geschieht nun mit den Werten von Solidarität, Freiheit und Verantwortung in einem System, das zumindest stark unter Druck geraten ist? Prinzipiell angezweifelt wurden die Werte vom Podium nicht, aber es wurden Grenzen gesetzt.
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Antoine Bailly, Groupe de Médicométrie Universität Genf, leitete die Arbeitsgruppe Forum Santé-Gesundheit.
Olivier Bugnon, Policlinique médicale universitaire, Lausanne, erläuterte die strategischen Prioritäten, auf welche die Arbeitsgruppe setzt.
Marianne Meyer, Fédération romande des consommateurs, Lausanne, leitete die Podiumsdiskussion.
Karl W. Lauterbach, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie der Universität Köln, externer Beobachter der Tagung.
Solidarität Für die Arbeitsgruppe Forum SantéGesundheit entspricht Solidarität «einer Aufwertung der sozialen Bindung. Sie beinhaltet Grosszügigkeit, Weitergabe von Wohlstand, Anerkennung der Anderen.» Nun werde sie aber an die Gesellschaft delegiert – nicht die Solidarität nehme ab, sondern der Familien- und Gemeinschaftssinn. Wir seien Weltmeister der Sozialversicherungen, wir bauten die spitalexterne Pflege aus und wir brächten Hochbetagte in Pflegeheimen unter. Diese «Solidarität ohne Gefühle» oder «delegierte Solidarität», wie sie die Arbeitsgruppe umschreibt, koste viel Geld. Cassis plädierte dafür, die Solidarität nicht überzustrapazieren: «Die obligatorische Krankenkasse darf sich nicht daran beteiligen, jedes beliebige körperliche, seelische oder soziale Problem zu beseitigen oder zu lindern», insbesondere auch, weil die Probleme oft mit der Lebensweise zusammenhängen würden. Die Solidarität reiche heute sehr weit, so Cassis, aber ohne persönliches Engagement: «Wollen wir eine medizinische Antwort auf soziale Leiden solidarisch finanzieren?» Konkret ausgedrückt: Sollen einem Arbeiter Antidepressiva verordnet werden, anstatt dass sein Betrieb reorganisiert wird?
Verantwortung Auch der Wert Verantwortung lässt sich auf unterschiedliche Weise betrachten. Für die Arbeitsgruppe heisst Verantwortung übernehmen, «für seine eigene Gesundheit verant-
wortlich zu sein und sich der möglichen Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Gesundheit anderer bewusst zu sein». Wer selbstverantwortlich handelt, trägt somit auch zur kollektiven Verantwortung bei, insbesondere in der Prävention. Michèle Berger-Wildhaber betonte insbesondere die kollektive Verantwortung des Staates, einerseits in seiner erzieherischen Rolle im Bereich der Gesundheitsförderung und der Prävention von Krankheiten, andererseits, indem er den Markt reguliert und diejenigen Aufgaben übernimmt – im Sinne der Subsidiarität –, die keine anderen Stellen lösen können. Berger-Wildhaber: «Das Individuum kann erst dann seine Verant-
wortung wahrnehmen, wenn es die Konsequenzen von ungesundem Verhalten kennt.» Es sei die Rolle des Staates, die Zusammenhänge aufzuzeigen.
Freiheit Der Forderung nach staatlichen Interventionen steht die Forderung nach mehr Freiheit entgegen, der dritte Wert, welcher vom Podium diskutiert wurde. «Heute muss der Staat fast jedes Problem lösen», so Grauer, der Leistungserbringer sei zu wenig frei, und deshalb auch zu wenig selbstverantwortlich. Spitäler würden beispielsweise umso effizienter funktionieren, je autonomer sie seien. Die Arbeitsgruppe fokussierte auf die in-
Die Arbeitsgruppe Forum Santé-Gesundheit (von links nach rechts): Yves Guisan, Hôpital du Pays d’En-Haut, Château d’Oex; Antoine Bailly, Groupe de Médicométrie, Universität Genf; Olivier Bugnon, Policlinique médicale universitaire, Lausanne; Arno Brandt, Good People Management Practices, Basel (nicht auf dem Foto sind die weiteren Mitglieder Gaudenz Bachmann, Helsana Versicherung Zürich; Martin Bernhardt, Groupe Médicométrie, Universität Genf; André Dubied, Kantonsspital Baden; JeanLous Franzetti, Sanofi-Synthélabo SA, Meyrin; Mauro Gabella, Sanofi-Synthélabo SA, Meyrin; Philippe Lehmann, Projekt Nationale Gesundheitspolitik, Bern; Martin Lysser, Universitätsspital Zürich; Marianne Meyer, Fédération romande des consommateurs, Lausanne; Yves Seydoux, Santésuisse, Solothurn).
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Die Podiumsteilnehmenden: Peter Saladin, Präsident Hplus, Michèle Berger-Wildhaber, Apothekerin, Ignazio Cassis, Präsident Schweizerische Gesellschaft für Prävention und Gesundheitswesen, Bertrand Kiefer, Chefredakteur «Médecine & Hygiène», Dieter Grauer, Stv. Direktor SGCI (Schweizerische Gesellschaft für Chemische Industrie).
dividuelle Freiheit, diese erlaube es dem Einzelnen, «seinen Arzt, die Art der gewünschten therapeutischen Beziehung und seinen Lebenstil» zu wählen. Die Arbeitsgruppe folgerte in ihrem Dossier, dass die «Spannung zwischen Solidarität, Individualismus und Verantwortung den politischen Ideologiekämpfen zwischen den Befürwortern des Sozialstaates und jenen der Freiheit des Individuums» entspreche. Dass vermehrt darüber nachgedacht werden sollte, Krankheit erst gar nicht entstehen zu lassen, darin waren sich die Podiumsteilnehmenden einig: Der Stellenwert der Gesundheitsförderung soll erhöht werden. Saladin wies auf einen interessanten Zusammenhang hin: Wir bezahlten die Zahnarzt-Rechnung ohne Murren, weil nirgends die Prävention so gut entwickelt sei wie in der Zahnpflege.
Grenzen der Konzepte
Dass aber nicht nur ideologische Differenzen bestehen, sondern Schwierigkeiten auch dort auftreten, wo prinzipielle Einigkeit herrscht, darauf wies zum Abschluss der Tagung Karl W. Lauterbach hin. Er zeigte auf, dass selbst wenn das abstrakte Konzept breite Zustimmung findet, es an Widerständen scheitere, wenn es ins Konkrete umgesetzt werden soll. Ein amerikanisches Sprichwort beschreibe diesen heiklen Punkt so: «When the rubber meets the street.»
1 Ballondilatation: Operation zur Gefässerweiterung
Dies demonstrierte Lauterbach an zentralen und akzeptierten Forderungen zur Verbesserung des Gesundheitswesens, die sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland be-
«Nicht die fehlenden
Konzepte sind das
Problem, sondern dass
diese auf massiven
Widerstand stossen,
wenn sie umgesetzt
»werden sollen.
stehen. Die erste betraf die Aufhebung des Kontrahierungszwangs. Mehr Wettbewerb werde befürwortet, aber der Kontrahierungszwang soll nicht aufgehoben werden. Irgendwann werde der ökonomische Druck so gross sein, dass dieser Widerspruch nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Als zweite Forderung nannte Lauterbach den Plan, vermehrt Versorgungsnetze aufzubauen. Dazu bräuchten die Versicherungen mehr Spielraum, damit sie ins Versorgungsgeschehen eingreifen könnten. In der konsultativen Abstimmung am Vormittag war dieses Postulat von den Teilnehmenden der Tagung jedoch deutlich abgelehnt worden. Die dritte Forderung, die Lauterbach erwähnte, drehte sich um die Qualitätssicherung. Es sei belegt, dass bei planbaren Eingriffen die Qualität steige, wenn ein Spital viele solcher
Eingriffe durchführe. Der Staat
müsse folglich zur Qualitätssiche-
rung eine Mindestanzahl von Opera-
tionen vorschreiben, zum Beispiel
bei Brustkrebsoperationen oder bei Ballondilatationen1 am Herzen. Mehr
staatliche Eingriffe würden jedoch
abgelehnt. Eine hohe Qualität werde
nicht ohne mehr staatliche Verant-
wortung zu erreichen sei, mahnte
Lauterbach.
Ein viertes Beispiel sei das Ziel, die
Sektorengrenzen zu überwinden. Alle
seien für vernetzte Zusammenarbeit.
Aber: Spitalärzte seien dagegen,
wenn der Hausarzt in die Spitalbe-
handlung «dreinrede», und Hausärzte
akzeptierten nicht, wenn Spitalärzte
auch ambulant behandelten.
Als weiteres Beispiel nannte Lauter-
bach die demografische Herausfor-
derung. Diese bringe es mit sich,
dass jeder einzelne Erwerbstätige so
gesund wie möglich sein müsse. Der
Staat müsse folglich in der Präven-
tion aktiver sein und beispielsweise
das Rauchen verbieten, oder wenigs-
tens die Werbung dafür. Dies emp-
fänden die Bürger aber als unsympa-
thisch: Sie fragten sich, ob ein Staat
so etwas überhaupt dürfe. Dies sei
der Punkt, wo es konkret werde. Und
an diesem Punkt fehle der politische
Wille: Werbeverbote für Tabak seien
in der Schweiz gescheitert.
Lauterbach unterstützte im Wesentli-
chen die Forderungen der Charta,
zeigte aber sehr deutlich auf, dass
nicht die fehlenden Konzepte das
Problem sind, sondern dass diese
auf massiven Widerstand stossen,
wenn sie umgesetzt werden sollen.
Dies ist sowohl in Deutschland als
auch in der Schweiz der Fall.
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Bericht: BRIGITTE CASANOVA REDAKTION «MANAGED CARE»
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