Transkript
FALLBERICHT
GYNEA – Schweizerische Arbeitsgruppe für Kinder- und Jugendgynäkologie
Bauchschmerzen bei einseitiger Nierenagenesie
Woran muss man denken?
Schätzungsweise 1 von 1000 Lebendgeborenen kommt mit nur einer Niere zur Welt. Bei Mädchen ist dies in 55 bis 70 Prozent der Fälle mit einer Müller-Anomalie verbunden, die weitreichende Folgen nach dem Eintritt der Menarche haben kann.
Von Alessandra Reichlin, Sonja Fontana und Renate Hürlimann
Eine 13-jährige Patientin kommt mit stärksten Unterbauchschmerzen auf die Notfallstation. Aufgrund der Bauchschmerzen war sie bis zum Vorstellungstag während dreier Tage in einem auswärtigen Spital hospitalisiert. Dort wurden wegen der Diagnose Obstipation mehrfach Einläufe durchgeführt. Eine im Rahmen der Abklärungen dort durchgeführte Sonografie des Abdomens ergab keine Auffälligkeiten, bis auf eine flüssig-
Das Wichtigste in Kürze
I Auch menstruierende Mädchen können einen Hämatokolpos haben!
I Bei jedem Mädchen mit unilateraler Nierenagenesie an das mögliche Vorliegen eines OHVIRA-Syndroms (obstructed hemivagina with ipsilateral renal anomaly) denken!
I Durchführung einer Sonografie des Abdomens einschliesslich des inneren Genitales bei einer Nierenagenesie/-anomalie in der Pubertät, um einen schmerzhaften Hämatokolpos zu verhindern.
keitsgefüllte Struktur im Unterbauch, welche man als Stuhl im Rektum und als Flüssigkeit aufgrund abführender Massnahmen interpretierte. Die Patientin wurde aus der peripheren Klinik mit stuhlregulativen Massnahmen und einer Analgesie nach Hause entlassen. Bei immobilisierenden Schmerzen erfolgt am gleichen Tag die Selbstvorstellung auf unserer Notfallstation.
Was ist bekannt?
Es besteht eine Nierenagenesie rechts, diese ist seit dem Säuglingsalter bekannt (Zufallsbefund im Rahmen einer Abklärung bei Erbrechen). Ansonsten ist die Patientin gesund. Gynäkologische Anamnese: Seit der Menarche vor einem Jahr leidet die Patientin unter Dysmenorrhö. Die Menstruation habe sie regelmässig alle 5 Wochen, die Blutungsintensität sei eher stark. Zudem sei sie nach der Menstruation immer verstopft, ein Therapieversuch mit Lactulose (Duphalac®) sei erfolglos gewesen. Keine sexuelle Aktivität. Letzte Menstruation zirka 1 Woche vor Vorstellung.
Status
Schmerzbedingt ist der Allgemeinzustand reduziert, aber kardiopulmonal bland. Das Abdomen ist weich. Es besteht Druckdolenz im Unterbauch, aber kein Rüttel- und kein Loslassschmerz; die Darmgeräusche sind normal. Gynäkologischer Status: Tanner P5, unter Traktion und Separation besteht ein normaler genitaler Untersuchungsbefund mit anulärem, östrogenisiertem Hymen.
Verlauf und Diagnose
Wegen der starken Schmerzen erfolgt eine Leitungseinlage. Die Schmerzkontrolle ist erst nach intravenöser Nalbuphingabe erreichbar. Im Labor erweist sich das Blutbild als normal, Entzündungs-, Nieren- und Leberwerte sind unauffällig, ebenso der Urinstatus. Die bei uns durchgeführte Sonografie des Abdomens bestätigt die unilaterale Nierenagenesie rechts. Zudem findet sich eine 15 × 7 cm lange, homogen flüssigkeitsgefüllte Raumforderung retrovesikal. Eine uterusähnliche Struktur ohne aufgebautes Endometrium zeigt sich links laterokranial der flüssigkeitsgefüllten Struktur (Abbildung 1). Diagnose: Hämatokolpos rechts und Nierenagenesie rechts mit/bei OHVIRASyndrom (obstructed hemivagina with ipsilateral renal anomaly) (Abbildung 2).
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FALLBERICHT
GYNEA – Schweizerische Arbeitsgruppe für Kinder- und Jugendgynäkologie
Abbildung 1: Der Hämatokolpos im transabdominalen Ultraschall: 1. Harnblase, 2. Hämatokolpos, 3. Darmschlinge
Abbildung 2: OHVIRA-Syndrom (nach [1]); OHVIRA: obstructed hemivagina with ipsilateral renal anomaly
Die Patientin wird zur Analgesie und zur operativen Versorgung stationär aufgenommen. Es erfolgt eine Vaginalfenestrierung rechtsseitig mit Entleerung von 1,5 l Altblut aus dem Hämatokolpos. Der anschliessende postoperative Verlauf ist unauffällig.
Diskussion
Die Häufigkeit einer unilateralen Nierenagenesie wird auf 1:1000 Lebendgeburten geschätzt. Bei Mädchen mit einer singulären Niere besteht in 55 bis 70 Prozent der Fälle eine Müller-Anomalie mit OHVIRA-Syndrom (2). Ein Vererbungsmechanismus ist bislang nicht bekannt. Es handelt sich um ein urogenitales Fehlbildungssyndrom, welches erstmals 1976 beschrieben wurde (3). Früher war es auch unter dem Namen Herlyn-WernerWunderlich-Syndrom bekannt. Die Hauptmerkmale sind eine Doppelanlage des Uterus mit Vaginalseptum sowie eine Nierenagenesie auf der Seite des Septums. Das Menstruationsblut kann deshalb unilateral nicht abfliessen, und dies führt nach der Menarche zu einem einseitigen Hämatokolpos. Symptomatisch werden die Mädchen in der Adoleszenz typischerweise mit Unterbauchschmerzen oder Dysmenorrhö (4), aber auch therapieresistente Obstipation, eine palpable Masse im Unterbauch, akuter Harnverhalt oder akutes Abdomen sind mögliche klinische Präsentationen. Nur ganz selten ist der Hämatokolpos bei der Genitalinspektion unter Traktion in der distalen Vagina sichtbar. Vor der
Menarche sind die Mädchen typischer-
weise beschwerdefrei.
Die unilaterale Nierenagenesie weist auf
ein OHVIRA-Syndrom hin! Jedes Mäd-
chen mit einer singulären Niere soll abge-
klärt werden, ob nicht zusätzlich eine asso-
ziierte Doppelanlage des Uterus im Sinne
eines OHVIRA-Syndroms vorliegt (2).
Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass
auch Mädchen mit multizystisch dysplas-
tischen Nieren ein erhöhtes Risiko haben
und daher ebenfalls abgeklärt werden
sollen.
In der hormonellen Ruhephase ist die so-
nografische Beurteilung des inneren Ge-
nitales erschwert. Falls die Ultraschalldia-
gnostik nicht im Neugeborenenalter (un-
ter dem Östrogeneinfluss der Mutter ist
der Uterus der Tochter sonografisch zu
erkennen) durchgeführt werden kann, ist
eine Sonografie zum Ausschluss eines
OHVIRA-Syndroms möglichst bald nach
der Menarche indiziert.
Die Therapie besteht in einer Exzision re-
spektive Fenestrierung des Septums. Die
rasche Diagnosestellung möglichst früh
nach der Menarche hilft, chronische
Schmerzen sowie chirurgische oder in-
fektiöse Komplikationen zu vermeiden,
und sie reduziert möglicherweise auch
das Endometrioserisiko (4).
I
Dr. med. Sonja Fontana Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung 8032 Zürich E-Mail: Sonja.Fontana@kispi.uzh.ch
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte bestehen.
Literatur: 1. Fontana S et al.: Die kindergynäkologische Untersu-
chung: Wann, wie und warum? Paediatrica 2018; 28. 2. Friedman MA et al.: Screening for Mullerian anoma-
lies in patients with unilateral renal agenesis: Leveraging early detection to prevent complications. J Pediatr Urol 2018; epub Feb 9, 2018. 3. Wiersma AF et al.: Uterine anomalies associated with unilateral renal agenesis. Obstet Gynec 1976; 47: 654–657. 4. Kapcuk K et al.: Obstructive Müllerian anomalies in menstruation adolescent girls: a report of 22 Cases. J Pediatr Adolesc Gynecol 2017; epub Oct 10, 2017.
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