Transkript
ANGEHÖRIGENPFLEGE
Belastung messen mit der
Häusliche-Pflege-Skala
Heute weiss man, dass die
häusliche Pflege für An-
gehörige zur Belastung wer-
den kann und dass sich
diese Belastung schädlich
auswirken kann. Der Beitrag
zeigt aus pflegewissen-
schaftlicher Sicht, wie es zu
diesen Erkenntnissen kam.
Anschliessend wird ein
Instrument vorgestellt, das
es erlaubt, die Belastung
pflegender Angehöriger
zu messen: die Häusliche-
Pflege-Skala (HPS).
Wolfgang Hasemann
V or etwas mehr als 40 Jahren formulierten Grad und Salisbury [1] zum ersten Mal, dass sich Menschen, die zu Hause ein chronisch krankes Familienmitglied pflegen, belastet fühlen. Hoenig und Hamilton [2] entwickelten wenige Jahre später das Konzept der Belastung und unterteilten Belastung in subjektive und objektive Dimensionen. Die Trennung in subjektive und objektive Belastung wurde im Laufe der Jahre wieder fallen gelassen. Heute versteht man unter Belastung physische, psychische, emotionale, soziale und finanzielle Probleme, welche von Angehörigen erlebt werden, die ein
chronisch krankes Familienmitglied pflegen, unabhängig davon, ob es sich um ein Kind oder um einen Erwachsenen handelt [3]. Da Erleben grundsätzlich subjektiv ist, verwendet der deutsche wie auch der englische Sprachgebrauch heute wieder den Begriff der subjektiven Belastung, ohne damit die ursprüngliche Trennung in subjektiv und objektiv erneut aufzugreifen.
Auswirkungen der Belastung
Vier mögliche Folgen der subjektiven Belastung gelten heute als wissenschaftlich gesichert: Subjektive Belastung wirkt sich auf den Pflegestil (gehäuftes aggressives Verhalten), den Gesundheitszustand (ausgeprägtere Körperbeschwerden), das Sterblichkeitsrisiko (erhöht) und die Fortdauer der häuslichen Pflege (schnellere Heimeinweisung) aus [4].
Belastung messen
Zarit, Reever und Bach Peterson [5] waren die ersten, welche – im Jahr 1980 – begannen, Belastung systematisch zu erfassen. Zahlreiche weitere Messinstrumente folgten [6, 7]. Teilweise wird die Belastung der pflegenden Angehörigen auch mit Depressionsskalen gemessen [8]. Diese Vorgehensweise ist jedoch umstritten. Schulz, Visintainer und Williamson [9] bezweifeln, dass Pflegetätigkeit eine Depression auslösen kann. Sie argumentieren, dass dazu schon eine Veranlagung bestehen müsste. Mit elaborierten statistischen Verfahren konnten Clyburn, Stones, Hadjistavropoulos und Tuokko [10] jedoch zeigen, dass durch die Belastung der Pflegetätigkeit eine Depression ausgelöst werden kann.
Wolfgang Hasemann
Die Häusliche-Pflege-Skala
Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem die Häusliche-Pflege-Skala (HPS) etabliert, die sich als Weiterentwicklung verschiedener Belastungsskalen, wie zum Beispiel des «burden interviews» von Zarit, versteht [11]. Dieses Instrument wird im Folgenden vorgestellt.
Wie entstand die HPS?
Die Häusliche-Pflege-Skala ist ein Messinstrument zur Feststellung der subjektiven Belastung von pflegenden Angehörigen. Sie wird bei Familienmitgliedern eingesetzt, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen in der häuslichen Umgebung pflegen und betreuen. Die Pflegetätigkeit sollte bereits seit einem halben Jahr bestehen. Andernfalls müssten die ermittelten Werte gesondert interpretiert werden. Die HPS wurde entwickelt, um die individuellen Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen zu erkennen, Unterstützungsmassnahmen zu planen und den Verlauf der Belastung in der Praxis
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Abbildung: Vorderseite der Häusliche-Pflege-Skala (HPS) von Elmar Grässel. Der vollständige Fragebogen ist im Buchhandel erhältlich: Elmar Grässel: HäuslichePflege-Skala HPS. VLESS, 2002 (2., überarb. Aufl.), 31 Seiten, mit Fragebögen. ISBN 3-88562-098-7. 42 Franken/24,9 Euro.
zu beurteilen. Zudem kann sie in der Forschung eingesetzt werden, um die Effektivität von Interventionen zu überprüfen und Vorhersagen zur Gesundheit der pflegenden Angehörigen und zu ihrer künftigen Situation zu machen.
Inhalt
Die HPS besteht aus 28 Fragen, die durch Ankreuzen beantwortet werden. In der Abbildung sind die ersten neun Fragen ersichtlich. Die möglichen Antworten lauten immer gleich: «stimmt genau», «stimmt überwiegend», «stimmt ein wenig», «stimmt nicht» [12]. Der Fragebogen kann in 15 bis 20 Minuten ausgefüllt werden. Die Fragen sind so formuliert, dass die Angehörigen den Fragebogen selbst ausfüllen können. Benötigen oder wünschen die Angehörigen Unterstützung beim Ausfüllen, ist darauf zu achten, dass der Angehörige nicht in seiner Entscheidung beeinflusst wird. Es dürfen keine weiteren Erklärungen abgegeben werden. Es sollte auch vermieden werden, das Ziel des Fragebogens, nämlich den Belastungsgrad zu bestimmen, zu nennen. Beides könnte die Antwort beeinflussen. Wenn ein fragebogengestütztes Interview durchgeführt wird, sollten die Fragen wortgetreu, ohne Interpretation, vorgelesen werden.
Auswertung
Für die Auswertung steht eine Schablone zur Verfügung, mit der die Punktezahl ermittelt werden kann. Die Auswertung ist auch ohne Schablone möglich. Dann muss jedoch darauf geachtet werden, dass die vollständige Zustimmung bei einem Teil der Fragen mit der höchsten und bei anderen mit der tiefsten Punktezahl bewertet wird. Ist die Punktezahl ermittelt, so erfolgt die Einteilung in eine der drei Belastungsstufen: «nicht bis gering», «mittelgradig» und «stark bis sehr stark» belastet. Weiter ist vor der Auswertung zu entscheiden, ob die pflegebedürftige Person an einem Demenzsyndrom leidet oder nicht. Diese Unterscheidung erwies sich als notwendig, weil in den verschiedenen Validierungsstudien sichtbar
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wurde, dass Belastungssituationen bei pflegenden Angehörigen von Demenzkranken schneller gesundheitliche Folgen haben. Die Einteilung in die drei Belastungsstufen wurde anhand von Studien zur gesundheitlichen Belastung von pflegenden Angehörigen entwickelt. Geringgradig belastet zu sein heisst, kein Risiko für psychosomatische Beschwerden zu haben. Ein mittelgradiges Belastungsmass ist mit einem erhöhten, ein starkes bis sehr starkes Belastungsmass mit einem sehr stark erhöhten Risiko für psychosomatische Beschwerden verbunden. Häufige psychosomatische Beschwerden, die im Zusammenhang mit der subjektiven Belastung stehen, sind Herzbeschwerden, Gliederbeschwerden, Magenbeschwerden und Erschöpfung [13].
Wer wendet die HPS an?
In Deutschland wird die HPS heute
in verschiedenen Rehabilitationsein-
richtungen verwendet, die neben der
Behandlung von chronisch kranken
Menschen gleichzeitig deren pfle-
gende Angehörige betreuen. Dabei
wird zu Beginn das Ausmass der Be-
lastung der Angehörigen ermittelt,
um entscheiden zu können, in wel-
chem Umfang der Patient und der
Angehörige Unterstützung benöti-
gen. Mittlerweile wurde die HPS ins
Englische übersetzt und findet in in-
ternationalen Studien Anwendung.
In Toronto, Kanada, wird die HPS
in der COTA-Rehabilitationsgruppe
(Comprehensive Rehabilitation and
Mental Health Services) zur Überprü-
fung der Rehabilitationsergebnisse
eingesetzt.
■
Autor:
Wolfgang Hasemann, MNS
Pflegeberater in der Fachabteilung klinische Pflegewissenschaft des Kantonsspitals Basel Karlstrasse 19 D-79104 Freiburg i.Br.
E-Mail: hasemann@bobath.net
Literatur:
1. Grad, S., & Salisbury, P. (1963): Mental illness and the family. Lancet, 1, 544–547.
2. Hoenig, J., & Hamilton, M. W. (1966): The
Fotos: Martina Flury, Bolligen bei Bern
schizophrenic patient in the community and his effect on the household. Int J Soc Psychiatry, 12 (3), 165–176.
3. Chou, K.-R. (2000): Caregiver burden: a concept analysis. Journal of Pediatric Nursing: Nursing Care of Children and Families, 15 (6), 398–407.
4. Grässel, E., & Leutbecher, M. (2001): Häusliche-Pflege-Skala HPS. Zur Erfassung der Belastung bei betreuenden oder pflegenden Personen (2 ed.). Ebersberg: Vless.
5. Zarit, S. H., Reever, K. E., & Bach Peterson, J. (1980): Relatives of the impaired elderly: correlates of feelings of burden. Gerontologist, 20(6), 649–655.
6. Jungbauer, J., Bischkopf, J., & Angermeyer, M. C. (2001): Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker. Entwicklungslinien, Konzepte und Ergebnisse der Forschung. Psychiatr Prax, 28 (3), 105–114.
7. Vitaliano, P. P., Young, H. M., & Russo, J. (1991): Burden: a review of measures used among caregivers of individuals with dementia. Gerontologist, 31(1), 67–75.
8. Han, B., & Haley, W. E. (1999): Family caregiving for patients with stroke: review and analysis. Stroke, 30 (7), 1478–1485.
9. Schulz, R., Visintainer, P., & Williamson, G. M. (1990): Psychiatric and physical morbidity effects of caregiving. J Gerontol, 45 (5), 181–191.
10. Clyburn, L. D., Stones, M. J., Hadjistavropoulos, T., & Tuokko, H. (2000): Predicting caregiver burden and depression in Alzheimer’s disease. J Gerontol B Psychol Sci Soc Sci, 55 (1), 2–13.
11. Grässel, E., & Leutbecher, M. (1993): Häusliche Pflege-Skala HPS. Zur Erfassung der Belastung bei betreuenden oder pflegenden Personen. Ebersberg: Vless.
12. Grässel, E., Chiu, T., & Oliver, R. (2003): Development and validation of the Burden Scale for Family Caregivers (BSFC). Toronto: COTA Comprehensive Rehabilitation and Mental Health Services.
13. Grässel, E. (1994): Körperbeschwerden und subjektive Belastung bei pflegenden Angehörigen. Dtsch Med Wochenschr, 119 (14), 501–506.
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