Transkript
EDITORIAL
Einmal ist jede eine pflegende Angehörige!
Monika Brechbühler
Ihre Eltern erfreuen sich hoffentlich bester Gesundheit. Aber mal angenommen, sie würden pflegebedürftig, würden Sie ihre Betreuung übernehmen? Wenn Sie ein Mann sind, dann wird diese Aufgabe wahrscheinlich nicht Ihnen zufallen – dafür vielleicht Ihrer Frau. Aber als Ehefrau, Tochter oder Schwester gibt es kaum ein Entrinnen: Der familiäre und soziale Druck macht es fast unmöglich, die Pflegeübernahme abzulehnen. Auch medizinische und Pflegefachpersonen appellieren, wie mir Betroffene klagten, indirekt an das moralische Gewissen von (weiblichen) Familienmitgliedern, ihre pflegebedürftigen Angehörigen doch nach Hause zu nehmen. Und so nehmen viele den Kranken nach Hause, obwohl die Bedingungen nicht ideal sind und sie oft genug nicht über die dafür notwendigen Ressourcen verfügen. Die Probleme, die auf pflegenden Angehörigen lasten, sind vielfältig. Werden sie nicht abgebaut, zieht das oft einen Zusammenbruch der pflegenden Angehörigen nach sich. 30 Prozent sind ausgebrannt; die meisten sind so erschöpft, dass sie noch zwei Jahre nach Beendigung der Angehörigenpflege nicht wieder voll leistungsfähig sind. «So erschöpft, von dem bisschen Pflegen?», fragen sich Ahnungslose vielleicht. Aber es ist harte Knochenarbeit (siehe auch Seite 6 ff.): Neben körperbezogener Pflege, technikintensiven Verrichtungen sowie haushälterischen Aufgaben sind es die emotionale und anwaltschaftliche Unterstützung, das Krankheitsmanagement und die umfangreichen Koordinationsaufgaben, die auslaugen. Es sind die pausenlose Präsenz, die gestörte Nachtruhe, die Unsicherheiten und plötzlichen Veränderungen der
Pflegesituation, die an Kör-
per und Seele nagen.
Instrumente wie die
«Häusliche-Pflege-Skala»
(Seite 14 ff.) oder der «Pfle-
gekompass» können die
Belastung der pflegenden
Angehörigen messen. So kann bei Überlastung
Monika Brechbühler
rechtzeitig die Bremse ge-
zogen werden, bevor es zu schlimmen Folgen
kommt.
Die Zunahme von Hochbetagten macht die Mit-
hilfe von Familienangehörigen bei der Pflege unum-
gänglich (siehe auch Seite 4 ff.), schlicht, weil es zu
wenig Pflegeinstitutionen und Fachpersonen gibt.
Die Spitex pflegte im letzten Jahr 220 000 kranke
Menschen, wobei sie im Normfall gerade eine
Stunde täglich bei einem Patienten verbrachte, die
übrigen 23 Stunden übernahmen ... – eben.
Wenn man so abhängig ist von den Laienpflegerin-
nen, müsste man diese bei ihrer Arbeit unterstützen.
Angehörige wünschen sich drei Dinge: Informatio-
nen, Entlastung und ein bisschen gesellschaftliche
Anerkennung. Das scheint nicht zuviel verlangt. Da-
bei müssten sie von den Pflegepersonen auf Wissens-
zusammenhänge aufmerksam gemacht werden.
Denn bislang müssen sie sich die Fakten aus den ver-
schiedensten Quellen zusammensuchen, ohne sie
hinreichend diskutieren zu können.
Monika Brechbühler Initiantin und Redaktorin von «homecare –
Magazin für die Pflege zu Hause» und Autorin des «Beobachter»-Ratgebers «Ein Pflegefall in der Familie» (März 2004)
E-Mail: homecare@hispeed.ch
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