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SCHWERPUNKT
Neue Leitlinie: Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
Diagnostik und Therapie – ein Update von DGGG, SGGG, OeGGG*
Interdisziplinär, interprofessionell und von Experten in drei Ländern ist die Leitlinie «Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen» gerade umfassend überarbeitet und auf den nächsten Evidenzgrad (S2k) angehoben worden. Erstmals wurden neben einer erweiterten Definition der Präeklampsie die beiden Biomarker sFlt-1 (soluble Fms-like tyrosine kinase-1) und PlGF (Placental Growth factor) beziehungsweise der sFlt-1/PlGF-Quotient einbezogen. Dazu wurde auf das postpartale Management und die Nachsorge nach Präeklampsie ein weiterer Schwerpunkt gesetzt.
OLAV LAPAIRE1, HANNA BAUMANN1, MARC BAUMANN2, LUIGI RAIO2
Olav Lapaire Hanna Baumann
Hypertensive Erkrankungen treten in 6 bis 8% aller Schwangerschaften auf, tragen zu 20 bis 25% der perinatalen Mortalität der Un-/Neugeborenen bei und sind in Europa ebenfalls wesentlich für die mütterliche Mortalität verantwortlich. Maternale Komplikationen können in allen Organsystemen vorkommen und in Kombination mit kardiovaskulärer, zerebraler, hämatologischer oder pulmonaler Beteiligung bis zum Leber- und Nierenversagen führen. Daneben müssen die Langzeitfolgen von kardiovaskulären Erkrankungen berücksichtigt werden, da Frauen mit einer Präeklampsie in der Vorgeschichte ein vierfach erhöhtes Risiko für eine spätere arterielle Hypertonie und ein zweifach erhöhtes Risiko für eine ischämische Herzerkrankung, einen Schlaganfall oder Thromboembolien haben. Da zurzeit eine kausale Therapie zur Behandlung einer Präeklampsie fehlt, richtet sich der Schwerpunkt der Bemühungen auf die Senkung der maternalen und fetalen/neonatalen Morbidität und Mortalität sowie auf eine frühe Risikostratifizierung und das möglichst frühzeitige Erkennen von klinischen Sym-
ptomen. Für Frauen mit einem hohen Präeklampsierisiko wird der Einsatz von niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) zur Sekundärprophylaxe empfohlen.
Die Parameter zur Risikostratifizierung
Die Risikostratifizierung erfolgt im 1. Schwangerschaftstrimenon mittels eines Algorithmus, welcher folgende Parameter beinhaltet: I maternale Faktoren I Anamnese I mittlerer arterieller Blutdruck (MAP) I Pulsatilitätsindex der uterinen Arterien (UTPI) so-
wie I Biomarker wie PlGF und (optional) PAPP-A (preg-
nancy-associated plasma protein A). Ist das Risiko für eine frühe Präeklampsie (< 37. Schwangerschaftswoche [SSW]) grösser als 1:100, wird täglich niedrig dosierte ASS ab der 11. (bis 14.) bis zur 36. SSW empfohlen. Die empfohlene ASSDosierung beträgt 100 bis 150 mg, einzunehmen jeweils am Abend. Zusätzlich sollte die Schwangere in eine erfahrene Risikoschwangerschaftsbetreuung eingeschleust werden.
Merkpunkte
I Die neue Definition der Präeklampsie berücksichtigt neben einer arteriellen Hypertonie ≥ 140/90 mm Hg in der zweiten Schwangerschaftshälfte neu auftretende Organmanifestationen, welche keiner anderen Ursache zugeordnet werden können.
I Eine Proteinurie wird heute nicht mehr zwingend für die Diagnose einer Präeklampsie gefordert.
I Die Betreuung nach Präeklampsie kann postpartal in eine kurzfristige, mittelfristige und langfristige Phase eingeteilt werden.
I Im Beratungsgespräch sollten die Notwendigkeit von guter Blutdruckeinstellung, Blutdruckselbstmessung, die weitere ärztliche Betreuung sowie die Wiederholungs- und Langzeitrisiken thematisiert werden.
Erweiterte Definition der Präeklampsie
Bei der Überarbeitung der Leitlinie zur Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen wurden auch die Empfehlungen amerikani-
* Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OeGGG)
1 Frauenklinik, Universitätsspital Basel 2 Frauenklinik, Universitätsspital Bern
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scher, kanadischer, australischer und britischer Fachgesellschaften sowie der International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) berücksichtigt, mit welchen die bisherige Definition einer Präeklampsie (Blutdruck ≥ 140/90 mmHg in Kombination mit einer Proteinurie ≥ 300 mg/Tag oder einem Protein/Kreatinin-Quotienten ≥ 30 mg/mmol) wesentlich erweitert wurde. In der neuen Definition der Präeklampsie werden neben einer arteriellen Hypertonie ≥ 140/90 mmHg ebenfalls neu auftretende Organmanifestationen in der zweiten Schwangerschaftshälfte, welche keiner anderen Ursache zugeordnet werden können, berücksichtigt. Als Organmanifestationen gelten die in der Tabelle aufgelisteten Veränderungen (1). Dazu gehört zum Beispiel auch ein erhöhter sFlt-1/ PlGF-Quotient als Ausdruck einer Präeklampsie (2). Das Vorliegen einer Proteinurie ist also nicht mehr zwingend für die Diagnose einer Präeklampsie erforderlich. Weiterhin wird in der aktualisierten Leitlinie die Propf-Präeklampsie nicht mehr separat aufgeführt.
Das postpartale Management und die Nachsorge nach Präeklampsie
Beide wichtigen Aspekte haben in der aktualisierten Leitlinie viel Aufmerksamkeit erhalten, da die Betreuung einer Frau nach Präeklampsie in der postpartalen Phase vielschichtig ist und nicht nur die Förderung der Mutter-Kind-Beziehung beinhaltet. Vielmehr müssen auch I die Überwachung der kardiovaskulären Verände-
rungen zur Vermeidung einer Exazerbation der hypertensiven Erkrankung und I langfristig die Suche nach Ursachen I den Ausschluss von zusätzlichen kardiovaskulären Risikofaktoren und I die Beratung im Hinblick auf die Familienplanung in den Vordergrund rücken. Das langfristige Ziel muss die Reduktion des kardiovaskulären Risikos sein. Diese kann nur durch gezielte Beratung und entsprechende Anpassungen der Lebensführung sowie regelmässige Kontrollen des Gesundheitszustandes im weiteren Verlauf des Lebens erreicht werden. Da die Betreuung der Frau nach Präeklampsie zeitlich unterteilt werden sollte und die jeweiligen Inhalte angepasst werden müssen, haben sich die Autoren entschlossen, die Betreuung in eine kurzfristige, mittelfristige und langfristige Phase zu gliedern.
Die kurzfristige Betreuungsphase Die kurzfristige Phase beginnt mit der Geburt und endet mit der Entlassung der Frau aus dem stationären Bereich. Hier sollte die Überwachung engmaschig erfolgen, da bei hypertensiven Schwanger-
Tabelle:
Organveränderungen bei Präeklampsie (1)
Renal I Proteinurie ≥ 300 mg/Tag I Protein/Kreatinin ≥ 30 mg/mmol (oder Urinstix > 1+) I Serum Kreatinin > 90 µmol/L I Oligurie < 80 mL/4 Stunden
Hämatologische Veränderungen I Thrombozytopenie < 100 G/L I Hämolyse: Nachweis mindestens eines Hämolyseparameters
(z.B. Schistozyten oder Fragmentozyten, Haptoglobin < 0,3 g/L, LDH zweifach über der Referenz bzw. > 650 U/L)
Hepatisch I Oberbauchschmerzen I Transaminasenerhöhung (zweifach über der Referenz)
Neurologische Auffälligkeiten I Kopfschmerzen I Sehstörungen, Visusstörungen bis zur Blindheit I Hyperreflexie, Kloni I Konvulsionen (Eklampsie) I Apoplex
Pulmonal I respiratorische Insuffizienz I Pleuraerguss I Lungenödem I plazentar I Hinweise für eine Plazentainsuffizienz mit fetaler Wachstums-
restriktion entsprechend der Leitlinie IUGR (8)
Präeklampsie-spezifische Systeme I Veränderung der angiogenen/antiangiogenen Faktoren
(z.B. sFlt-1/PlGF)
schaftserkrankungen das Risiko einer Exazerbation bis zu 7 Tagen postpartal besteht (3). In den meisten Fällen (in bis zu 85%) normalisiert sich der arterielle Blutdruck in der ersten Woche. In der unmittelbaren postpartalen Periode sollte jedoch jede Patientin mit Präeklampsie vierstündlich bis zur Stabilisierung überwacht werden (4). Bei einer Gestationshypertonie sollte eine tägliche Blutdruckmessung für die ersten 2 Tage postpartal und nach klinischer Einschätzung erfolgen. Im weiteren Verlauf sollte eine Überwachung des Blutdruckes für mindestens 12 Wochen im ambulanten Setting erfolgen. Liegt eine arterielle Hypertonie vor, sollte der Blutdruck postpartal konsequent auf Werte < 140/90 mmHg gesenkt werden. Darüber hinaus ist im Wochenbett zu beachten, dass ein HELLP-Syndrom bei bis zu 30% der Patientinnen postpartal und ein eklamptischer Anfall in bis zu 28% der Fälle nach der Geburt auftritt (5). Ein grosser Stellenwert kommt im Wochenbett dem Aufbau der Mutter-Kind-Bindung zu. Um diese zu fördern, gerade nach traumatisch erlebten Geburten, sollte postnatal ein möglichst zeitnaher Kontakt zum
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Neugeborenen ermöglicht werden und den Müttern die maximale Unterstützung angeboten werden. Am Ende des Wochenbettaufenthaltes sollte ein ausführliches Abschlussgespräch mit der Patientin und ihrem Partner über die Erkrankung und die Notwendigkeit einer guten Blutdruckeinstellung und Blutdruckselbstmessung erfolgen.
Die mittelfristige Betreuung Die mittelfristige Phase betrifft vor allem die Patientinnen, welche auch nach der Entlassung aus der Klinik eine antihypertensive Therapie benötigen. Bei den meisten Frauen kann die antihypertensive Medikation 2 bis 3 Wochen nach Entlassung ausgeschlichen werden. Sollte sich der Blutdruck nicht binnen 3 Monaten normalisiert haben, sollte eine Vorstellung bei einem erfahrenen Internisten/Kardiologen erfolgen.
Die langfristige Betreuung Die langfristige Phase betrifft vor allem Frauen, welche eine frühe Form der Präeklampsie (Entbindung < 34. SSW) oder eine schwer verlaufende Präeklampsie durchgemacht haben. Sie weisen ein deutlich höheres Risiko auf, später eine kardiovaskuläre Erkrankung zu entwickeln und/oder ein Rezidiv einer Präeklampsie in einer Folgeschwangerschaft zu erleiden. Weniger ausgeprägt sind diese Risiken für Frauen, die eine spätere Form (Entbindung > 34. SSW) hatten, doch auch bei Ihnen konnte eine signifikante Assoziation gezeigt werden (6).
Weitere Massnahmen
Die weiterführenden Abklärungen haben einerseits zum Ziel, nach möglichen sekundären Ursachen für die Präeklampsie zu suchen (bzw. diese auszuschliessen), und andererseits nach anderen zusätzlichen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Komplikationen – neben der Präeklampsie, welche die Patientin durchgemacht hat – zu fahnden. Die Resultate sollten wenn möglich 3 bis 6 Monate postpartal erhoben
und idealerweise zusammen mit einem in der Betreu-
ung von Schwangeren und Wöchnerinnen erfahre-
nen Internisten/Kardiologen diskutiert werden.
Im weiteren Verlauf ihres Lebens sollten Patientinnen
mit Status nach Präeklampsie in regelmässigen Inter-
vallen nach weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren
untersucht werden. Hierbei sollten der Blutdruck, der
Nüchternglukosewert und der Lipidstatus gemessen
und der Body-Mass-Index bestimmt werden (7).
Die langfristige Gesunderhaltung der Mutter hat un-
seres Erachtens einen enormen Einfluss auf die Fami-
lie und nicht zuletzt auf die Gesellschaft. Nutzen wir
diese einmalige Chance!
I
Prof. Dr. med. Olav Lapaire E-Mail: olav.lapaire@usb.ch
Dr. med. Hanna Baumann E-Mail: hannaelise.baumann@usb.ch
Universitäts-Frauenklinik Basel Universitätsspital 4031 Basel
Interessenkonflikte: Olav Lapaire hat an Advisory Boards von Roche Diagnostics teilgenommen und erhielt Honorare für Beratungstätigkeit von Roche Diagnostics.
Quellen: 1. Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie. https: //www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-018.html 2. Schlembach D, Verlohren S, Klein E, Lapaire O, Ramoni A, Stepan H.: Der sFlt1/PlGF-Quotient in Prädiktion und Diagnostik der Präeklampsie. Frauenarzt. 2015; 56(10): 858–865. 3. Magee LA, Pels A, Helewa M, Rey E, von Dadelszen P.: Canadian Hypertensive Disorders of Pregnancy Working Group. Diagnosis, evaluation, and management of the hypertensive disorders of pregnancy: executive summary. J Obstet Gynaecol Can. 2014 May; 36(5): 416–441. 4. Moroz LA, Simpson LL, Rochelson B.: Management of severe hypertension in pregnancy. Semin Perinatol. 2016; 40(2): 112–118. 5. Sibai BM.: Diagnosis, prevention, and management of eclampsia. Obstet Gynecol. 2005; 105(2): 402–410. 6. Brown MC, Best KE, Pearce MS, Waugh J, Robson SC, Bell R.: Cardiovascular disease risk in women with pre-eclampsia: systematic review and meta-analysis. Eur J Epidemiol. 2013; 28(1): 1–19. 7. Lowe SA, Bowyer L, Lust K, McMahon LP, Morton MR, North RA et al.: The SOMANZ Guidelines for the Management of Hypertensive Disorders of Pregnancy 2014. Aust N Z J Obstet Gynaecol. 2015; 55(1): 11–16. 8. Kehl S, Dotsch J, Hecher K, Schlembach D, Schmitz D, Stepan H et al.: Intrauterine Growth Restriction. Guideline of the German Society of Gynecology and Obstetrics (S2k-Level, AWMF Registry No. 015/080, October 2016). Geburtshilfe Frauenheilkd 2017; 77(11): 1157–1173.
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