Transkript
ANGEHÖRIGENPFLEGE
Angehörigenpflege –
Bedeutung und Entwicklung
Sind Familienmitglieder
heute weniger bereit,
ihre pflegebedürftigen
Angehörigen zu Hause zu
pflegen? Wird sich diese
Entwicklung künftig noch
verstärken? Aus Sicht
des Soziologen lassen sich
beide Fragen nicht einfach
bejahen.
François Höpflinger
E in wesentlicher Teil der Altershilfe und Alterspflege wird von Angehörigen übernommen. Alle Studien bei hilfs- und pflegebedürftigen älteren Menschen weisen darauf hin, dass – falls vorhanden – in erster Linie enge Angehörige Hilfe leisten, und zwar deutlich vor anderen Personengruppen (Freunden, Nachbarn, Spitex).
Ausmass der Angehörigenpflege
Wie viele pflegebedürftige ältere Menschen werden von Angehörigen gepflegt? Diese Frage lässt sich für die Schweiz kaum eindeutig beantworten; auch deshalb nicht, weil die Erfassung familialer Pflege in Studien von der Fragestellung abhängt. So ist der Übergang von familialer Hilfe und Unterstützung zu familialer Pflege fliessend. Gemäss deutschen Daten werden rund 72 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause und 28 Prozent in Heimen versorgt. Bei der Übertragung der deutschen Daten auf die Schweiz ist allerdings
zu beachten, dass in der Schweiz der Anteil der in Heimen lebenden älteren Bevölkerung grösser ist als in Deutschland. Während in Deutschland gut 5 Prozent der 65-jährigen und älteren Bevölkerung in institutionellen Einrichtungen leben, sind es in der Schweiz um die 7,5 Prozent. In einer 1995/96 in den Kantonen Genf und Zürich durchgeführten Demenzstudie wurden 51 Prozent der über 65-jährigen demenzkranken Menschen zu Hause gepflegt. Da es sich hier um zwei städtische Regionen mit hohem Anteil älterer allein Lebender handelt, dürfte der gesamtschweizerische Wert jedoch höher liegen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen wir uns somit mit einer groben Schätzung begnügen: Nach allen verfügbaren Informationen lässt sich schätzen, dass in der Schweiz zwischen 55 und maximal 60 Prozent der pflegebedürftigen älteren Menschen von Angehörigen (teilweise mit professioneller Unterstützung) zu Hause gepflegt werden.
Demografische Entwicklung
In den nächsten Jahren erhöht sich aus demografischen Gründen das familiale Hilfs- und Pflegepotenzial, weil mehr hochbetagte Menschen Lebenspartner und Kinder haben. Erst längerfristig – nach 2030 – wird sich der Trend umkehren, weil dann der Anteil kinderloser Frauen und Männer unter den Hochbetagten erneut deutlich ansteigen wird. Aktuelle Diskussionen, die von einem demografisch bedingten Pflegeproblem ausgehen, haben primär diese längerfristige Perspektive im Blick. Kurz- und mittelfristig verlaufen die Trends in die umgekehrte Richtung
François Höpflinger
(mehr Paare, weniger Kinderlose). Allerdings haben sich schon heute die demografischen Rahmenbedingungen gewandelt, unter denen die familiale Unterstützung und Pflege älterer Menschen stattfindet. Vor allem drei Punkte sind anzuführen:
«In den nächsten
Jahren erhöht sich das familiale Pflegepotenzial,
weil mehr Hochbetagte Lebenspartner und
»Kinder haben.
Zum Ersten führt die gestiegene Lebenserwartung von Frauen und Männern dazu, dass die familiale Unterstützung hochaltriger Menschen durch die nachkommende Generation keine Ausnahme mehr darstellt. Erstmals in der Geschichte ist es zu einem Regelfall im Lebens- und Familienzyklus von Frauen und Männern geworden, irgendwann mit der Pflegebedürftigkeit hoch-
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altriger Eltern konfrontiert zu werden. Zum Zweiten ist die höhere Lebenserwartung älterer Menschen mit einer steigenden Zahl von multimorbiden Krankheitsbildern verbunden. Gerade weil die Pflegebedürftigkeit aufgrund einer erhöhten behinderungsfreien Lebenserwartung später
«Erstmals ist es zu
einem Regelfall im
Lebenszyklus geworden,
irgendwann mit der
Pflegebedürftigkeit
hochaltriger Eltern
»konfrontiert zu werden.
eintritt, schliesst die Pflegebedürftigkeit hochaltriger Eltern oft eine intensive Pflege ein. Dies gilt namentlich bei demenziellen Erkrankungen, die für Angehörige eine besondere Herausforderung und Belastung bedeuten. Zum Dritten sind aufgrund der Hochaltrigkeit pflegebedürftiger Menschen die pflegenden Angehörigen vielfach ebenfalls bereits in höherem Lebensalter. Dies betrifft vor allem die Lebenspartner. Aber auch das Alter pflegender Kinder ist angestiegen: Waren die Kinder beim Eintritt einer Pflegesituation ihrer Eltern vormals vielleicht zwischen 20 und 40 Jahre alt, so erleben sie die Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern heute vielfach in einem Alter von 50 bis 60 Jahren. Diese Wandlungsprozesse bedeuten, dass das familiale Pflegepotenzial immer häufiger nur auf der Grundlage einer guten professionellen Beratung und Betreuung zum Tragen kommen kann.
Wer pflegt?
Die Antwort auf die Frage «Wer pflegt?» wird durch zwei Faktoren bestimmt: Bedeutsam ist einerseits, ob Familienmitglieder vorhanden sind, welche die Alterspflege übernehmen können – wobei sich die intergenerationelle Pflege aufgrund der geringen Kinderzahl immer häufiger auf ein bis zwei Angehörige konzentriert. Andererseits haben be-
stehende Normen zu intergenerationellen Beziehungen, wie die geschlechtsspezifische Zuordnung von Verantwortung, einen wichtigen Einfluss. So sind die Frauen unter den Hauptpflegepersonen stark übervertreten; gemäss deutschen Daten sind 80 Prozent der Hauptpflegepersonen weiblich. Dabei steht die Pflegekonstellation «Frau pflegt eigene Mutter» an erster Stelle, gefolgt von «Frau pflegt Ehemann» und «Frau pflegt Schwiegermutter». Sachgemäss ergibt sich mit steigendem Alter der pflegebedürftigen Person eine Verlagerung der Pflege von den Ehepartnern auf die Kinder. Hat sich die Bereitschaft zur intergenerationellen Alterspflege aufgrund des familialen Wertewandels oder neuer beruflicher Anforderungen verändert? Diese Frage lässt sich kaum eindeutig beantworten. Die Vermutung, die erhöhte Frauenerwerbstätigkeit hätte die Pflegebereitschaft von Frauen reduziert, findet jedoch kaum Unterstützung. Trotz erhöhter Erwerbstätigkeit sind namentlich Töchter meist weiterhin bereit, ihre Eltern im Alter zu pflegen. Bei genauer Analyse intergenerationeller Verpflichtungen treten allerdings wichtige Zweideutigkeiten und Ambivalenzen zutage. Solche Ambivalenzen traten in einer entwicklungspsychologisch ausgerichteten Studie deutlich zutage, in der Schweizer Frauen und Männer mittleren Alters (40 bis 55 Jahre) befragt wurden: Einerseits bestand ein starker Konsens darüber, dass Kinder
«Die Ambivalenzen
gegenüber intergenera-
tionellen Verpflichtungen
werden heute eher
»artikuliert.
ihren alternden Eltern gegenüber Verpflichtungen haben. Andererseits wurde mehrheitlich angeführt, dass die Eltern die erbrachten Hilfeleistungen zu wenig zu schätzen wüssten. Zudem wurde – bei aller Einigkeit über die Verpflichtungen
der Kinder – eine Schuldzuweisung
bei Unterlassung der Hilfe mehrheit-
lich zurückgewiesen.
Insgesamt lässt sich nicht feststellen,
dass die Bereitschaft zu intergenera-
tioneller familialer Pflege gesunken
wäre. Es ist höchstens so, dass die
Ambivalenzen gegenüber intergene-
rationellen Verpflichtungen heute
eher artikuliert werden. Zudem kön-
nen sich konfliktive Anforderungen
ergeben, wenn die Pflege betagter El-
tern und intensive Berufstätigkeit zu-
sammenfallen. Hohe Erwerbsquoten
und eine ausgeprägte Berufsorientie-
rung können etwa bei fünfzig-
jährigen Frauen zu einem Verein-
barkeitskonflikt zwischen späten
Berufsphasen und intergenerationel-
ler familialer Pflege beitragen. Eigene
Berechnungen zeigen, dass schon
heute mindestens jede vierte Frau im
Verlauf ihres Lebens nach dem Be-
rufs-Mutterschafts-Konflikt potenzi-
ell einen zweiten familial-beruflichen
Vereinbarkeitskonflikt (Beruf versus
Alterspflege) erlebt.
s
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. François Höpflinger
Soziologisches Institut der Universität Zürich
Rämistrasse 69 8001 Zürich
E-Mail: fhoepf@soziologie.unizh.ch
Literaturhinweise:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen, Berlin.
Grässel, E. (2000): Warum pflegen Angehörige? Ein Pflegemodell für die häusliche Pflege im höheren Lebensalter. Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 13, 2: 85–94.
Höpflinger, F., Hugentobler, V. (2003): Pflegebedürftigkeit in der Schweiz. Prognosen und Szenarien für das 21. Jahrhundert. Bern: HuberVerlag.
Hugentobler, V. (2003): Intergenerationelle Familienbeziehungen und Pflegebedürftigkeit im Alter, in: Caritas (Hrsg.) Sozialalmanach 2004. Die demografische Herausforderung. Luzern: Caritas-Verlag: 151–165.
Perrig-Chiello, P.; Höpflinger, F. (2001): Zwischen den Generationen. Frauen und Männer im mittleren Lebensalter. Zürich: Seismo-Verlag.
Internet-Studienunterlagen zu Alters- und Generationenfragen: www.hoepflinger.com
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