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SCHWERPUNKT
Prädiktion und Prävention der postpartalen Hämorrhagie
Wesentliche Massnahmen in der Notfallprophylaxe
Die postpartale Hämorrhagie (PPH) ist ein geburtshilflicher Notfall und auch in den Industrieländern mit eine der Hauptursachen für die mütterliche Sterblichkeit. Die Inzidenz der PPH mit 1 bis 5% aller Geburten ist in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen. Daher ist es umso wichtiger, die Risikofaktoren zu kennen und mögliche präventive Massnahmen zu ergreifen.
JULIA POPELKA
Der Begriff postpartale Hämorrhagie (PPH) fasst mehrere Ursachen einer vermehrten Blutung nach Geburt zusammen. Dazu gehören die Uterusatonie, Verletzung der Geburtswege, Plazentarest oder Lösungsstörungen sowie eine Dekompensation der Gerinnung. Definiert ist die PPH als: I Blutverlust von ≥ 500 ml nach vaginaler Geburt I Blutverlust von ≥ 1000 ml nach Sectio caesarea. Insgesamt ist das Potenzial für eine starke Blutung nach der Geburt hoch. Dies beruht auf dem in der Spätschwangerschaft physiologisch erhöhten Blutfluss in der A. uterina, welche mit 500 bis 700 ml/min etwa 10% des Herzzeitvolumens entspricht. Nach der Lösung und Geburt der Plazenta verhindern zwei Mechanismen den starken Blutverlust: Einerseits kommt es durch Uteruskontraktion zur Kompression der Gefässe im Plazentabett, also zu einer mechanischen Hämostase. Andererseits führen Hämostasefaktoren zur Blutgerinnung. Ist einer dieser beiden Mechanismen gestört, kann es zu einer postpartalen Hämorrhagie kommen. Die Abbildung zeigt die gestiegene Inzidenz der schweren PPH.
Merkpunkte
I Wichtig für die Prädiktion ist das Erkennen von ante- und intrapartalen
Risikofaktoren.
I Je nach Risikokonstellation sollte die Entbindung in einer Geburtenabtei-
lung mit nötigem Know-how und Ressourcen (z.B. Blutspendedienst) geplant
werden.
I Routinemässig sollten prophylaktisch Uterotonika (Syntocinon® oder
alternativ bei Sectio caesarea Pabal®) in der Plazentarperiode bei allen
Geburten verabreicht werden.
I Massnahmen wie frühes Abnabeln und kontrollierter Zug an der Nabel-
schnur sind zu unterlassen.
Prädiktion (Risikofaktoren)
Mehrere Studien konnten ante- und intrapartale Risikofaktoren identifizieren (Tabelle). Die meisten Fälle von PPH treten jedoch ohne bekannte Risikofaktoren auf. Trotzdem helfen Anamnese und die Ultraschalldiagnostik bei der Einschätzung eines erhöhten Blutungsrisikos (1, 2). Diese Informationen sind essenziell für die Planung der Geburt. In Hochrisikosituationen sollten sie in einem Zentrum mit den notwendigen Ressourcen für Personal, medikamentöse Therapie, Equipment und Blutprodukte stattfinden. Eine gute Vorbereitung durch das Team im Gebärsaal kann einen schwerwiegenden Blutverlust und die damit verbundene Morbidität und Mortalität verringern. Bei der Ultraschalldiagnostik geht es hauptsächlich um den Ausschluss einer Placenta praevia sowie um das Erkennen einer «abnormal invasive placenta» (AIP) wie beispielsweise der Placenta increta, welche im Artikel ab Seite 10 beschrieben wird. Weitere epidemiologische Risikofaktoren sind erhöhtes mütterliches Alter, Adipositas und arterielle Hypertonie (3). Relevant ist auch das Wiederholungsrisiko. So haben Frauen, welche in der ersten Schwangerschaft eine PPH hatten, im Vergleich zu Frauen ohne positive Anamnese ein dreifach erhöhtes Risiko für die zweite Geburt (relative riskall = 3,0; 95%-KI: 2,9–3,1). In der dritten Schwangerschaft und nach zweimaliger PPH erhöht sich das Risiko bereits auf das Sechsfache (relative riskall = 6,1; 95%-KI: 5,1–7,2). Dabei ist nicht nur das Risiko für die gleiche Ursache (z.B. Atonie), sondern auch für andere Ursachen der PPH erhöht. Das höchste Wiederholungsrisiko zeigte sich bei Status nach Plazentaretention (4).
Peripartales Risikoassessment Das Risikoassessment sollte jedoch nicht nur antenatal durchgeführt, sondern auch kontinuierlich während
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und nach der Geburt reevaluiert werden. Studien haben gezeigt, dass eine länger andauernde und höher dosierte Gabe von Oxytocin signifikant das Risiko für eine Atonie und somit für eine PPH mit der notwendigen Transfusion von Erythrozytenkonzentraten erhöht. Pathophysiologisch ist dies durch die Desensibilisierung der Oxytocinrezeptoren am Uterus zu erklären. Durch die übermässige Stimulation, das heisst durch eine kontinuierliche Gabe oder eine hohe Dosierung, kommt es zu einer Abnahme der Oxytocin-vermittelten Uteruskontraktion (5). Häufig braucht es eine Oxytocinerhöhung bei protrahiertem Geburtsverlauf. Nach den Guidelines des American College of Obstetricians gilt als ein protrahierter Verlauf bei Nulliparen, eine Austreibungsperiode ohne Epiduralanästhesie (EDA) von > 2 Stunden und mit EDA > 3 Stunden. Eine verlängerte Austreibungsperiode, vor allem bei lang andauernder aktiver Pressphase, führt zur Erschöpfung der Uterusmuskulatur und erhöht damit das Risiko für eine PPH. Auch eine verlängerte Plazentarperiode birgt diese Gefahr. Sie ist klassischerweise definiert als Intervall von der Geburt des Kindes bis zur Plazentageburt von mehr als 30 Minuten. Diese Definition wurde nach einem Bericht von Comb und Kollegen 1991 festgelegt, in welchem eine erhöhte mütterliche Morbidität (dazu gehören auch die PPH und die Notwendigkeit von Bluttransfusionen) durch eine protrahierte Plazentarperiode nachgewiesen werden konnte (6). Daher haben Geburtshelfer ihre Praxis angepasst und sind zur aktiven Leitung der Plazentarperiode übergegangen. Eine aktuelle Studie von Frolova und Kollegen untersuchte, ob dieses Intervall auch heute als gültig betrachtet werden kann. In ihrer Kohorte dauerte die Plazentarperiode nach vaginaler Geburt (inkl. vaginal operativer Entbindung) bei 90% der Gebärenden ≤ 9 Minuten, bei 95% ≤ 13 Minuten. Nach 28 Minuten waren 99% der Plazenten geboren. Hierbei fand sich kein Unterschied zwischen Spontangeburt und vaginal operativer Entbindung. Sie konnten nachweisen, dass sich ab einer Plazentarperiode von mehr als 20 Minuten das Risiko für eine verstärkte Blutung verdoppelt (7).
Prävention mittels Oxytocin, Carbetocin, Tranexamsäure
Wie vorangehend besprochen, kann eine aktive Leitung der Plazentarperiode nach vaginaler Geburt nachweislich das Risiko für eine verstärkte postpartale Blutung um 50 bis 70% verringern. Hierzu gehört die prophylaktische Gabe von Uterotonika wie Oxytocin 5 IE in Kurzinfusion. Das in Syntocinon® enthaltene synthetische Oxytocin bindet an die Oxytocinrezeptoren der glatten Uterusmuskulatur und bewirkt dadurch eine Kontraktion im oberen Uterinsegment. Der richtige Zeitpunkt der Oxytocingabe – mit Geburt der Schulter, nach spätem Abnabeln
Rate pro 1000 Geburten
Gesamthaft schwere PPH Schwere atonische PPH Schwere nicht atonische PPH
Jahr
Abbildung: Inzidenz der schweren postpartalen Hämorrhagie (PPH) (adaptiert nach [2])
Tabelle:
Risikofaktoren der PPH
gemäss Leitlinienprogramm AWMF Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie
Blutverlust
Soziodemografische Risikofaktoren Adipositas (BMI > 35) Mütterliches Alter (≥ 30 Jahre)
> 500 ml
1,6 1,3–1,4
> 1000 ml 1,5
Geburtshilfliche Risikofaktoren Placenta praevia Vorzeitige Plazentalösung Plazentaretention Prolongierte Plazentarperiode Präeklampsie Mehrlingsgravidität Z.n. PPH Fetale Makrosomie HELLP-Syndrom Hydramnion (Lang anhaltende) Oxytocinaugmentation Geburtseinleitung Protrahierte Geburt
4–13,1 2,9–12,6 4,1–7,8 7,6 5,0 2,3–4,5 3,0–3,6 1,9–2,4 1,9 1,9 1,8 1,3–2 1,1–2
15,9 2,6 11,7–16,0 2,6
2,1–2,4
Operative Risikofaktoren Notkaiserschnitt Elektive Sectio caesarea Vaginal-operative Entbindung Episiotomie Dammriss
3,6 2,5 1,8–1,9 1,7–2,21 1,7
2,07 2,5
Sonstige Risikofaktoren
Antepartale Blutung
Von-Willebrand-Syndrom Anämie (< 9 g/dl) Fieber unter der Geburt
3,8 3,3 2,2 2
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SCHWERPUNKT
oder mit Geburt der Plazenta – wurde wenig untersucht. Die verfügbaren Studiendaten zeigen in diesen Situationen keine Unterschiede im Auftreten der Hämorrhagie (8). Zur Prävention der PPH bei einer Sectio caesarea kann alternativ zu Oxytocin (Syntocinon® 5 IE als Kurzinfusion) auch Carbetocin (Pabal®) verabreicht werden. Carbetocin ist ein lang wirkender Oxytocinagonist, welcher selektiv an die Oxytocinrezeptoren der glatten Uterusmuskulatur bindet. Dadurch wird diese zur rhythmischen Kontraktion und damit zur Tonisierung des Uterus stimuliert. Die Wirkung tritt nach 2 Minuten ein und hält für mehrere Stunden an. Die Anwendung ist zurzeit nur zur Prophylaxe einer PPH bei der Sectio unter Leitungsanästhesie zugelassen. Mehrere Studien konnten bereits eine vergleichbare Effektivität von Carbetocin wie von Oxytocin zur Prophylaxe der PPH nach vaginaler Geburt nachweisen (9). Zudem wurde die Wirksamkeit von Tranexamsäure in der Prophylaxesituation untersucht. Die Substanz hemmt die Aktivierung von Plasminogen und verhindert somit die Auflösung von Fibrin. In der Studie von Lakshmi und Abraham wurde vor der Sectio caesarea Tranexamsäure – dies zusätzlich zur Oxytocingabe nach Abnabeln des Kindes – verabreicht. Dies führte zu einem verminderten Blutverlust (10). Die derzeit laufende Studie TRAAP («TRAnexamic Acid for Preventing postpartum hemorrhage after vaginal delivery») untersucht nun auch den Einfluss auf den Blutverlust nach Spontangeburten. Zurzeit gehört die prophylaktische Gabe von Tranexamsäure (noch) nicht zur Routine.
Nicht medikamentöse Massnahmen Massnahmen wie frühes Abnabeln oder Zug an der Nabelschnur («cord traction») zeigten keinen signifikanten Effekt auf das Vorkommen oder das Volumen des Blutverlustes einer PPH (11). Da das frühe Abnabeln nachteilig für das Neugeborene ist, wird dies auch nicht mehr empfohlen. Ein systematisches Review konnte nachweisen, dass sofortiges Abnabeln zu einem verminderten Geburtsgewicht führt, welches ein vermindertes Blutvolumen des Kindes widerspiegelt. Ein Intervall von 1 bis 2 Minuten zeigte
dagegen Vorteile für das Neugeborene, welche sich
auch noch im weiteren Säuglingsalter zeigen (12).
Nach Expertenkonsens des Leitlinienprogramms der
DGGG, OEGGG und SGGG von 2016 sind daher
beide Massnahmen (frühes Abnabeln und Zug an der
Nabelschnur) zu unterlassen (13). Bezüglich der Ute-
rusmassage gibt es laut einem Review von Saccone
und Kollegen, in welches drei randomisiert kontrol-
lierte Studien eingeschlossen wurden, keine eindeu-
tigen Ergebnisse. Daher sollte die bisher individuell
angewandte Praxis beibehalten werden (14).
I
Pract. med. Julia Popelka Geburtshilfe und Perinatalmedizin/Frauenklinik Kantonsspital 5001 Aarau E-Mail: julia.popelka@ksa.ch
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Magann EF, et al.: Postpartum hemorrhage after vaginal birth: an analysis of risk factors. South Med J. 2005; 98(4): 419–422. 2. Kramer MS, et al.: Incidence, risk factors, and temporal trends in severe postpartum hemorrhage. Am J Obstet Gynecol 2013; 209(5): 449 e1–7. 3. Bateman BT, et al.: The epidemiology of postpartum hemorrhage in a large, nationwide sample of deliveries. Anaesth Analg 2010; 110(5): 1368–1373. 4. Oberg AS, et al.: Patterns of recurrence of postpartum hemorrhage in a large population-based cohort. Am J Obstet Gynecol 2014; 210(3): 229 e1–8. 5. Grotegut CA, et al.: Oxytocin exposure during labor among women with postpartum hemorrhage secondary to uterine atony. Am J Obstet Gynecol 2011; 204(1): 56 e1–6. 6. Combs CA, Murphy EL, Laros RK Jr.: Factors associated with postpartum hemorrhage with vaginal birth. Obstet Gynecol 1991; 77(1): 69–76. 7. Frolova AI, et al.: Duration of the third stage of labor and risk of postpartum hemorrhage. Obstet Gynecol 2016; 127(5): 951–956. 8. Soltani H, Hutchon DR, Poulose TH.: Timing of prophylactic uterotonics for the third stage of labour after vaginal birth. Cochrane Database Syst Rev, 2010(8): Cd006173. 9. Maged AM, Hassan AM, Shehata NA.: Carbetocin versus oxytocin for prevention of postpartum hemorrhage after vaginal delivery in high risk women. J Matern Fetal Neonatal Med 2016; 29(4): 532–6. 10. Lakshmi SD, Abraham R.: Role of prophylactic tranexamic acid in reducing blood loss during elective caesarean section: A randomized controlled study. J Clin Diagn Res 2016; 10(12): QC17–QC21. 11. Deneux-Tharaux C, et al.: Effect of routine controlled cord traction as part of the active management of the third stage of labour on postpartum haemorrhage: multicentre randomised controlled trial (TRACOR). BMJ 2013; 346: f1541. 12. McDonald SJ, et al.: Effect of timing of umbilical cord clamping of term infants on maternal and neonatal outcomes. Cochrane Database Syst Rev 2013(7): Cd004074. 13. <015-063l_S2k_Peripartale_Blutungen_Diagnostik_Therapie_PPH_2016-04.pdf> 14. Saccone G, et al.: Uterine massage as part of active management of the third stage of labor for preventing postpartum hemorrhage during vaginal delivery: a systematic review and meta-analysis of randomized trials. BJOG, 2017. Sep 7. doi: 10.1111/1471-0528.14923. [Epub ahead of print].
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