Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 05/2023
Vom Paria zur verordneten Medizin
Unter dieser prägnanten Überschrift beschrieb Ethan Russo, ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, die Entwicklung der Meinungen über medizinischen Cannabis in den letzten drei Jahrzehnten (2). Bei uns in der Schweiz hat sich diese Entwicklung am 1. August 2022 konkretisiert, als das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Notwendigkeit einer Sondergenehmigung für die Verschreibung von Cannabisarzneimitteln aufhob (3, 4).
Etwas Medizingeschichte zum Thema Cannabis
Hanf (Cannabis sativa) zählt zu den ältesten genutzten Kulturpflanzen der Menschheit. Schon in vorchristlicher Zeit hat sich der homo sapiens die vielfältigen Eigenschaften der Pflanze zunutze zu machen gewusst, sei es zur Fasergewinnung, für die Zubereitung von Nahrungsmitteln oder als Heilmittel zur Linderung von Schmerzen. Die Tatsache, dass Hanffasern das Papier für Gutenbergs Bibel lieferten, dass aus den gleichen Fasern die Segel von Christoph Columbus’ «Santa Maria» gewoben wurden und dass letztlich der Einsatz von Hanf in der arabischen Medizin oder bei Hildegard von Bingen als Heilpflanze dokumentiert ist, unterstreicht die kulturhistorische Bedeutung der heute so umstrittenen Pflanze.
Cannabis in der Behandlung der Spastik und anderer Symptome der Multiplen Sklerose
Kiffen hilft bei Spastik» – vom anekdotischen Bericht zum wissenschaftlichen Beleg
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, für die es heute noch keine Heilung gibt. Spastizität, Muskelkrämpfe, neuropathische Schmerzen, Tremor, Blasenfunktionsstörungen und kognitive Einbussen figurieren unter den Symptomen, welche die Lebensqualität der MS-Betroffenen massgeblich einschränken. Nachdem manch ein MS-Erkrankter vom günstigen Effekt von meist illegal konsumiertem Hanf auf seine Symptome zu berichten wusste, haben in letzter Zeit auch kontrollierte Studien die positive Wirkung von medizinischem Cannabis auf gewisse dieser Symptome dokumentieren können.
Cannabis in der akuten und prophylaktischen Behandlung der Migräne? Eine komplexe Herausforderung
Migräne gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen weltweit und beeinträchtigt das tägliche Leben von Millionen Menschen. Migräneanfälle stellen für Betroffene eine enorme Belastung dar, sowohl physisch als auch psychisch. Jüngste Erkenntnisse legen nahe, dass das Endocannabinoidsystem (ECS) eine Rolle in der Migränepathophysiologie spielen könnte. Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), Hauptcannabinoide in medizinischem Cannabis, beeinflussen das ECS und reduzieren Stress, entzündliche Prozesse und teilweise auch das Schmerzempfinden. Sie könnten daher eine alternative Therapieoption bei Migräne bieten. Dieser Artikel beleuchtet die potenzielle therapeutische Wirkung von Phytocannabinoiden bei Migräne, präsentiert bisherige Forschungsergebnisse und betont den Bedarf klinischer Studien in diesem vielversprechenden Bereich.
Cannabinoide und Demenz
Demenzerkrankungen nehmen weltweit zu, was mit einer alternden Bevölkerung zusammenhängt. Dabei ist die Alzheimer-Erkrankung die häufigste Form. Demenz ist gekennzeichnet durch den Verlust des Gedächtnisses, der kognitiven Fähigkeiten und des unabhängigen täglichen Funktionierens. Derzeit gibt es keine heilende Behandlung für Demenz. Die Behandlung der häufig auftretenden verhaltensbezogenen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD) ist teilweise wirksam und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden.
Cannabis bei chronischen Schmerzen – mehr als eine Option?
Chronische Schmerzen sind die häufigste Indikation für die Verschreibung von medizinischem Cannabis. Die Studienlage zu Medizinalcannabis bei chronischen Schmerzen ist insgesamt umfangreich, aber die Fallzahlen sind oft klein und die Aussagen variieren von «nicht empfohlen» bis zur «third-line treatment option». Die Klinik zeigt jedoch, dass die Patientinnen und Patienten von der Therapie mit Medizinalcannabis sehr profitieren und Analgetika wie Opioide reduziert werden können.
Erleichterter Zugang zu Cannabisarzneimitteln – Was bedeutet das für Verschreibende und Medizinfachpersonen?
Seit August 2022 können Cannabisarzneimittel von Ärztinnen und Ärzten ohne Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verschrieben werden. Allerdings ist neben dem nötigen Fach- wissen die Kostenübernahme nach wie vor eines der Hauptprobleme, woran die neue Gesetzgebung leider kaum etwas zu ändern vermag. Dieser vereinfachte Zugang zu Medizinalcannabis lässt eine höhere Anzahl an Patientinnen und Patienten erwarten, die diese Therapieoption in Anspruch neh- men möchten. Verschreibende und Pflegefachpersonen sollten auf diese Änderung durch gezielten Wissenstransfer, Fortbildungen und interprofessionellem Austausch vorbereitet werden.
Regulierte Cannabisabgabe zu Genusszwecken in der Schweiz – Das Basler Pilotprojekt WEED CARE
Immer mehr Länder legalisieren Cannabis zu Genusszwecken. Die aktuelle Evidenz zu den Effekten einer Cannabisregulierung auf die Gesundheit ist unklar. In der Schweiz sind seit dem Jahr 2021 wissenschaftliche Studien mit Cannabis zu Genusszwecken erlaubt. Das Basler Pilotprojekt WEED CARE zum regulierten Cannabisverkauf in Apotheken ist die erste randomisierte kontrollierte Studie, die die Auswirkungen des regulierten Cannabisverkaufs auf das Konsumverhalten und die Gesundheit von Cannabiskonsumierenden im Vergleich zur Schwarzmarktsituation untersucht. Die Erkenntnisse sollen zu einer wissenschaftlich fundierten Diskussionsgrundlage über eine künftige verantwortungsvolle Cannabispolitik in der Schweiz beitragen.
Cannabinoide: Rauschkonsum und medizinische Anwendung
Es ist gut belegt, dass das Risiko für das Auftreten psychischer Erkrankungen durch den Gebrauch von Cannabisprodukten signifikant steigt. Demgegenüber steht die Verschreibung von medizinischen Cannabisprodukten, die im Jahr 2017 in Deutschland gesetzlich neu geregelt wurde. Seitdem sind eine Reihe von Fertigarzneimitteln, Blüten und Vollextrakten auf dem Markt. Die Einsatzmöglichkeiten bieten Chancen, erfordern aber eine ausführliche Beratung und Aufklärung der Betroffenen sowie eine individuelle Bewertung der Risiken.
Wirksamkeit von Gepanten und CGRP-Antikörpern
Weitere Meldungen:
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-SAMW-Leitfaden zur Betreuung und Therapie von älteren Süchtigen
-Neue App für psychisch belastete Menschen bietet Hilfe zur Selbsthilfe
-Erste klinische Anwendung von Psilocybin bei Depression
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In diesem Heft
Neurologie: Cannabis
Editorial
Fortbildung
- Etwas Medizingeschichte zum Thema Cannabis
- Cannabis in der Behandlung der Spastik und anderer Symptome der Multiplen Sklerose
- Cannabis in der akuten und prophylaktischen Behandlung der Migräne? Eine komplexe Herausforderung
- Cannabinoide und Demenz
- Cannabis bei chronischen Schmerzen – mehr als eine Option?
- Erleichterter Zugang zu Cannabisarzneimitteln - Was bedeutet das für Verschreibende und Medizinfachpersonen?
Psychiatrie: Cannabis
- Regulierte Cannabisabgabe zu Genusszwecken in der Schweiz - Das Basler Pilotprojekt WEED CARE
- Cannabinoide: Rauschkonsum und medizinische Anwendung