Transkript
SCHWERPUNKT
Die Therapie der Vaginalund Uterusaplasie
Das MRKH-Syndrom: Epidemiologie, Klinik, Diagnostik, Therapie, Beratung
Das Mayer-von-Rokitansky-Küster-Hauser-(MRKH-)Syndrom ist die zweithäufigste Ursache der primären Amenorrhö in der gynäkologischen Praxis. Die genaue Ätiologie ist bis heute unbekannt. Eine Neovagina kann durch nicht operative Dehnungsverfahren, chirurgisch-plastische oder dehnungschirurgische Verfahren erzeugt werden. Das Austragen einer Schwangerschaft wird erst mit der Uterustransplantation möglich sein. Dieses Verfahren befindet sich in länderspezifisch unterschiedlichen Entwicklungsphasen.
SARA MARTIN, CORNELIA BETSCHART
Sara Martin Cornelia Betschart
Das Mayer-von-Rokitansky-Küster-Hauser-(MRKH-) Syndrom, gekennzeichnet durch eine Vaginal- und Uterusaplasie (oder -hypoplasie) bei ansonsten unauffälligem weiblichen Phänotyp, ist eine angeborene Fehlbildung des weiblichen Genitales. Diese Hemmungsfehlbildung wurde bereits im 11. Jahrhundert von Albucassis und Avicenna beschrieben, das vollständige MRKH-Syndrom ist jedoch erst seit zirka 150 Jahren bekannt. Der Name wurde 1961 nach der Komplettierung der Definition durch Hauser und Schreiner von «uterus bipartitus solidus rudimentarius cum vagina solida» in Mayer-von-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom geändert, benannt nach den Erstbeschreibern.
Einteilung und Epidemiologie
Beim MRKH-Syndrom wird zwischen zwei Formen unterschieden: I Typ I, dem isolierten Fehlen von Vagina und Ute-
rus und I Typ II, dem atypischen MRKH-Syndrom mit einer
asymmetrischen Hypoplasie einer oder beider Uterusknospen und Tubendysplasie zusätzlich zur Vaginalaplasie (1). Diese Form ist mit anderen Fehlbildungen, insbesondere des oberen Harntrakts und des Skelett-
Merkpunkte
I Das MRKH-Syndrom ist, soweit heute bekannt, keine monogenetische Erkrankung. I Klinisch zeigt sich das MRKH-Syndrom durch eine ausbleibende Menarche bei nor-
maler sekundärer Geschlechtsentwicklung. I Zur Anlage der Neovagina bestehen nicht operative Dehnungsverfahren, chirurgisch-
plastische Verfahren und dehnungschirurgische Verfahren. I Den psychologischen Aspekten ist mit viel Verständnis und Fachwissen zu begegnen.
systems, assoziiert. Die schwerste Form ist die MURCS-Association (Müllerian Renal Cervicothoracic Somite Abnormalities), bei der in seltenen Fällen auch Herzanomalien und Hörverlust vorkommen können (Tabelle 1). In der ESHRE/ESGE-Klassifikation, die sowohl auf die Uterusanomalie und als auch auf die embryologische Unterteilung ausgerichtet ist, fällt das MRKH-Syndrom in die Kategorie U5C4V4 (Tabelle 2). Hochrechnungen aus Studien zeigen eine Inzidenz des MRKH-Syndroms zwischen 1/4000 und 1/5000 der weiblichen Neugeborenen, die genaue Inzidenz ist jedoch bis heute unbekannt. Eine Studie von Rall und Kollegen zeigte eine Inzidenz von Typ I von 53,2%, von Typ II von 41,3% und von MURCS von 5,5% (4). Obwohl die Fehlbildung den seltenen Fehlbildungsformen zugeordnet wird, stellt sie die zweithäufigste Ursache der primären Amenorrhö nach der Gonadendysgenesie dar (5, 6).
Ätiologie
Die genaue Ätiologie ist bis heute unbekannt. Es wurden bereits multiple Gendefekte beschrieben, aber ein sicherer ursächlicher Zusammenhang konnte nicht hergestellt werden, und diese beschriebenen Gendefekte waren nicht bei allen betroffenen Frauen vorhanden. Familiäre Häufungen der Vaginalaplasie sind beschrieben, jedoch sprechen diskordante Genitalfehlbildungen monozygoter Zwillinge (7) gegen eine primär genetische Ursache. Diese Hemmungsfehlbildung wird durch eine inkomplette Entwicklung des Müller-Ganges (Uterus, Tuben, Zervix, kraniale zwei Drittel der Vagina) (8) verursacht. Der Müller- sowie der Wolff-Gang und das Sklerotom (woraus sich später das Skelett entwickelt) stammen embryologisch aus dem Mesoderm. Da-
6 GYNÄKOLOGIE 4/2020
SCHWERPUNKT
Tabelle 1:
Syndrome, die mit Vaginal- und Uterusdysplasie einhergehen
Syndrome MRKH I
MRKH II MURCS HNF-1β-Mutation
Mutation
Beschriebene Genloci: 1q21.1, 16p11.2, 17q12, 22q11.21, Xp22 Mögliche Genmutationen: SHOX, LHX1, TBX6, HOX, WNT4, WNT7A, WNT9B Evtl. epigenetische Veränderungen wie ICR1-Hypomethylierung Idem wie MRKH I Genetische Abgrenzung zwischen den zwei Syndromen noch unklar
–
Deletion 17q12
Klippel-Feil-Syndrom
Mutation GDF6, GDF3 oder MEOX1
Rubinstein-Taybi-Syndrom
Genvarianten: CREBBP (cyclic adenosine monophosphate response elementbinding protein) oder das E1A-assozierte Protein p300 (EP300)
* Genetics Home Reference. U.S. National Library of Medicine (8)
Zusatzfehlbildungen (Häufigkeit %) Keine
Inzidenz 1/4500
Oberer Harntrakt, z. B. unilaterale Nierenagenesie, Nierenektopie (40%)
Skelettanomalien (meist Wirbelsäule) (10%) Nierenektopie, Uterus bicornis, Skoliose, Spina bifida, Wirbelfusion HWS und LWS, Hörverlust, Herzanomalien MODY Typ 5, Nierenzysten/-dysplasie, unilaterale Nierenagenesie, tubuläre Dysfunktion, neonatale Cholestase, nicht cholestatische Lebererkrankung, Gicht, Taubheit Autismus, Entwicklungsverzögerung Kongenitale Halswirbelsynostose, Skoliose, Kyphose, Lippenspalte, Spina bifida, Sprengel-Deformität, Schallempfindungsschwerhörigkeit bis Taubheit, Nierenfehlbildungen, Herzfehlbildungen Autosomal-dominante Entwicklungsstörung Kraniofaziale Dysmorphismen, breite Daumen und Zehen, geistige Retardierung, Immunschwäche und Wachstumsdefizite
1–9/100 000 unbekannt
1/41 000*
1/100 000– 1/125 000
durch lässt sich die Assoziation zwischen urogenitalen und skeletalen Fehlbildungen in Kombination mit der Fehlbildung des Müller-Gang-Systems beim MRKH-Syndrom entwicklungsgeschichtlich erklären.
Klinik und Diagnostik
Die betroffenen Patientinnen stellen sich meist erstmalig zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr bei ausbleibender Menarche oder nach einem ersten frustranen Kohabitationsversuch in der gynäkologischen Praxis vor. Die sekundären Geschlechtsmerkmale sind typischerweise normal ausgebildet. Die Ovarien sind ebenfalls normal angelegt und funktionsfähig. In seltenen Fällen klagen Patientinnen über zyklusabhängige Schmerzen, die auf Dysmenorrhö bei einem funktionsfähigen Endometrium eines rudimentären Uterus oder auf peritoneale Endometriose zurückzuführen sind (9). Die Untersuchung der Patientin zeigt ein normales äusseres Genitale mit einer nur rudimentär angelegten Vagina, die nach 1 bis 2 cm blind endet. Bei der Rektalpalpation kann kein Uterus getastet werden.
Die Transabdominalsonografie bei voller Blase bestätigt einen fehlenden oder rudimentären und sehr kleinen Uterus. Die Ovarien sind morphologisch unauffällig, loco typico mit regelrechter Follikelreifung. Eine sorgfältige Anamnese und eine klinische Untersuchung auf weitere Fehlbildungen sind zu empfehlen. Bei Auftreten von weiteren Fehlbildungen ist eine genetische Untersuchung in Erwägung zu ziehen. Die Chromosomenanalyse wird von den Krankenkassen erstattet. In Zukunft könnte im Hinblick auf die Uterustransplantation die genetische Abklärung für die Patientinnen an Bedeutung gewinnen und sollte aus ethischer Sicht in die Familienplanung einbezogen werden. Wie Tabelle 1 zeigt, sind die Genloci für die verschiedenen Erkrankungen noch nicht alle bekannt. Diese Überlegungen gilt es auch vor einer Leihmutterschaft mit der Patientin zu diskutieren.
Differenzialdiagnose
Die Differenzialdiagnosen der primären Amenorrhö mit normalen sekundären Geschlechtsmerkmalen sind einerseits das Transversalseptum oder die
GYNÄKOLOGIE 4/2020
7
SCHWERPUNKT
Tabelle 2:
Einteilung der Müller’schen Fehlbildungen nach ESHRE/ESGE (adaptiert nach [3])
Anomalien des weiblichen Genitaltrakts Klassifikation der ESHRE* der und ESGE**
Name:
Geburtsdatum:
Diagnostische Methode:
Uterusanomalie
Hauptklasse
Unterklasse
U0 Normal uterus
U1 Dymorphic uterus a. T-shaped
b. Infantilis
c. Others
U2 Septate uterus
a. Partial
b. Complete
U3 Bicorporeal uterus a. Partial
b. Complete
c. Bicorporeal septate
U4 Hemi-uterus
a. With rudimentary cavity
(communicating or not horn)
b. Without rudimentary cavity
(horn without cavity/no horn)
U5 Aplastic
a. With rudimentary cavity
(bi- or unilateral horn)
b. Without rudimentary cavity
(bi- or unilateral uterine remnants/aplasia)
U6 Unclassified malformations
U
Zervikale/vaginale Anomalie Koexistierende Klasse
C0 Normal cervix C1 Septate cervix C2 Double «normal» cervix C3 Unilateral cervical aplasia C4 Cervical aplasia
V0 Normal vagina V1 Longitudinal non-obstructing
vaginal septum V2 Longitudinal obstructing
vaginal septum V3 Transverse vaginal septum
and/or imperforate hymen V4 Vaginal aplasia
ZV
Assoziierte Anomalien, nicht ursächlich für Müller-Fehlbildungen:
* European Society of Human Reproduction and Embryology ** European Society of Genital Endoskopie
Hymenalatresie und andererseits ein komplettes Androgeninsensitivitätssyndrom, welche sich aufgrund der unterschiedlichen Symptomatik differenzieren. Patientinnen mit einem Transversalseptum oder einer Hymenalatresie stellen sich häufig mit Schmerzen, die durch den Aufstau von Menstrualblut verursacht werden, und/oder einem Abdominaltumor vor. In der Präpubertät kann die Unterscheidung schwierig sein, da die Hymenalplatte bei der Hymenalatresie und die Vaginalplatte vom MRKH-Syndrom fast identisch sein können. Beim Androgeninsensitivitätssyndrom sind die in den Gonaden produzierten Androgene aufgrund eines Androgenrezeptordefekts (bei männlichem Karyotyp 46, XY) in der Peripherie nicht wirksam, was zu einem phänotypisch weiblichen äusseren Genitale führt. Das Anti-Müller-Hormon ist normal und löst die Regression der Müller-Gänge aus, weshalb Uterus, Tuben und die proximale Vagina nicht angelegt sind. Die Brustentwicklung der Patientinnen kann durch die Androgene, die im peripheren Fettgewebe in Östrogene umgewandelt werden, erklärt werden. Die Pubarche bleibt im Gegensatz zum MRKH-Syndrom jedoch aus, und die Scham- und die Axillarbe-
haarung sind minimal. Ein wichtiges Merkmal zur Differenzierung der beiden Fehlbildungen betrifft das Vorhandensein der Ovarien beim MRKH-Syndrom. Ein Fallbericht aus den USA beschreibt die Fehldiagnose eines MRKH-Syndroms aufgrund der irrtümlichen Beurteilung der Tests als Ovarien, was zu einem Verzicht der Karyotypisierung führte (10).
Therapie
Im Vordergrund der Therapie des MRKH-Syndroms steht die Anlage einer Neovagina mit anatomisch korrekter Lage und adäquater Länge und Weite mit Lubrikations- und Kohabitationsfähigkeit. Damit soll eine normale Sexualität ermöglicht werden. Derzeit gibt es über 100 verschiedene Methoden zur Anlage einer Neovagina, die sich durch die Behandlungsdauer, die Risiken und Langzeitergebnisse unterscheiden. Die Methoden können in drei Hauptgruppen unterteilt werden: I nicht operative Dehnungsverfahren, I chirurgisch-plastische Verfahren und I dehnungschirurgische Verfahren.
8 GYNÄKOLOGIE 4/2020
SCHWERPUNKT
Die Infertilität, ein wichtiger Aspekt, kann jedoch durch die Anlage einer Neovagina nicht therapiert werden. Das Austragen einer Schwangerschaft ist nur nach Uterustransplantation möglich. 2014 war erstmalig nach Uterustransplantation in einem schwedischen Transplantationsteam eine Lebendgeburt möglich. Im Jahr 2018 erfolgte die erste Geburt eines Kindes nach Transplantation eines Uterus einer hirntoten Spenderin in Brasilien. Weltweit gibt es über 20 Uterustransplantationszentren (11). In der Schweiz wird über die Uterustransplantation diskutiert. Der ideale Zeitpunkt für die Anlage einer Neovagina ist nach Ende der Pubertätsentwicklung bei ausreichender Östrogenproduktion und bei Wunsch der Patientin nach Geschlechtsverkehr. Die Therapie setzt Einwilligungsfähigkeit, Mitsprache und Verständnis der Patientin voraus und wird nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch durchgeführt. Wenn die Operation zu früh durchgeführt wird, sind die Risiken für Versagen, Traumatisierung der Betroffenen sowie Zweiteingriffe zum Erhalt der Vagina erhöht. Unabhängig davon, ob konservative oder operative Verfahren zur Anwendung kommen, bedarf es der Vaginaldilatation, deren Umsetzung jüngeren Frauen nicht selten Mühe bereitet und das Ergebnis gefährdet.
Nicht operative Dehnungsverfahren Die Dilatationsmethode nach Frank ist ein nicht operatives Dehnungsverfahren, das im Jahr 1938 erstmalig beschrieben wurde. Mit Druckausübung auf das Vaginalgrübchen mittels stumpfem Dilatator kann sich innerhalb von 2 bis 24 Monaten eine kohabitationsfähige Vagina bilden. Das Verfahren wurde später von Ingram modifiziert (12), indem Dilatatoren verwendet und diese auf einem Hocker mit Fahrradsattel befestigt wurden. Diese Methode zeigt in der Literatur eine hohe Erfolgsquote von 70 bis 90% (13), erzeugt keine Narben und ein physiologisches Vaginalmilieu; die Methode ist aber sehr zeitaufwendig. Bei Patientinnen mit fehlendem Scheidengrübchen oder Zentralisierung des Meatus urethrae externus sind diese Methoden nicht geeignet.
Chirurgisch-plastische Verfahren Zu den chirurgisch-plastischen Verfahren zählen unter anderem die Methode nach McIndoe und Banister, die Wharton-Shears-Methode, die Vulvovaginalplastik nach Williams und die intestinale Vaginalplastik. Die häufigste Operationsmethode im angloamerikanischen Sprachraum, die Methode nach McIndoe und Banister (1938) (14), verwendet Spalthautlappen von der Vorderseite des Oberschenkels oder vom Gesäss zur Bildung einer Vagina. Durch Transplantation oberflächlicher Dermisanteile kann die Granulisation offener Wunden verhindert werden. Das Spatium vesikorektale wird operativ gedehnt, und der
Spalthautlappen (Neovagina) wird auf eine Prothese gestülpt und in die Wundhöhle gelegt. Das distale Ende wird am Introitus befestigt, und die Labien werden zusammengenäht, um die Prothese in situ zu halten. Nach zwei Wochen wird die Prothese entfernt. In den ersten sechs Monaten muss jedoch weiterhin eine Prothese getragen werden, bis keine Schrumpfung der Neovagina mehr nachzuweisen ist. Mit lokaler Östrogenisierung und täglicher Bougierung mit einem Hegarstift ist eine Kohabitation nach vier Wochen bereits möglich. Die Wharton-Shears-Methode verwendet die rudimentären Müller-Gänge nach Dilatation mit feinen Hegarstiften als Orientierungs- und Leitstruktur während der Einlage eines perinealen Hautlappens in das operativ präformierte Spatium vesikorektale. Die Neovagina wird mittels Prothese offen gehalten, und die Epithelialisierung geht von Enden des Grafts sowie vom Introitus aus. Das ist eine relativ einfache und sichere Methode, die kein spezielles Instrumentarium benötigt, kaum Narben bildet und mit geringen Schmerzen verbunden ist. Bei Schrumpftendenz der Neovagina sind im Anschluss vaginale Dilatationsbehandlungen notwendig. Eine Einschränkung dieser Methode ist die verminderte Lubrikation des Gewebes. Die Vulvovaginalplastik nach Williams wird häufig nach Versagen der Operation nach McIndoe bei Vaginalatresie, Intersexualität und bei Status nach Wertheim-Operation mit ausgedehnter Entfernung der Vagina angewendet. Nach Spreizen der Labia minora wird eine u-förmige Inzision, beginnend an der hinteren Kommissur nach ventral innerhalb der Haarlinie bis zu einem Punkt ventral und 4 cm lateral des Meatus urethrae externae, gesetzt. Der Musculus bulbocavernosus und die Perinealmuskulatur werden freigelegt, und die beiden inneren Schenkel der u-förmigen Inzision werden dreischichtig vereinigt, beginnend am Perineum. Nach dieser Methode ist eine vaginale Untersuchung nach sechs Wochen bereits möglich; zu beachten sind die abnorme Lage der Vagina und die Einmündung der Harnröhre in die vordere Vaginalwand, was zu Kohabitationsbeschwerden und zu einer Urinretention in der Vaginaltasche führen kann. Bei der intestinalen Vaginalplastik ersetzt ein durchblutetes Stück Kolon oder Ileum die Vagina. Diese Methode ermöglicht postoperativ eine Neovagina mit ausreichend Platz, weist aber die höchste Invasivität auf und ist mit Risiken durch die notwendige Anastomosierung des Darms am Perineum verbunden. Die Patientinnen können einen unangenehmen, mukösen Ausfluss beklagen und müssen präoperativ darauf hingewiesen werden. Auch müssen sich die Patientinnen in regelmässige Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen begeben, und Stenosen sowie Prolaps der Neovagina können auftreten.
GYNÄKOLOGIE 4/2020
9
SCHWERPUNKT
1a 1b
tinnen sehr schmerzhaft und benötigt eine Epiduraloder Periduralanästhesie inklusive einer Zystofix-Einlage während der Zeit der Dehnung. Nach Austritt ist es entscheidend, dass die Patientin weiterhin die Scheide regelmässig dehnt, bis sie ganz epithelialisiert ist. Ohne vaginalen Geschlechtsverkehr hat auch die Neovagina nach Vecchietti (wie alle anderen Dehnungstechniken) die Tendenz zu schrumpfen. Ein Nachteil dieser Methode ist das erhöhte Risiko für urogynäkologische Probleme durch die Veränderung der Beckenbodenanatomie (16). Bei symptomatischen Patientinnen mit Dysmenorrhö oder Endometriose ist intraoperativ die Entfernung der rudimentären Uterushörner und der Endometrioseherde empfohlen.
1d
1c
Abbildungen 1a bis 1d: Intraoperative Bilder: rudimentäres Uterushorn links (1a), Vecchietti-OP: Uterusaplasie mit intraoperativ subperitoneal durchgezogenen Fäden (Pfeile) (1b), Spannapparat nach Vecchietti mit Zystofix (1c), Neovagina 8 Wochen postoperativ mit apikal Granulationsgewebe (1d).
Dehnungschirurgische Verfahren Die Operationsmethode nach Vecchietti (1965) kombiniert die konservative Dilatationsmethode nach Frank mit einem operativen Verfahren. Eine Kunststoffolive (2 cm Durchmesser) wird in das Vaginalgrübchen eingeführt, auf nicht resorbierbaren Fäden montiert, durch die Abdominalwand gezogen und auf Höhe des Bauchnabels herausgeführt. Durch kontinuierlichen Zug mit täglichem Anziehen kann in 7 bis 10 Tagen eine Neovagina mit einer Länge von 8 bis 10 cm erzielt werden (Verlängerung von ca. 1 cm pro Tag). Die operative Fixierung wurde bei der Originalmethode via Pfannenstiel durchgeführt, heutzutage via Laparoskopie (15). 1985 wurde die Olive durch ein Steckphantom mit zentralem Kanal ersetzt, was den Ablauf von Wundsekret erlaubt und die Spülung der Neovagina ermöglicht (Abbildung 1c). Das Dehnungsverfahren ist für einen Grossteil der Patien-
Psychologische Aspekte und Sexualität
Die psychologischen Aspekte des MRKH-Syndroms
sind nicht zu unterschätzen. Bei Erstdiagnose sind
die Patientinnen meist in der vulnerablen Phase der
Pubertät. Das kann zu einer Beeinträchtigung des
weiblichen Selbstwertgefühls, zu Verlust des Selbst-
vertrauens, Schock, reaktiven Depression, Angst,
Schuld, Ärger bis zu Suizidgedanken führen. Eine
engmaschige Betreuung und ein unterstützendes
Umfeld in den Monaten nach Diagnosestellung sind
essenziell (17). Selbsthilfegruppen können für Betrof-
fene eine grosse Unterstützung sein. Die Operation
hat einen positiven Einfluss auf das Selbstvertrauen
der Patientin, und eine erfolgreiche Therapie fördert
das Gefühl der Autonomie. Hinzu kommt die Proble-
matik der Sterilität, die durch die herkömmlichen
Operationsmethoden unbeeinflusst bleibt. Nicht sel-
ten entscheiden sich die Frauen bei Wunsch nach ei-
nem genetisch eigenen Kind für eine Leihmutter-
schaft, welche in der Schweiz nicht zugelassen ist und
die Paare ins Ausland reisen lässt.
Die Sexualität nach Anlage einer Neovagina wird
nach der anfänglichen ängstlichen Phase im Allge-
meinen im Verlauf als positiv bewertet, ohne dass ein
signifikanter Unterschied zur Normalbevölkerung er-
kennbar ist (18, 19).
I
Dr. med. Sara Martin PD Dr. med. Cornelia Betschart
Klinik für Gynäkologie Universitätsspital Zürich 8091 Zürich E-Mail: cornelia.betschart@usz.ch
Interessenkonflikte: keine.
10 GYNÄKOLOGIE 4/2020
SCHWERPUNKT
Quellen: 1. Strübbe EH, Lemmens JA, Thijn CJ, Willemsen WN, van Toor BS.: Spinal abnormalities and the atypical form of the Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser syndrome. Skeletal Radiol. 1992; 21(7): 459–462. 2. Genetics Home Reference. U.S. National Library of Medicine 3. Grimbizis GF, Gordts S, Di Spiezio Sardo A, et al.: The ESHRE/ESGE consensus on the classification of female genital tract congenital anomalies. Hum Reprod. 2013; 28(8): 2032–2044. 4. Rall K, Eisenbeis S, Henninger V, et al.: Typical and Atypical Associated Findings in a Group of 346 Patients with Mayer-Rokitansky-Kuester-Hauser Syndrome. J Pediatr Adolesc Gynecol. 2015; 28(5): 362–368. 5. Bean EJ, Mazur T, Robinson A.: Mayer-Rokitansky Küster Hauser Syndrome: Sexuality, Psychological Effects and Quality of Life. J Pediatr & Adolesc Gynecol. 2009; 22: 339–346. 6. Brucker SY, Oppelt P, Ludwig KS, Wallwiener D, Beckmann MW.: Vaginale und uterine Fehlbildungen – Teil 2 Geb Frauenh. 2005; 66(11): R221–R224. 7. Regenstein AC, Berkeley AS.: Discordance of muellerian agenesis in monozygotic twins. A case report. J Reprod Med 1991; 36: 396–397. 8. Morcel K, Camborieux L, Guerrier D.: Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser (MRKH) syndrome. Orphanet J Rare Dis. 2007; 2, 13. 9. Troncon JK, Zani AC, Vieira AD, Poli-Neto OB, Nogueira AA, Rosa-E-Silva JC.: Endometriosis in a patient with Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser syndrome. Case Rep Obstet Gynecol. 2014; 2014: 376231. 10. Mazur T.: Complete androgen insensitivity, Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser and misdiagnosis. J Pediatric Endocrinol. 2018; 3(1): 1023. 11. Lavoué V, Vigneau C, Duros S, et al.: Which Donor for Uterus Transplants: BrainDead Donor or Living Donor? A Systematic Review. Transplantation. 2017; 101(2): 267–273. 12. Ingram JM.: The bicycle seat stool in the treatment of vaginal agenesis and stenosis: a preliminary report. Am J Obstet Gynecol. 1981; 140(8): 867–873. 13. Callens N, De Cuypere G, De Sutter P, et al.: An update on surgical and nonsurgical treatments for vaginal hypoplasia. Hum Reprod Update. 2014; 20(5): 775–801. 14. McIndoe A, Banister J.: An Operation for the Cure of Congenital Absence of the Vagina. BJOG, Intern J Obst Gynaecol. 1938; 45(3): 490–494. 15. Khater E, Fatthy H.: Laparoscopic Vecchietti vaginoplasty. J Am Assoc Gynecol Laparosc. 1999; 6(2): 179–182. 16. Adamiak-Godlewska A, Skorupska K, Rechberger T, Romanek-Piva K, Miotla P.: Urogynecological and Sexual Functions after Vecchietti Reconstructive Surgery. Biomed Res Int. 2019; 2019: 2360185. Published 2019, Feb 25. 17. Poland ML, Evans TN.: Psychologic aspects of vaginal agenesis. J Reprod Med. 1985; 30(4): 340–344. 18. Nadarajah S, Quek J, Rose GL, Edmonds DK.: Sexual function in women treated with dilators for vaginal agenesis. J Pediatr Adolesc Gynecol. 2005; 18(1): 39–42. 19. Fliegner M, Krupp K, Brunner F, et al.: Sexual life and sexual wellness in individuals with complete androgen insensitivity syndrome (CAIS) and Mayer-RokitanskyKüster-Hauser Syndrome (MRKHS). J Sex Med. 2014; 11(3): 729–742.
GYNÄKOLOGIE 4/2020
11