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KONGRESSBERICHT
EAU 2019 – Jahreskongress der European Association of Urology, Barcelona, 15. bis 19. März 2019
Überaktive Blase
Möglichkeiten für einen verbesserten Behandlungserfolg
Typischer Fall in der Praxis: Die Lebensqualität des Patienten mit überaktiver Blase ist beeinträchtigt – trotz des Umstands, dass er in Behandlung ist. Was läuft schief? Worauf kann geachtet werden, damit die Therapie effizienter wird? Welche Therapieoptionen gibt es?
In der Therapie der überaktiven Blase (OAB; overactive bladder) stehen einige Präparate mit unterschiedlichen Wirkmechanismen wie beispielsweise Anticholinergika und Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten zur Verfügung. Eines ist ihnen gemeinsam: Die Adhärenz zur Therapie sei leider denkbar schlecht, zitiert Prof. Martin Michel, Institut für Pharmakologie, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz (D), die allgemeine Auffassung. Denn die Toleranz für Nebenwirkungen bei nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen ist tief.
Häufige Probleme: Nebenwirkungen, bleibende Beschwerden
Anticholinergika wirken in der Regel gut, verursachen aber einen trockenen Mund und beeinträchtigen je nach Präparat auch die Kognition. Die Nebenwirkungen von Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten sind in der Regel fast auf Plazeboniveau, selten verursachen sie kardiovaskuläre Effekte wie unter Mirabegron (Hypertonie 5,2%; Tachykardie 1,2%), so Michel. Das zweite Problem ist die Tatsache, dass sehr viele Patienten unter Therapie nicht symptomfrei werden und deshalb mit der Zeit die Therapie abbrechen. In einer Untersuchung mit einem unter anderem in Deutschland erhältlichen Anticholinergikum (Proverin) bei 1070 weiblichen und männlichen Patienten mit OAB zeigte sich, dass nach 12 Wochen Therapie nur gerade bei etwa 17% der Patientinnen und Patienten die Drangsymptomatik verschwand, die Frequenz sank bei 43%, die Inkontinenz verschwand bei 38%, die Nykturie jedoch nur bei 8%. Die Chance auf Symptomfreiheit war demnach am grössten bei der Miktionshäufigkeit und der Inkontinenz, mittelmässig beim Drang und am kleinsten bei der Nykturie. Weniger Symptome als bei der
Ausgangslage, jüngeres Alter und weibliches Geschlecht steigerten die Chance auf Therapieerfolg (1), fasste Michel die am EAU-Kongress präsentierte Studie zusammen.
Den Symptomkomplex im Auge behalten
Innerhalb der Substanzklassen sieht Michel wenig Möglichkeiten zur Verbesserung. Daher sei es enorm wichtig, die Patienten über die Erfolgschancen der Therapie adäquat aufzuklären, damit keine überzogene Erwartungshaltung entstehe. Die Enttäuschung über eine ausbleibende komplette Symptombeseitigung veranlasse viele Patienten, die Langzeittherapie zu stoppen. OAB ist ein Symptomkomplex, der durch unterschiedliche Erkrankungen induziert werden kann. Die fundierte Abklärung der Pathophysiologie und die Messung von Biomarkern mit entsprechender Therapie könnten demnach die Chance auf Erfolg bei der OAB-Therapie erhöhen.
Option Kombinationstherapie
Eine Möglichkeit, den Therapieerfolg zu steigern, besteht in der Kombination verschiedener Substanzklassen. Dadurch liessen sich ein synergistischer oder additiver Effekt herstellen wie auch die Nebenwirkungen verringern, weil tiefere Dosierungen der einzelnen Komponenten möglich seien, erklärte Urologe Prof. Frank van der Aa, Universitätsspital UZ Leuven (B). Die Kombination von Anticholinergika und einem Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten mit ihren verschiedenen Wirkansätzen wurde daher verschiedentlich getestet. In der SYNERGY-Studie wurde Solifenacin plus Mirabegron versus Plazebo versus Monotherapie bei 3527 OAB-Patienten, davon 77% weiblich, untersucht (2). Tägliche Inkontinenzepiso-
den und Miktionshäufigkeit wurden in einem Miktionstagebuch aufgezeichnet. Mit der Kombination Solifenacin 5,5 mg plus Mirabegron 50 mg konnten beide Parameter nach 12 Wochen im Vergleich zu den Monotherapien etwas optimiert werden (2). Die kürzlich abgeschlossene Studienverlängerung (SYNERGY II) auf 12 Monate zeigte eine anhaltende signifikante Symptomverbesserung unter der Kombination im Vergleich zu den Monotherapien. Inkontinenzfreiheit trat unter der Kombination bei 59% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein (vs. 53% Solifenacin bzw. 48% Mirabegron), eine Normalisierung der Miktionshäufigkeit stellte sich bei 56% unter der Kombination ein (vs. 46% bzw. 46%) (3). Die Kombination wurde gut vertragen. Infektionen der unteren Harnwege wie auch Somnolenz traten unter der Kombination seltener auf, trockener Mund und Obstipation etwas häufiger (2), so van der Aa. Die EAU-Guidelines 2019 empfehlen bei Patienten, die unter Solifenacin 5 mg keine ausreichende Symptomlinderung erreichen, anstelle einer Dosiseskalation die Zugabe von Mirabegron (4). Andere Möglichkeiten, Wirksynergien zu erreichen, bestehen in der Kombination von Pharmakotherapie und Neuromodulation oder Botox, so van der Aa.
Weitere Therapiestrategien
Bei einer 50-jährigen Frau mit gemischter Inkontinenz und vorherrschender OAB bestehen gemäss Experten verschiedene Möglichkeiten. Anticholinergika sind ein Hauptpfeiler in der Behandlung der Dranginkontinenz. Sie werden von den EAU-Guidelines als Retardformulierung empfohlen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Gabe von Mirabegron. Gemäss einem systematischen Review und einer Metaanalyse über 64 Studien (n = 46 666) ist Mirabegron 50 mg gleich effektiv wie eine Therapie mit Anticholinergika, provoziert jedoch weniger störende Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung und Harnretention. Die Kombination mit Solifenacin 5 mg war noch wirksamer als Mirabegron allein, in-
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duzierte allerdings auch mehr anticholinerge Nebenwirkungen (5). Alternativ zur medikamentösen Behandlung kann auch die perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS) versucht werden. Diese zeigte in einer Studie im Vergleich zum Anticholinergikum Tolterodin nach 12 Wochen ein besseres globales Ansprechen. Das heisst, in der PTNS-Gruppe gaben signifikant mehr Patienten eine Besserung oder Abheilung der OABSymptome an als unter Tolterodin. Die objektive Wirksamkeit der beiden Therapien war vergleichbar, die Sicherheit der PTNS konnte gezeigt werden (6). Des Weiteren können Koffeineinschränkung zur Harndrangverminderung beitragen, wie auch ein Gewichtsverlust zur Dranginkontinenzlinderung, so die Experten. Physiotherapeutische Massnahmen wie Blasentraining und Beckenbodenmuskeltraining verbessern ausserdem ebenso die Dranginkontinenz bei Frauen. Vaginal applizierte Östrogene tragen ebenfalls zu Linderung von OAB-Symptomen bei. Einen Versuch wert ist auch Duloxetin, das bei gemischter Inkontinenz (Drang und Stress) im Vergleich zu Plazebo eine signifikante Verbesserung gezeigt hat (7). Eine weitere Alternative zur täglichen
medikamentösen Therapie ist die Verab-
reichung von Botulinumtoxin A. Eine
Dosis von 100 IE hat gemäss einem Ver-
gleich zu oralen Therapien wie Anticho-
linergika und Mirabegron in einem syste-
matischen Review und einer Metaanalyse
über 56 randomisierte Studien nach 12
Wochen eine grössere Symptomlinde-
rung gezeigt als die meisten anderen zu-
gelassenen Pharmakotherapien (8). Die
sakrale Neuromodulation ist ebenfalls
eine Option, die gemäss ROSETTA-Stu-
die gleich effektiv wie 200 IE Botox bei
der Verbesserung der Harninkontinenz
nach 2 Jahren ist (9).
I
Valérie Herzog
Quelle: «Medical Management of OAB», 34. Jahreskongress der European Association of Urology (EAU), 16. bis 19. März 2019 in Barcelona.
Referenzen: 1. Michel M et al.: Chance of OAB patients to become
symptom-free upon anti-muscarinic treatment depends on age and gender. Presented at 34. EAU 2019, Barcelona. Poster PT 237. 2. Herschorn S et al.: Efficacy and safety of combinations of mirabegron and solifenacin compared with monotherapy and placebo in patients with overactive bladder (SYNERGY study). BJU Int 2017; 1204: 562–575. 3. Gratzke C et al.: Long-term Safety and Efficacy of Mirabegron and Solifenacin in Combination Compared with Monotherapy in Patients with Overactive
Bladder: A Randomised, Multicentre Phase 3 Study (SYNERGY II). Eur Urol 2018; 74: 501–509. 4. Burkhard et al.: EAU Guidelines on urinary incontinence 2019. https://uroweb.org/guideline/urinaryincontinence. Letzter Zugriff: 27.3.2019 5. Kelleher C et al.: Efficacy and Tolerability of Mirabegron Compared with Antimuscarinic Monotherapy or Combination Therapies for Overactive Bladder: A Systematic Review and Network Meta-analysis. Eur Urol 2018; 74: 324–333. 6. Peters KM et al.: Randomized trial of percutaneous tibial nerve stimulation versus extended-release tolterodine: results from the overactive bladder innovative therapy trial. J Urol 2009; 182: 1055–1061. 7. Bent A et al.: Duloxetine compared with placebo for the treatment of women with mixed urinary incontinence. Neurourol Urodyn 2008; 27: 212–221. 8. Drake M et al.: Comparative assessment of the efficacy of onabotulinumtoxin A and oral therapies (anticholinergics and mirabegron) for overactive bladder: a systematic review and network meta-analysis. BJU Int 2017; 120: 611–622. 9. Amundsen C et al.: Two-Year Outcomes of Sacral Neuromodulation Versus Onabotulinumtoxin A for Refractory Urgency Urinary Incontinence: A Randomized Trial. BJU 2018; 74: 66–73. 10. Kaplan SA et al.: Antimuscarinics for treatment of storage lower urinary tract symptoms in men: a systematic review. Int J Clin Pract 2011; 65: 487–507.
EAU-Guidelines Urininkontinenz https://uroweb.org/guideline/urinary-incontinence
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