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SCHWERPUNKT
Schwangerschaft und Mutterschaft bei Opioidabhängigkeit
Eine Betrachtung aus Sicht der Sozialpsychiatrie
Schwangerschaft und Geburt sind für jede Frau eine Herausforderung, und gesellschaftlich verankerte Normen und das Wissen um potenziell schädigende Einflüsse legaler und illegaler Substanzen erhöhen den Druck auf die Mütter, während der Schwangerschaft ein entsprechend verantwortungsvolles Leben zu führen. Was aber, wenn das Handeln nicht nur der willentlichen Kontrolle unterliegt? Wenn das Drängen nach Substanzkonsum immer wieder andere Überlegungen in den Schatten stellt?
ULRIKE SANWALD
Ulrike Sanwald
Persönlichkeitsrechte und Fürsorgepflicht
Auffälligkeiten bei Kindern substanzabhängiger Mütter wurden lang direkt der Substanz angerechnet (1). Der enorme Einfluss psychosozialer Rahmenbedingungen auf die kindliche Entwicklung ist heute jedoch bestätigt (2, 17). Es gibt auch nicht «die Süchtige» und nicht «den Lebensalltag einer Süchtigen», was eine Auswertung und die Vergleichbarkeit negativer Entwicklungsverläufe bei Kindern suchtkranker Mütter erschwert (3). Heute ist die Sucht als komplexe Erkrankung anerkannt und stellt für die Invalidenversicherung keine Ausschlussdiagnose mehr dar (4). Das Stigma von fehlendem Mutterinstinkt, mangelnder Verantwortungsfähigkeit und willentlich unmoralischem Verhalten hält sich dennoch hartnäckig. Die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung bedeutet jedoch nicht, dass den betroffenen Frauen automatisch die Kompetenz abgesprochen werden darf, ihr Leben frei, selbstverantwortlich und mündig zu gestalten, und zwar mit allen sozialen Rollen und Identitäten, die sich aus ihrem «Frausein» ergeben (5).
Merkpunkte
n Sowohl Schwangerschaft als auch Elternschaft sind im Rahmen einer Opioidabhängigkeit möglich.
n Voraussetzung ist ein multiprofessionelles Helfernetz mit guter Balance zwischen wertschätzender Unterstützung und fürsorglicher Kontrolle.
n Die Substitution mit Opioiden soll ausreichend bemessen werden, um Beikonsum unter allen Umständen zu vermeiden.
n Die Geburt erfordert stets eine perineonatologische stationäre Behandlung. n Stillen soll unter Erfüllung der nötigen Kriterien nach Möglichkeit unterstützt werden. n Transparente Kooperation im multiprofessionellen Team ist auch nach der Geburt
zwingend erforderlich und stellt eine Herausforderung für das Helfernetz wie für die Mutter/Eltern dar.
Gleichwohl wissen wir, dass Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen häufig über eingeschränkte körperliche, seelische und soziale Ressourcen verfügen. Dieses Spannungsfeld aus Schutz der Persönlichkeitsrechte der Frau und der Pflicht zur Fürsorge dem entstehenden Leben gegenüber erfordert eine dynamische und genaue Analyse und Abwägung von Risiko und Ressourcen (Tabelle 1), Transparenz und Privatsphäre (3, 6).
Schwangerschaft und Opioidabhängigkeit
Rückblick Spätestens seit dem Film «Platzspitzbaby» ist die ehemalige offene Drogenszene rund um den Zürcher Platzspitz den meisten in der Schweiz wieder ein Begriff. Im Kielwasser der Freiheits- und Hippiebewegung der 1970er- und 1980er-Jahre erreichten auch harte Drogen wie Kokain und Heroin den einheimischen Markt – mit unvergleichlich höherem Suchtpotenzial als Psychedelika und THC. Heroin mit seiner kurzen Halbwertszeit, schnellen Toleranzentwicklung und deshalb notwendigen zeitintensiven Beschaffung machte eine soziale Integration in normale Gesellschaftsstrukturen für die Betroffenen fast unmöglich. Die hohe Abhängigkeit von der Substanz und der häufig intravasale Konsum bei desolaten Hygieneverhältnissen öffneten Infektionskrankheiten Tür und Tor und prägen bis heute unser Bild drogenabhängiger Menschen. Die Vernetzung verschiedenster Akteure aus Sozialbereichen, Medizin, Polizei, Justiz und Politik führte unter grossem Druck der Öffentlichkeit zu einem Umdenken im Umgang mit der Sucht. Die Abkehr von reinem Abstinenzdenken und Repression sowie der Einbezug einer differenzierten Suchtpolitik mit Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repres-
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1:
Risikoabwägung für süchtige schwangere Frauen, Mütter und ihre Kinder Grobe Abschätzung ohne dezidierte Cut-off-Werte
(Belastungs- und Risikokatalog für schwangere Frauen und Mütter, ISW [3])
Ressourcen (0 Punkte)
➔
➔
Suchtspezifisch
Kein körper- und fetusschädigender Konsum, Alltagsbewältigung
nicht tangiert vom Substanzkonsum
Somatisch
«Fit» für Schwangerschaft (SS) und Kinderbetreuung, übernimmt
Verantwortung für die eigene Gesundheit, lässt Krankheiten
behandeln und nimmt Vorsorgeuntersuchungen wahr.
Psychisches Befinden
Stabil (unabhängig von anderen psychiatrischen Diagnosen),
und Belastbarkeit
auch unter Stress, Stressbewältigung adäquat
Kann Hilfe holen und annehmen, keine Psychosegefahr
Wohnraum, Bindung,
Genügend und sicherer Wohnraum
finanzielle Lage
Minimale Schulbildung
Regelmässiges Einkommen (Verdienst, Rente, Sozialleistungen usw.)
Compliance
Authentische Gespräche nicht möglich
Zuverlässigkeit in der Behandlung
Transparenz der Lebenslage
Realistische Einschätzung der Ressourcen/Defizite
Beziehung
Unterstützung durch Partner (evtl. Kindsvater), FreundInnen, Familie
Keine Gewalt in den Beziehungen bekannt
Lebenspraktische Fähigkeiten Planung und Strukturierung von Alltag, Finanzen, Hygiene möglich
(Bewältigungsstrategien
Fähigkeit zur Selbstfürsorge und Empathie vorhanden
im Alltag)
Kognitive Fähigkeiten
Vorausdenkend, kann Gedanken strukturieren, Inhalte aufnehmen
und adäquate Schlüsse ziehen, adäquate Risikoeinschätzung
Defizite (10 Punkte) Körper- und fetusschädigender Konsum Verhalten um und nach Konsum beeinträchtigen die Alltagsbewältigung SS-gefährdende Krankheiten, keine Einsicht in Behandlungsnotwendigkeit oder Vorsorgeuntersuchungen Keine Verantwortungsübernahme für eigene Gesundheit Hohes Risiko für psychiatrische Entgleisung oder floride Krankheit, psychisch instabil ohne nennenswerte Stressbewältigungsstrategien Obdachlos oder fluktuierender Wohnort Keine Schulbildung Kein regelmässiges Einkommen Authentische Gespräche nicht möglich, unzuverlässig und intransparent bzgl. Lebenslage und Konsum Kein Realitätsbezug bzgl. Ressourcen und Defizite
Allein lebend oder in unsteten, destruktiven Partnerschaften Kein funktionelles soziales Netz Gewaltbereites Umfeld Keine Fähigkeit zur Planung, Strukturierung und zum Einhalten rudimentärer Selbstfürsorge- und Hygieneregeln Keine Empathiefähigkeit Leben im Moment, kann Planung/Zielsetzung nicht verfolgen, fluktuierende Prioritäten Keine adäquate Anpassung an Unvorhergesehenes Keine adäquate Risikoeinschätzung
sion als tragende Pfeiler und die Berücksichtigung der konsumierten Substanz und des Konsummusters in der Behandlung sind noch heute die Grundlage der Suchtpolitik in der Schweiz, die sich stetig weiterentwickelt (7, 8).
Epidemiologie Heute liegt Heroin als Strassendroge glücklicherweise nicht mehr «im Trend» (18). Durch flächendeckende Substitutionsangebote in der Schweiz, welche die ärztliche kontrollierte Opioidagonistentherapie (OAT) und die heroingestützte Behandlung (HeGeBe) zur Verfügung stellen, ist auf den Strassen keine offene Drogenszene mehr sichtbar. Unterdessen verzeichnen die Behandlungszentren abnehmende Zahlen. Laut Angaben der unabhängigen und gemeinnützigen Stiftung Sucht Schweiz berichteten 0,4% der Frauen (Männer: 1,0%) in der Schweizer Bevölkerung von der Anwendung von Heroin in ihrem Leben (9). Im Jahr 2020 waren insgesamt 16 144 Personen in einer Substitutionsbehandlung mit deutlicher Häufung im höheren Lebensalter (9). Betrachtet man den Konsum opioidhaltiger Schmerzmittel in Europa, findet man regionale Unterschiede; eine Abhängigkeitswelle wie in den USA in den vergangenen Jahren hat sich jedoch nicht eingestellt (10).
Biografische Besonderheiten Wie erwähnt, gibt es nicht «die Süchtige» und somit auch nicht «die süchtige Opioidabhängige». Jedoch sehen wir häufig Frauen mit langen, frühen und polytoxikomanen Konsummustern und schweren traumatisierenden Erlebnissen und Bindungserfahrungen. Jede Substanz hat ihren eigenen Fingerabdruck mit entsprechender Passung zu den individuellen Bedürfnissen und Sehnsüchten der Konsumierenden. Im Fall der Opioide berichten Betroffene von einem unermesslichen Gefühl der Geborgenheit, der Zuversicht und der inneren Ruhe, das mit keiner bisherigen reellen Erfahrung vergleichbar ist und wie auf Knopfdruck Sehnsüchte in diesem Bereich stillt, zumindest für einen kurzen Moment. Neben den neurobiologischen Besonderheiten ist diese emotionale Abhängigkeit von der Substanz ein wichtiger Aspekt der problematischen Suchtdynamik. Die Betroffenen haben mit brüchigem Selbstwert und desolaten Bindungserfahrungen den Anforderungen des Alltags häufig wenig entgegenzusetzen, und die Substanz fungiert als zuverlässige Bindungsfigur und als Schutzschild.
Opioide während der Schwangerschaft Viele Frauen mit illegalem Substanzkonsum zeigen eine Amenorrhö, und die Frauen wähnen sich des-
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SCHWERPUNKT
Tabelle 2:
Steckbrief ausgewählter Opioide und Handhabung im Substitutionskontext (ISW)
Methadon
Retardiertes orales
Buprenorphin
Diacetylmorphin
Morphin (SROM)
Handelsnamen
Methadon Morphin Buprenorphin Diaphin
Ketalgin
Sevre-long
Subutex
Heroin (Strasse)
Kapanol Temgesic
MST
Indikation
Standard-OAT
OAT-Schmerzmedikation OAT
Therapieresistenz
(stabil bei niederer/mittlerer
OAT
Abhängigkeit),
Schmerzmedikation
Applikationsform
1 x/Tag p. o. (Tl., Tbl.)
1 x/Tag p. o. (Kps.)
1 x/Tag – alle 3 Tage s. l. (Tbl.) Bis 3 x/Tag i. v. i. m., nasal,
(gängige Praxis ISW)
p. o. (Amp.,Tbl.)
Bevorzugter Abbauweg Leber
Niere
Leber
Niere
(Aktiver Methabolit:
➞ Morphin)
Spezifika
QTc-Zeit-Verlängerung
Gut verträglich
Parzieller Antagonist ➞
Wenig Interaktionen
Viele Interaktionen mit
Wenig Interaktionen
verdrängt andere Opioide
Sehr schnelles Anfluten
Medikamenten
Toleranzdynamik:
vom Rezeptor
Eindosieren nur in
Toleranzdynamik:
– stabiler Aufbau 1 Woche
➞ Gabe, wenn erste
spezialisierten Zentren
– stabiler Aufbau 1 Woche
– Verlust nach 5 Tagen
Entzugssymptome auftreten
Kontrolle BAG
– Verlust nach 5 Tagen
Kumulationsgefahr:
wenig Interaktionen
Gefahr Überdosierung
Kumulationsgefahr: («start slow – go slow»)
Geringe Überdosierungsgefahr
(«start slow – go slow»)
Nebenwirkungen (NW) Libidostörung
Weniger NW als Methadon
Kaum NW
Starke Sedation
Gewichtszunahme Atemdepression
Kaum Atemdepression
(kurzer Flash)
Schwitzen Obstipation Obstipation Libidostörung
«Wattegefühl»
Atemdepression
Atemdepression
Obstipation
Obstipation
Einfluss der Substitution Stabile Einstellung!
Stabile Einstellung!
Stabile Einstellung!
Per se stärkere
auf Schwangerschaft
Dosis fraktionieren, um
Dosis fraktionieren, um
Gilt nicht als teratogen
Schwankungen, da Flash
Schwankungen zu verringern
Schwankungen zu verringern
Gilt nicht als teratogen
Gilt nicht als teratogen
Gilt nicht als teratogen
Geringe Datenlage!
Geringe Datenlage!
Stillen
Wird empfohlen
Wird empfohlen
Wird empfohlen
Keine Kontraindikation
Geringe Menge in Muttermilch ➞ Geringe Menge in Muttermilch ➞ Geringe Menge in Muttermilch ➞ ➞ Morphin
CAVE: Beikonsum!
CAVE: Beikonsum!
CAVE: Beikonsum!
Geringe Datenlage
Kontrolle erforderlich
Kontrolle erforderlich
Kontrolle erforderlich
CAVE: Beikonsum!
Kontrolle erforderlich
Eigene Zusammenstellung der Autorin aus Embroytox.de (11), Empfehlungen SSAM-SAPP (18)
halb häufig in Sicherheit. Eine Schwangerschaft schliesst das aber per se nicht aus. Vor allem unter OAT stabilisiert sich der Ovulationzyklus häufig wieder, selbst wenn es nicht zur regelmässigen Menstruation kommt. Orale Kontrazeptiva interagieren nicht mit den Opioidagonisten (18). Opioide gelten an sich nicht als teratogen (11). Unklar ist jedoch bei multifaktorieller Beeinflussung die Wirkung der Substanz auf die intrauterine und postnatale Entwicklung des Kindes (18). Bei unklarem Beikonsum sind weiterführende Ultraschalluntersuchungen indiziert. Bei der Anwendung von Opioiden während der Schwangerschaft muss zwischen Schmerzmedikation und OAT unterschieden werden. Bei Ersterem sollte nach Möglichkeit auf die Verschreibung alternativer
Schmerzmittel wie Paracetamol oder bis zur 28. Schwangerschaftswoche auf Ibuprofen ausgewichen werden (11). Sind zentral wirksame Schmerzmittel unabdingbar, sind Tramadol oder Buprenorphin die Mittel der Wahl (11). Wie bei den Substitutionsmitteln muss bei längerer Anwendung von Schmerzmitteln im 2./3. Trimenon mit Entzugssymptomen beim Neugeborenen gerechnet werden. Eine Substitutionsbehandlung sollte so früh wie möglich, idealerweise vor der Schwangerschaft, begonnen werden, um intrauterine Entzüge zu verhindern. Ziel ist, die passende Substanz in der idealen Dosierung zu finden (Tabelle 2), die es der Schwangeren ermöglicht, auf Beikonsum völlig zu verzichten und psychosoziale Probleme mit Unterstützung anzugehen. Das erfordert zwingend die Einbindung
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von Suchtspezialisten. Mitunter wird so eine adäquate gynäkologische Begleitung erst möglich. Ein Zusammenhang zwischen der Dosis der Substitution und dem kindlichen Befinden bzw. der Intensität der postnatalen Entzugssymptome konnte bislang nicht nachgewiesen werden (11). Die verschiedenen in der Schweiz gängigen Substitutionsmittel zeigen im Hinblick auf den kindlichen Outcome wenig signifikante Unterschiede. Studienergebnisse erscheinen jedoch nur schwer vergleichbar, da schon bei der Auswahl des Substitutionsmittels selbst eine Vorselektion durchgeführt wird. Frauen mit Buprenorphin-Substitution zeichnen sich durch eine stabilere allgemeine Ausgangslage aus, was einen weit grösseren Einfluss auf die Entwicklung des Fetus haben dürfte als die Substanzexposition selbst (2). Bei Heroin-Exposition im Mutterleib lässt sich laut der Abteilung Neonatologie des Kantonsspitals Winterthur klinisch ein intensiverer, dafür häufig kürzerer Entzug beim Neugeborenen beobachten.
Helfernetz Aus Schuld, Scham und Angst vor Stigmatisierung sprechen schwangere Süchtige häufig erst spät über ihre Schwangerschaft (13). Hier gilt es, eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und einen wertschätzenden und transparenten Umgang zu pflegen – vielleicht auch die Frage nach dem Kinderwunsch frühzeitig zu stellen. Die frühe Vernetzung mit Gynäkologie, Suchtspezialisten, privaten Hebammen sowie Kinderschutzgruppen, Mütterberatung und perinatologischen Zentren hat sich in der Vergangenheit als sinnvoll und hilfreich erwiesen (4, 6). Interventionen müssen stets indikationsgeleitet sein und den Ressourcen und Defiziten der Schwangeren gerecht werden, und zwar ohne stereotype Automatismen. Das Spektrum reicht hier von engmaschigerer Betreuung über den Entzug von anderen Substanzen in einer Suchtfachklinik bei hohem Beikonsum bis zur frühen Anbindung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) (4, 6, 12). Spätestens bei der Geburt erfolgt vonseiten der Klinik der Einbezug des Sozialdienstes und der mit Kinderschutz befassten Organisationen.
Geburt und perinatale Phase
Schwangerschaften opioidabhängiger Frauen gelten generell als Risikoschwangerschaften, bei denen die Entbindung und die stationäre Nachbetreuung des Säuglings in einem perinatologischen Zentrum vorgesehen sind (4, 6, 12,18).
Entzug 50 bis 90% aller Neugeborenen opioidabhängiger Mütter machen einen postpartalen Entzug durch, der in Ausprägung und chronologischem Verlauf nicht abzuschätzen ist (13). Die Symptome, die mit 72 Stun-
den Verzögerung nach der Geburt auftreten können, sind dem Wegfall der intrauterinen Suchtmittelexposition geschuldet und mit Irritation vor allem des zentralen und autonomen Nervensystems verbunden. Irritabilität, schrilles Schreien, Zittern, muskuläre Hypertonie und Temperaturanstieg sowie gastrointestinale Beschwerden und Atemfrequenz werden mithilfe des Finnegan-Scores (16) mehrmals täglich objektiv erhoben, um weitere Interventionen zu planen. Die Untersuchung des Mekoniums auf Substanzen gibt Aufschluss über die tatsächliche Exposition des Fetus in den letzten 6 Monaten, was Rückschlüsse auf die Transparenz der Schwangeren zulässt. Nicht medikamentöse Interventionen bei Entzugssymptomen sind die Mittel der ersten Wahl (11, 12, 15). Dazu gehören Unterstützung der Eltern-/MutterKind-Beziehung mit aktivem Einbeziehen der Bezugspersonen in der Pflege, körperliche Kontakte, wo immer möglich, und Rooming-in-Angebote. Hier bedarf es häufig individueller Lösungen und einer wertschätzenden, geduldigen, aber auch realistischen Einschätzung vorhandener Ressourcen im Familiensystem. Viele Frauen kämpfen mit Schuld- und Schamgefühlen gegenüber ihrem Kind, für dessen Entzug sie sich verantwortlich fühlen. Enger Körperkontakt kann mit negativen biografischen Erlebnissen und daraus folgenden Kontakthemmungen verknüpft sein, was Schuld, Scham und die Prämisse, keine gute Mutter zu sein, noch verstärkt. Bei medikamentöser Behandlung des Säuglings ist eine Überwachung auf der Neonatologie unabdingbar. In der Schweiz kommen vor allem umfangreich untersuchte, gut steuerbare und oral zu verabreichende Morphinpräparate zum Einsatz. Weitere Möglichkeiten wären Methadon und Buprenorphin. In Abhängigkeit des Finnegan-Scores erfolgt eine dynamische Anpassung (12).
Stillen Stillen hat einen signifikant verringernden Einfluss auf die Notwendigkeit und die Dauer einer medikamentösen Behandlung und die generelle Hospitalisationszeit, nicht jedoch auf die Intensität der Entzugssymptome selbst (15). Das Substitutionsmittel der Mutter wird nur in geringen Mengen in die Muttermilch ausgeschieden und gilt als weitgehend unbedenklich (11). Beikonsum anderer Substanzen muss jedoch vermieden werden. Kokainkonsum ist aufgrund der schweren Schäden für den Säugling kontraindiziert. Mütter werden zum Stillen motiviert, müssen sich hierfür jedoch einer wöchentlichen Urinkontrolle unterziehen (6, 12).
Elternschaft Während der Entzugsphase des Säuglings sind eine engmaschige Unterstützung, Behandlung, aber auch
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Beobachtung der Ressourcen und Defizite im Fami-
liensystem durch das stationäre Setting gewährleis-
tet.
Eine transparente und wertschätzende Begleitung
nach Spitalaustritt ist mindestens ebenso wichtig.
Hier gilt es, im multiprofessionellen Team eine gute
Balance zu finden zwischen aktiver Unterstützung des
Betreuungssystems, Befähigung zu Eigenverantwor-
tung und Selbstwirksamkeit der Eltern sowie Beob-
achtung, Kontrolle und der Pflicht zur Fürsorge dem
Kind gegenüber, um, wenn nötig, alternative Mög-
lichkeiten für die Betreuung des Neugeborenen zu
klären respektive einzuleiten (6).
n
Dr. med. Ulrike Sanwald Leitende Ärztin|Ko-Leiterin ISW Akut-Tagesklinik + Ambulatorium Winterthur Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland 8408 Winterthur E-Mail: Ulrike.Sanwald@ipw.ch
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Boyd S, Marcellus L.: With Child. Substance Use during Pregnancy: A woman-centred Approach. Fernwood Publishing, Halifax 2007. 2. Schiemann S.: Kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern mit pränataler Opiatexposition in Abhängigkeit der postnatalen Betreuungsbedingungen. Dissertation; Universität Frankfurt am Main 2006. 3. Integrierte Suchthilfe Winterthur (ISW): Schwangerschaft/Elternschaft und Substanzabhängigkeit (Sucht). Behandlungskonzept der Integrierten Suchthilfe Winterthur 2017. 4. Liebrenz M et al.: Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankung. Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281. Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge, 60. Jg. 2016. 5. Velez ML et al.: Parenting knowledge among substance abusing woman in treatment. Journal of Substance Abuse Treatment 2004; 27. 6. Fachstelle Okey & Kids Punkt: Winterthurer Betreuungskonzept für Neugeborene mit Entzugssymptomen und deren Eltern. 2017. 7. Seidenberg A.: Das blutige Auge des Platzspitzhirsches. 2020. 8. Bundesamt für Gesundheit, Schweiz: Nationale Strategie Sucht. 2018. 9. Sucht Schweiz: Zahlen und Fakten – Opioide. Gmel G et al.: Suchtmonitoring Schweiz: Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen in der Schweiz im Jahr 2016. Lausanne, Sucht Schweiz 2017. 10. Seyler T et al.: Is Europe facing an opioid epidemic: What does European monitoring data tell us? Eur J Pain. 2021; 25 (5): 1072-1080. 11. Zusammenstellung aus www.embryotox.de 12. Universitätsspital Zürich (USZ): Betreuung von Neugeborenen mit Entzugsproblematik, Angebot der Klinik für Neonatologie. 13. Ko JY et al.: «Incidence of neonatal abstinence syndrome – 28 states, 1999– 2013. MMWR. Morbidity abuse. Mortality Weekly Report 2016; 65; 799–802. 14. Rizk AH et al.: Maternity care for pregnant woman with opioid use disorder: A review. J. Midwifery Womens Health 2019; 64 (5): 532-544. 15. Liangliang Chu et al.: Meta-Analysis of breastfeeding effects for infants with neonatal abstinence syndrome. Nursing Research 2022; 71 (1); 54-65. 16. Psychrembel online: Pädiatrie > Neonatologie > Neonatologie > ZustandsDiagn. des Neugeborenen > Finnegan-Score. 17. Burris HH et al.: Birth outcome racial disparities: a result of intersecting social and environmental factors. Semin Perinatol 2017; 41(6): 360-366. 18. Beck T et al.: Medizinische Empfehlungen für Opioidagonistentherapie (OAT) bei Opioidabhängigkeits-Syndrom. 2020. https://www.ssam-sapp.ch
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