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SCHWERPUNKT
Alkohol bei Schwangeren
Konsumgewohnheiten, Wirkungen auf Mutter und Kind, Beratung und Prävention
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist zunehmend auch in der Schweiz verbreitet. Das daraus resultierende fetale Alkoholsyndrom (FAS) gehört zu den häufigsten Ursachen bei einer angeborenen Schädigung. Das FAS ist potenziell schwerwiegend, kann aber durch eine Primärprävention verhindert werden. Bisher konnte kein Schwellenwert bei der pränatalen Alkoholexposition definiert werden, unter dem es zu keiner fetalen Schädigung kommt.
NATALIE JÄGLI, TINA FISCHER
Natalie Jägli Tina Fischer
Heutige Konsumgewohnheiten
In den letzten Jahrzehnten ist der Alkoholkonsum bei Frauen deutlich gestiegen. Insbesondere die Prävalenz des Rauschtrinkens (binge-drinking) ist bei Frauen im gebärfähigen Alter hoch. Die Auswertung der Suchtmonitoring-Befragung von 2011 bis 2016 für das BAG bei Frauen zwischen 15 und 44 Jahren zeigt, dass 12,2% 1-mal im Monat und 10,1% sogar 1-mal in der Woche 4 Gläser Alkohol oder mehr konsumieren (zu beachten: 1 Glas entspricht 10–12 g Reinalkohol). In der gleichen Befragung wurde die Häufigkeit des Alkoholkonsums bei Schwangeren und Stillenden ausgewertet. Dabei hat sich gezeigt, dass gut 60% der Frauen in der Schwangerschaft und Stillzeit nie oder selten Alkohol konsumieren. Etwas weniger als 40% konsumieren 1-mal pro Monat oder häufiger Alkohol. 1,1% aller Schwangeren/Stillenden trinken täglich Alkohol und 3,9% durchschnittlich mehr als ein Standardglas am Tag. Hinsichtlich des Rauschtrinkens gaben 16,4% der Schwangeren/Stillenden eine Häufigkeit von weniger als 1-mal pro Monat an, 3,7% betrinken sich 1-mal monatlich und 2,2% 1-mal wöchentlich (1). Ähnliche Zahlen zeigte eine Studie von Meyer-Leu und Kollegen 2011 in der Frauenklinik des CHUV in Lausanne (2).
Merkpunkte
n Fast 40% der Schwangeren in der Schweiz trinken mindestens 1-mal pro Monat Alkohol. n Die Schweiz gehört zu den Ländern mit der höchsten Prävalenz des fetalen Alkohol-
syndroms (FAS). n Beim FAS besteht eine charakteristische Trias aus Wachstumsrückstand, typischer
Facies und entwicklungsneurologischer Störung. n Das FAS ist verhinderbar – durch präventive Massnahmen. n Der Alkohol tritt ungehindert durch die Plazenta in den fetalen Kreislauf. n In der Schwangerschaft wird der komplette Alkoholverzicht empfohlen.
Popova und Kollegen haben in einem systematischen Review mit Metaanalyse die regionale und globale Prävalenz des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft und des fetalen Alkoholsyndroms (FAS) untersucht. Hier zeigen sich relevante regionale Unterschiede: Die 5 Länder mit der höchsten Prävalenz des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft – Russland, Vereinigtes Königreich (UK), Dänemark, Belarus und Irland – gehören alle zur European Region der WHO. Die durchschnittliche Prävalenz der Schwangeren, die in dieser Region regelmässig Alkohol trinken, liegt bei 25,2%. Im Vergleich dazu: Die globale Prävalenz der Schwangeren, die Alkohol trinken, beträgt gemäss dieser Studie durchschnittlich 9,8% (3). Die Prävalenz in der Schweiz gehört also im globalen Vergleich zu den höchsten. Die daraus entstehende kindliche Schädigung ist die häufigste, nicht genetisch bedingte Entwicklungsstörung.
Auswirkungen auf Mutter und Kind
Alkoholtoxizität Alkohol tritt durch die Plazenta ungehindert in den kindlichen Blutkreislauf über. Nach spätestens 2 Stunden ist die Alkoholkonzentration im Blut des Embryos/Fetus gleich hoch wie bei der Mutter. Durch die geringe Wirksamkeit der Alkoholdehydrogenase in der fetalen Leber kann der Alkohol nur verzögert abgebaut werden. Das führt dazu, dass der Fetus dem durch die Mutter aufgenommenen Alkohol wesentlich länger ausgesetzt ist. Verschiedene pathogene Mechanismen sind bekannt: Der Alkohol (Ethanol) hat eine direkte teratogene Wirkung durch Störung von Organbildung und -wachstum (4). Das führt zu einer Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS), was eine mentale Retardierung zur Folge hat. Da das ZNS und der Gesichtsschädel eine gemeinsame ontologische Anlage haben, treten gleichzeitig kraniofaziale Dysmorphien auf. Der Alko-
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vermindertem Geburtsgewicht und vermindertem Kopfwachstum führt (6).
Abbildung: Diagnostische Kriterien innerhalb des FASD-Kontinuums (nach IOM 1996) FAS = fetales Alkoholsyndrom pFAS = partielles fetales Alkoholsyndrom ARBD = alkoholbedingter Geburtsfehler (alcohol-related birth defect) ARND = alkoholbedingte neurologische Entwicklungsstörung (alcohol-related neurodevelopment disorder)
Tabelle: Symptome des fetalen Alkoholsyndroms
holmetabolit Acetaldehyd führt unter anderem zur Apoptose von Nervenzellen und von Zellen der Neuralleiste sowie zu Störungen in der Zellmigration und in der Ausbildung des Corpus callosum (5). Im Endeffekt können jedoch alle Organsysteme durch den Alkohol geschädigt werden. In Studien konnte gezeigt werden, dass pränataler Kontakt mit Alkohol den fetalen Blutfluss in utero verändert und zu Plazentainsuffizienz und fetaler Wachstumsrestriktion führen kann. Eine kürzlich durchgeführte tierexperimentelle Studie aus Amerika zeigt, dass es bereits durch einmalige Ethanolexposition zu einer Störung der Expression von plazentaren Genen kommen kann, die unter anderem für die plazentare Blutbildung zuständig sind. Dadurch wird der umbilikale Blutfluss vorübergehend vermindert, was zu IUGR,
Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) Unter diesem Begriff werden die verschiedenen durch Alkoholexposition bedingten Syndrome mit unterschiedlichen Ausprägungen zusammengefasst. Erwartungsgemäss ist die Prävalenz der FASD dort hoch, wo am meisten Alkohol in der Schwangerschaft konsumiert wird. Die weltweit höchste Prävalenz für FASD hat Südafrika, gefolgt von europäischen Ländern (3). Die Prävalenz in der Schweiz liegt bei 1 bis 2% (7). Unterschieden werden folgende Krankheitsbilder, wobei die Definitionen fliessend ineinander übergehen (Abbildung) (8, 9): n Fetales Alkoholsyndrom (FAS): Es handelt sich
um die schwerste Ausprägung der FASD. Die Tabelle zeigt die Symptome eines FAS. Die Diagnose wird klinisch bei Vorhandensein der charakteristischen Trias aus Wachstumsrückstand, kraniofazialer Dysmorphie und struktureller oder funktioneller ZNS-Störung gestellt. Das FAS umfasst zirka 10% der Patienten mit FASD, betrifft also etwa 2 von 1000 Neugeborenen. Somit handelt es sich um eine der häufigsten angeborenen Schädigungen und um die häufigste Ursache für entwicklungsneurologische Störungen. Das ist insofern tragisch, da das FAS durch präventive Massnahmen verhindert werden kann. n Partielles fetales Alkoholsyndrom (pFAS): Hier tritt nicht das Gesamtbild der körperlichen Merkmale auf. Die komplexen zerebralen Leistungsstörungen können jedoch die kognitiven und psychosozialen Fähigkeiten genauso stark beeinträchtigen wie das FAS. n Alkoholbedingte Geburtsfehler (ARBD): Diese Schädigungen an Organen und Dysmorphien treten unter der Voraussetzung eines belegten Alkoholkonsums der Mutter auf. n Alkoholbedingte neurologische Entwicklungsstörung (ARND): Diese Schädigungen betreffen hauptsächlich das ZNS (Mikrozephalie, Hirnanomalien, Probleme mit der Feinmotorik, Hörprobleme, Gangauffälligkeiten, Verhaltensauffälligkeiten wie Lern- und Leistungsprobleme, Probleme in der Sprachentwicklung, geringe Impulskontrolle, auffälliges Sozialverhalten, Konzentrationsund Gedächtnisprobleme).
Besteht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung? Die Studienlage bezüglich der negativen Folgen von schwerem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist eindeutig. 30 bis 40% der Frauen mit schwerem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft werden ein Kind mit FAS gebären (8). Bezüglich der Auswirkungen von leichtem bis moderatem Alkoholkonsum herrscht jedoch Uneinigkeit
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in der Literatur. Ein Problem dabei besteht bereits bei der Klassifikation von leichtem, moderatem und schwerem Alkoholkonsum. Beim leichten Alkoholkonsum werden zum Beispiel in einigen Studien Mengen von einem Standardglas (Definition unterschiedlich zwischen 10 bis 14 g Reinalkohol pro Glas) bis 1,5 Standardgläsern pro Tag (< 20 g Reinalkohol) angegeben, in anderen Studien wird der leichte Konsum über die Menge pro Woche definiert (z. B. 2 Gläser pro Woche oder < 32 g pro Woche). Viele Studien haben die Auswirkung von leichtem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft untersucht. Die Mehrheit der Studien hat keine Evidenz dafür gefunden, dass leichter Alkoholkonsum in der Schwangerschaft – unter Berücksichtigung der bereits erwähnten unterschiedlichen Definitionen – schädigende Auswirkungen auf den Fetus hat. Untersucht wurden Auswirkungen auf Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit, Fehlbildungen, Verhaltensprobleme oder kognitive Defizite (10–12). Eine aktuelle Studie von Long und Lebel hingegen konnte nachweisen, dass bereits die pränatale Exposition mit kleinen Mengen Alkohol (1 Standardglas/Woche) zu strukturellen Hirnveränderungen bei Kindern führt. Die gleiche Studie zeigte bei dieser kleinen Expositionsmenge gehäuftes Auftreten von externalisierendem Problemverhalten bei Kindern (z. B. aggressives oder antisoziales Verhalten) (13). Die Festlegung einer kritischen Schwellendosis wird durch folgende Faktoren weiter erschwert: n Es besteht ein Bias bei den Studien, die den Effekt von leichtem Alkoholkonsum untersucht haben: Frauen, die wenig Alkohol konsumieren, gehören – zumindest in Industrienationen – eher zur sozialökonomischen Oberschicht. In dieser Bevölkerungsgruppe werden bekanntlich bessere Schwangerschaftsverläufe und kognitive Funktionen bei den Kindern nachgewiesen. Frauen, die in der Schwangerschaft Alkohol trinken, weisen häufiger einen Nikotinabusus auf, welcher ebenfalls Auswirkungen auf den Fetus hat (z. B. niedrigeres Geburtsgewicht) (9). n Das Trinkmuster hat einen Einfluss: Spitzen im Blutalkoholgehalt (z. B. durch binge-drinking) scheinen einen stärkeren schädigenden Einfluss zu haben als die durchschnittliche Konsummenge (5, 14). n Der Zeitpunkt des Konsums in der Schwangerschaft ist relevant: Die grössten Schädigungen sind beim Konsum im ersten Trimester zu erwarten, insbesondere hinsichtlich kraniofazialer Dysmorphien, Wachstumsretardierung und Hirnschädigung. Davon ausgenommen ist die Zeit zwischen Befruchtung und Einnistung der Eizelle. Hier gilt das «Alles-oder-nichts-Prinzip», das heisst, es kommt entweder zum Abort oder zu keinen Schädigungen. Der Konsum im zweiten und dritten Trimester hat vor allem Einfluss auf das Wachstum (Gewicht) und die Entwicklung des ZNS beim Fetus. n Individuelle Einflussfaktoren: Da nicht alle Kinder von Müttern mit schwerem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ein FAS entwickeln, muss davon ausgegangen werden, dass individuelle Faktoren einen Einfluss haben. Der sozioökonomische Aspekt wurde bereits erwähnt, des Weiteren scheinen Alterseinflüsse (Risiko für FAS bei Frauen > 30 Jahre höher) und genetische Faktoren vorhanden zu sein (5).
Beratung und Prävention
Die Anamnese bezüglich Alkoholkonsum und Infor-
mation über die Auswirkungen des Alkoholkonsums
in der Schwangerschaft sollte im Idealfall bereits prä-
konzeptionell erfolgen, spätestens jedoch bei der
ersten Schwangerschaftskontrolle. Wichtig scheinen
die Enttabuisierung des Themas und das Verhindern
einer Stigmatisierung. Der Kindsvater sollte in die
Beratung einbezogen werden, da ein anhaltender
Konsum des Partners die Abstinenz der Schwange-
ren erschwert.
n Die Website www.schwangerschaft-ohne-alkohol.
ch von Sucht Schweiz bietet Informationen und
Empfehlungen für Schwangere und Fachperso-
nen an.
n Auch die Homepage www.iris-plattform.de bietet
Schwangeren und Patientinnen mit Kinderwunsch
die Möglichkeit, in anonymer Form Informationen
und Hilfestellung zu erhalten.
Wenn ein Suchtverhalten eruiert werden kann, müs-
sen der Patientin Hilfe und Entzugsbehandlungs-
möglichkeiten angeboten werden. Die Alkoholsucht
in der Schwangerschaft bedingt eine enge, interdis-
ziplinäre Betreuung mit Einbezug von Suchtbera-
tung, Sozialdienst, Neonatologie und gegebenen-
falls Psychiatrie/Psychosomatik sowie der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde.
Da bisher keine kritische Schwellendosis hinsichtlich
der pränatalen Alkoholexposition festgelegt werden
konnte, halten die Richtlinien der meisten Nationen
und Fachgesellschaften an der Empfehlung zur Alko-
holabstinenz in der Schwangerschaft fest, so auch die
Schweizer Fachgesellschaften und das BAG.
Ganz im Sinne von «better safe than sorry».
n
Dr. med. Natalie Jägli Oberärztin (Erstautorin, Korrespondenzadresse) E-Mail: natalie.jaegli@kssg.ch und
Dr. med. Tina Fischer Stv. Chefärztin, Leitende Ärztin Geburtshilfe Frauenklinik Kantonsspital St. Gallen 9007 St. Gallen
Interessenkonflikte: keine.
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Quellen: 1. Gmel G, Notari L (BAG): Alkohol- und Tabakkonsum während der Schwangerschaft in der Schweiz, Auswertung der Suchtmonitoring-Befragung 2011–2016 für das BAG August 2018. 2. Meyer-Leu Y et al.: Association of moderate alcohol use and binge drinking during pregnancy with neonatal health. Alcohol Clin Exp Res. 2011;35(9):1669-1677. 3. Popova S et al.: Estimation of national, regional, and global prevalence of alcohol use during pregnancy and fetal alcohol syndrome: a systematic review and meta-analysis. Lancet Glob Health. 2017;5:e290-e299. 4. Streissguth AP et al.: Teratogenic effects of alcohol in humans and laboratory animals. Science 1980;209:353-361. 5. Merzenich H, Lang P (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA): Alkohol in der Schwangerschaft. Ein kritisches Resümee. Eine Expertise im Auftrag der BZgA Köln 2002. 6. Pinson M et al.: Prenatal alcohol exposure contributes to negative pregnancy outcomes by altering fetal vascular dynamics and placental transcriptome. Alcohol Clin Exp Res. 2022;00:1-14. 7. www.sucht-schweiz.ch 8. https://fasd-fachzentrum.hamburg/ueber-fasd-fetale-alkoholspektrumstoerung 9. Spohr HL, Steinhausen HC: Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen – Persistierende Folgen im Erwachsenenalter. Deutsches Ärzteblatt 2008;10(41):693-698. 10. Mamluk L et al.: Low alcohol consumption and pregnancy and childhood outcomes: time to change guidelines indicating apparently «safe» levels of alcohol during pregnancy? A systematic review and meta-analyses. BMJ Open 2017;7:e015410. 11. Jacobsen JL, Jacobsen SW: Drinking moderately and pregnancy. Effects on child development. Alcohol Res Health 1999;23(1):25-30. 12. Kelly Y et al.: Light drinking in pregnancy, a risk for behavioral problems and cognitive deficits at 3 years of age? Int J Epidemiol 2009 Feb; 38(1):129-140. 13. Long X, Lebel C: Evaluation of brain alterations and behavior in children with low levers of prenatal alcohol exposure. JAMA Network Open 2022;5(4):e225972. 14. Henderson J et al.: Systematic review of the fetal effects of prenatal binge-drinking. J Epidemiol Community Health 2007;61(12):1069-1073.
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