Transkript
SGGG-EXPERTENBRIEF (EB) NR. 55
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 55
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Influenza- und Pertussis-Impfung in der Schwangerschaft
Impfen in der Schwangerschaft ist eine Strategie, deren Wirksamkeit weltweit beispielhaft an Tetanus gezeigt werden konnte und nun auf den Impfschutz gegen Influenza und Pertussis ausgeweitet wurde. Diese Impfungen werden bereits in vielen Ländern Europas, den USA und Australien für Schwangere empfohlen und umgesetzt. Ziel des vorliegenden Expertenbriefes ist es, die Evidenz der Wirksamkeit und Sicherheit dieser Impfungen in der Schwangerschaft darzulegen und entsprechende Empfehlungen für die Betreuung von schwangeren Frauen zu geben.
Evidenzlevel
Berger C., Niederer-Loher A., Bouvier Gallacchi M., Brügger D., Martinez de Tejada B., Spaar Zographos A., Surbek D.
Akademie feto-maternale Medizin (AFMM) und Kommission Qualitätssicherung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG/gynécologie suisse), Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF), Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), Bundesamt für Gesundheit (BAG)
Influenza
Risiko einer Influenza-Infektion für Mutter und Fetus Risiko für die schwangere Frau Veränderungen des Immunsystems während der Schwanger-
Die Influenza-Impfung während der Schwangerschaft vermindert das Risiko einer Influenza-Infektion und damit das Hospitalisations- und Komplikationsrisiko bei Säuglingen in den ersten sechs Lebensmonaten signifikant (13–15).
Sicherheit der Influenza-Impfung in der Schwangerschaft Die Influenza-Impfung in der Schwangerschaft hat nach aktuellem Wissensstand keine negativen Auswirkungen auf den Verlauf der Schwangerschaft, auf die Entwicklung des Fötus, auf den Zeitpunkt der Geburt oder auf Geburtskomplikationen. Es treten keine vermehrten lokalen oder systemischen Nebenwir-
Ia Ib
schaft unter anderem durch die Exposition gegenüber fetalen Antigenen bewirken eine vermehrte Anfälligkeit gegenüber verschiedenen Infektionen. Zudem prädisponieren die physio-
kungen der Impfung bei Schwangeren auf. Die InfluenzaImpfung während der Schwangerschaft ist sicher für Mutter und Kind und von der WHO explizit empfohlen (13, 16–20). Eine Fall-
logischen, hämodynamischen und respiratorischen Veränderun- Kontroll-Studie hat kürzlich ein erhöhtes Frühabortrisiko gefun- IIa IIb gen in der Schwangerschaft für schwerere Verläufe von den, wenn die Frauen im Vorjahr und innerhalb 28 Tagen vor
Infektionen, insbesondere von Influenza (1–3). Dies kann zu ver- dem Abort eine Influenza-Impfung erhalten haben; dies war
mehrten Hospitalisationen und erhöhter Mortalität führen. aber nicht der Fall, wenn die Frau im Vorjahr keine Impfung
Schwangere Frauen mit Grundkrankheiten (z.B. Asthma oder erhalten hat und auch nicht, wenn die Impfung mehr als 28 Tage
IIb Adipositas) sind dabei besonders gefährdet (4–6).
vor dem Abort erfolgte (21). Die bekannten Risikofaktoren (inkl.
frühere Aborte) für Spontanaborte waren ungleich verteilt zwi-
Risiko für Schwangerschaft, Fetus und Kind Eine Influenza-Infektion während der Schwangerschaft kann zu Komplikationen wie Frühgeburtlichkeit oder intrauteriner
schen den Gruppen. Das Fall-Kontroll-Design dieser Studie mit kleiner Fallzahl erlaubt keine Schlussfolgerungen über die Influenza-Impfung in der Frühschwangerschaft, insbesondere
IIb Wachstumsretardierung führen (6–8). In den ersten sechs da keine der anderen Studien solche Resultate gefunden haben
Lebensmonaten des Kindes ist eine Infektion mit einer höheren Letalität sowie einem deutlich vermehrten Risiko für Hospitalisationen und komplizierten Krankheitsverläufen beim Säugling
(22–25). Es besteht somit aktuell kein Grund, von der Empfehlung für die Influenza-Impfung in der gesamten Schwangerschaft abzuweichen.
IIa
verbunden (9–11).
Vorteile einer Influenza-Impfung in der Schwangerschaft Die Immunogenität der Influenza-Impfung während der
Zeitpunkt der Influenza-Impfung in der Schwangerschaft Die Influenza-Impfung kann und soll möglichst vor Ausbruch
der Grippeepidemie (meist Dezember bis April) durchgeführt
IV
Schwangerschaft ist aufgrund der vorliegenden Daten ver- werden. Eine Impfung ist deshalb unabhängig von der Ib gleichbar mit jener bei Nichtschwangeren. Sie vermindert das Schwangerschaftsdauer im Oktober/November empfohlen.
Risiko einer Influenza-Infektion und damit das Komplikations- Eine Nachholimpfung ist auch später noch während der
und Hospitalisationsrisiko für die schwangere Frau signifikant Influenzasaison sinnvoll (26). Der Verlauf der Grippesaison soll
(12, 13, 17).
jeweils berücksichtigt werden.
Eine Influenza-Impfung schützt auch den Fetus. Gemäss retro-
spektiven Kohortenstudien kommt es nach einer Influenza- Impfstoffwahl und Kosten
Impfung zu weniger Frühgeburten und weniger Wachstums- Alle in der Schweiz erhältlichen Influenza-Impfstoffe sind für
IIa restriktion (SGA) (8).
Erwachsene und damit für Schwangere zugelassen (Ausnahme
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Fluad®, zugelassen ab 65 Jahren), stehen auf der Spezialitätenliste und werden somit von der obligatorischen Grundversicherung bezahlt. Es ist zu beachten, dass Impfungen in der
der Elternschaft aber keinen Schutz mehr vor Pertussis haben und so zu Ansteckungsquellen für den Säugling werden können (34, 35).
IIa
Schwangerschaft sowohl der Franchise als auch dem Selbst-
behalt von 10% unterstehen. Für alle trivalenten inaktivierten Influenza-Impfstoffe liegt eine ausreichende Datenmenge vor, um die Impfstoffe ohne Präferenz eines Präparates in der
Wirksamkeit der Pertussis-Impfung
zum Schutz des Neugeborenen Der Schweizerische Impfplan sieht den Impfbeginn bei
Schwangerschaft zu empfehlen. Die neueren tetravalenten inak- Säuglingen im Alter von zwei Monaten vor, ein guter Schutz vor tivierten Influenza-Impfstoffe können ebenfalls in der Pertussis ist nach zwei Dosen, das heisst frühestens mit 4 bis 5
Schwangerschaft verwendet werden. Die Datenmenge ist hier Monaten zu erwarten. Viele schwere Krankheitsverläufe treten
noch nicht gleich ausgiebig wie für die trivalenten Impfstoffe, jedoch in den ersten 2 bis 3 Lebensmonaten auf (32). Um einen weshalb die explizite Empfehlung der Verwendung in der möglichst optimalen Schutz für den Säugling in dieser
Schwangerschaft in der Fachinformation zum Teil noch nicht besonders vulnerablen Phase zu erreichen, kann die Mutter
aufgeführt ist. Da sie aber bis auf den zusätzlichen Influenza-B- während der Schwangerschaft gegen Pertussis geimpft werden. Stamm genau gleich zusammengesetzt sind wie die trivalenten In den Wochen nach der Impfung bildet die Mutter Antikörper,
Impfstoffe, können sie analog eingesetzt werden. Da die die in ausreichender Menge auf den Fötus übertragen werden
Influenza-Impfung in der Schwangerschaft eine wichtige prä- und so das Neugeborene vor einer Pertussis-Infektion schützen. ventive Massnahme darstellt, wird eine franchisenbefreite Die Wirksamkeit der Pertussis-Impfung in der Schwangerschaft
IIa
Kostenübernahme, wie bei anderen Medikamenten in der ist ausgezeichnet und bietet mehr als 90% Schutz vor einer
Schwangerschaft, angestrebt.
Pertussis-Infektion beim Neugeborenen (36, 37). Da die Antikörpermenge rasch wieder absinkt und bereits nach kurzer
Kontraindikationen
Zeit nicht mehr für einen optimalen Nestschutz ausreicht, ist die
Es gibt keine absolute Kontraindikation. Eine dokumentierte Pertussis-Impfung in jeder Schwangerschaft empfohlen (38).
III
IIb schwere Hühnereiallergie (anaphylaktische Reaktion) ist nicht a Die Bestimmung der Pertussis-Antikörper ist für eine Impfpriori eine Kontraindikation für die Durchführung einer entscheidung weder indiziert noch geeignet.
Influenza-Impfung (27, 28). Dennoch sollte vor einer Impfung
ein fachärztliches Konsilium erfolgen.
Offene Fragen Die Wirksamkeit der Influenza-Impfung ist je nach zirkulieren-
Sicherheit der Pertussis-Impfung in der Schwangerschaft Gemäss der bisherigen Evidenz hat die Pertussis-Impfung bei
Schwangeren keine negativen Auswirkungen auf den Verlauf
der Schwangerschaft, auf die Entwicklung des Fetus, auf den
dem Virusstamm und Zielgruppe unterschiedlich: Bei älteren Zeitpunkt der Geburt oder auf Geburtskomplikationen. Es treMenschen liegt sie bei 30 bis 50%, bei gesunden Erwachsenen ten keine vermehrten lokalen oder systemischen Nebenwirkun-
Ib
bis 50 Jahre beträgt sie 70 bis 90%. Weitere Forschung ist not- gen der Impfung bei schwangeren Frauen im Vergleich zu nicht
wendig für eine zukünftige Verbesserung der Wirksamkeit. Die schwangeren Frauen auf (16, 18, 39, 40). Da die Pertussisfortlaufende Überwachung der Sicherheit einer Influenza- Impfung nur in Form eines Kombinationsimpfstoffes mit Tetanus
Impfung in der Schwangerschaft ist Bestandteil laufender und Diphtherie erhältlich ist, kann es vorkommen, dass nach
Studien und Surveillance-Systeme.
Pertussis
einer kürzlichen Tetanus-Impfung wegen einer Verletzung oder bei mehreren aufeinanderfolgenden Schwangerschaften mehrere Tetanus-Impfdosen innert kurzer Zeit verabreicht werden.
Risiko für Mutter und Kind Risiko für die Schwangere
Gemäss bisheriger Evidenz kann dies problemlos und ohne vermehrtes Risiko erfolgen (41). Im Vordergrund steht der optimale
Erwachsene Personen, einschliesslich schwangere Frauen, Schutz des Neugeborenen gegen Pertussis, den die Mutter
haben kein erhöhtes Risiko für eine schwere Erkrankung nach durch die Impfung in der Schwangerschaft ihrem Kind weitergeeiner Infektion mit Pertussis. Sie spielen aber eine grosse Rolle ben kann (41). Zur Sicherheit wiederholter Pertussis-Impfungen
IIa
als Infektionsquelle für Säuglinge und Kleinkinder, bei denen in aufeinanderfolgenden Schwangerschaften siehe Abschnitt eine Infektion zu schweren Erkrankungen mit hohem Kompli- «Offene Fragen» (unten).
kationsrisiko führen kann.
Risiko für das Kind
Zeitpunkt der Pertussis-Impfung in der Schwangerschaft Um eine ausreichende Menge transplazentar übertragener
Eine Pertussis-Infektion in den ersten Lebensmonaten ist mit Antikörper zu erreichen und so einen optimalen Schutz für das
einer besonders hohen Mortalität und Morbidität verbunden Neugeborene zu induzieren, soll die Pertussis-Impfung gemäss III (29–32). Die häufigsten Infektionsquellen für Pertussis bei aktuellem Wissensstand idealerweise im zweiten Trimester, spä- IIb
Säuglingen sind Familienmitglieder, nicht nur Geschwister, testens aber bis 2 Wochen vor der Geburt verabreicht werden
sondern vor allem die Eltern (33). Der Schutz gegen Pertussis (42, 43). Eine frühzeitige Impfung erhöht den Schutz für frühgeIII nach einer Impfung ist nicht lange anhaltend und verschwindet borene Kinder. Eine Impfung der Mutter im Wochenbett kann
nach wenigen (in Einzelfällen bis maximal zehn) Jahren, so den Säugling nicht in der vulnerablen Phase direkt nach der
dass junge Erwachsene, die in der Kindheit zwar empfehlungs- Geburt schützen, ist jedoch besser als keine Impfung. Sie ist gemäss gegen Pertussis geimpft wurden, zum Zeitpunkt jedoch im Sinne des Cocoonings (= Impfung der engen
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Kontaktpersonen) indiziert, wenn die Mutter in den letzten zehn Jahren keine Pertussis-Impfung hatte.
Kosten Die Pertussis-Impfung ist im Schweizerischen Impfplan als Basisimpfung für Erwachsene empfohlen. Die Impfstoffe (dTpa = Boostrix® und dTpa-IPV = Boostrix® Polio) sind für Erwachsene und auch in der Schwangerschaft zugelassen (wie üblich unter Abwägung von Nutzen und Risiko) und stehen auf der Spezialitätenliste. Die Kosten für die Impfung werden somit von der obligatorischen Grundversicherung übernommen. Es ist zu beachten, dass Impfungen in der Schwangerschaft sowohl der Franchise als auch dem Selbstbehalt von 10% unterstehen. Da die Pertussis-Impfung in der Schwangerschaft eine wichtige präventive Massnahme darstellt, wird eine franchisenbefreite Kostenübernahme, wie bei anderen Medikamenten in der Schwangerschaft, angestrebt.
Kontraindikationen Die Pertussis-Impfung ist kontraindiziert bei bekannter (dokumentierter), schwerer allergischer Reaktion (Anaphylaxie) auf diesen Impfstoff oder einen der Inhaltsstoffe.
Offene Fragen Die bisherige Evidenz (IIa) zeigt eine hohe Sicherheit wiederholter Pertussis-Impfungen (dTpa) in aufeinanderfolgenden Schwangerschaften. Diese Ergebnisse sollten durch weitere Studien bestätigt werden. Die Bestätigung des optimalen Zeitpunktes der Pertussis-Impfung für eine maximale Schutzwirkung ist Gegenstand laufender Studien (44).
Zusammenfassung
➤ Impfungen in der Schwangerschaft schützen die Mutter (direkter Schutz) und das Kind (Schutz durch transplazentare Übertragung mütterlicher Antikörper) vor gefährlichen Infektionen und deren Komplikationen.
➤ Die Influenza-Impfung in der Schwangerschaft ist sicher für Mutter und Kind. Sie soll jeder Schwangeren je nach Situation vor oder während der Influenzasaison unabhängig von der Dauer der Schwangerschaft empfohlen werden (auch im ersten Trimester möglich).
➤ Auch für die Pertussis-Impfung zeigt die aktuelle Studienlage, dass die Impfung in der Schwangerschaft sicher für Mutter und Kind ist. Die Pertussis-Impfung ist in jeder Schwangerschaft, idealerweise im zweiten Trimester empfohlen, unabhängig von Anzahl und Zeitpunkt vorhergehender Pertussis-Impfungen. Die Datenlage hinsichtlich Sicherheit bei wiederholten Impfungen ist aktuell zwar noch gering. Der Nutzen für das Neugeborene ist jedoch belegt, und die Daten zur Sicherheit sind konsistent. Der Nutzen für das Kind und die noch eher begrenzte Erfahrung sollen mit der schwangeren Frau besprochen werden, damit sie eine informierte Entscheidung treffen kann.
➤ Neben der Impfung der Mutter ist für einen optimalen Schutz des Neugeborenen auch die Impfung weiterer enger Kontaktpersonen, beispielsweise des Vaters, der Geschwister oder der Grosseltern wichtig (Cocooning).
Datum: November 2018 Die Autoren haben keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Expertenbrief.
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasiexpe-
rimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad
A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrol-
lierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete
Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib).
B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen
Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III).
C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen
Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ
guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind
(Evidenzlevel IV).
Good-Practice-Punkt
Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der
Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline
herausgibt.
Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006)
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