Transkript
EXPERTENBRIEF NR. 52 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 52
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Dieser Expertenbrief wurde in Absprache mit dem BAG erstellt, welches den Inhalt unterstützt.
Pränatale nicht invasive Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien
Im neuen Expertenbrief der SGGG werden die wichtigsten Voraussetzungen und Daten zur Sicherheit sowie die geltenden Regeln zur Kostenübernahme der nicht invasiven Risikoeinschätzung fetaler Aneuploiden zusammengefasst. Dazu wird ein Algorithmus der pränatalen Diagnostik vorgestellt.
Evidenzlevel
Kasten 1: Nicht invasiver Pränataltest (NIPT) für Einlingsschwangerschaften Die Bedingungen zur Kostenübernahme des NIPT durch die obligatorische Krankenversicherung (Klärung, ob Trisomien 21, 18 und 13 vorliegen) werden bei Einlingsschwangerschaften mit einem Risiko ≥ 1:1000 vorgenommen. (z.B. 1: 520)
Kasten 2: Ersttrimestertest (ETT) Bedingungen zur Kostenübernahme durch die Grundversicherung: I Zertifizierung der Ärztinnen und Ärzte (Inhaber des
Fähigkeitsausweises Schwangerschaftsultraschall; SGUM), Teilnahme an einem Ultraschallkurs in 11. bis 14. Schwangerschaftswoche (SSW), Einsendung von 5 Nackentransparenz-(NT-)Messungen mit Teilnahme am Audit (s. Homepage SGUM-GG). I Verwendung einer anerkannten Software zur Risikokalkulation (aktuell gültig: von FMF Deutschland oder FMF London zertifiziert).
Zeitpunkt: I ETT ab 11+0 bis 13+6 SSW (Schädel-Steiss-Länge [SSL]
45–84 mm) als «combined test» I Blutentnahme für PAPP-A und freies beta-HCG auch
möglich ab SSW 9+0 bei zweizeitigem Vorgehen. Dabei ist zu beachten, dass die SSL und die NTMessung nachträglich dem Labor mitgeteilt werden müssen, wenn Sie nicht selbst die Berechnung durchführen.
GYNÄKOLOGIE 4/2017
Nicole Ochsenbein, Thilo Burkhardt, Luigi Raio, Yvan Vial, Daniel Surbek, Sevgi Tercanli, Anita Rauch,
Isabel Filges, Siv Fokstuen
Arbeitsgruppe der Akademie für feto-maternale Medizin und Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik
In den frühen 1970er-Jahren war ein mütterliches Alter von über 35 Jahren die führende Indikation für eine invasive diagnostische Chromosomenuntersuchung an Chorionzotten oder im Fruchtwasser. Die dabei erzielbare relativ niedrige Detektionsrate und die relativ hohe Rate an invasiven Abklärungen (bei einem eingriffsbedingten Abortrisiko von rund 0,5%) haben dazu geführt, dass bessere und nicht invasive Verfahren entwickelt wurden, um Schwangere mit einem erhöhten Risiko für Trisomie 21 zu erfassen. Nach der AFP-plus-basierten Risikoevaluierung der 1980er- bis 1990er-Jahre kam das nackentransparenzbasierte Risikoevaluierungsverfahren mit Serummarker (Ersttrimestertest, ETT), wodurch die Detektionsrate speziell für Trisomie 21 auf 90% gesteigert wurde und die Anzahl an invasiven Eingriffen verringert werden konnte. Durch den Einsatz der Sonografie im Rahmen des ETT (ETTUS) werden zudem früh erkennbare und zum Teil schwerwiegende Fehlbildungen bereits im ersten Trimenon erkannt. Die ETT-Sonografie ist somit integraler Bestandteil der Schwangerenbetreuung. Zeigen sich im Ultraschall fetale Auffälligkeiten, wie beispielsweise eine erhöhte Nackentransparenz (≥ 95. Perzentile), oder Fehlbildungen, muss die Schwangere über die medizinische Indikation einer invasiven Abklärung zur Chromosomenuntersuchung (inklusive einer MicroarrayAnalyse) aufgeklärt werden.
Der NIPT
Bei unauffälligem Ultraschall steht in der Schweiz seit 2012 der nicht invasive pränatale Test (NIPT) als neue nicht invasive Screeningmethode für die häufigsten numerischen Chromosomenanomalien zur Verfügung. Dabei werden aus dem mütterlichen Blut DNA-Bruchstücke der Mutter und der Plazenta
IIa
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Abbildung: Schema zur pränatalen Abklärung bei spontan eingetretener Einlingsschwangerschaft, wenn diese zulasten der Grundversicherung geschehen soll. ETT: Kombinierte Risikokalkulation mittels Ultraschall- und Serummarker
(Zytotrophoblast; allgemein als «fetale» DNA bezeichnet) ver- Insbesondere bei 45,X- und 47,XXX-Befunden ist die
vielfältigt und mengenmässig den 46 Chromosomen zugeord- Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Ergebnis des NIPT plazen-
net. Die Analyse erfolgt somit an der gesamten freien DNA im tare Mosaikbefunde oder den mütterlichen Chromosomensatz
mütterlichen Blut. Bei einem Hinweis auf eine Chromosomen- repräsentiert. Sämtliche auffälligen NIPT-Resultate müssen
anomalie muss der Befund entsprechend durch eine diagnosti- daher durch eine invasive Diagnostik verifiziert werden. Zudem
sche invasive Untersuchung bestätigt werden, da die Ursache ist ein NIPT auch für Deletionen/Duplikationen technisch mög- IIb
der Chromosomenanomalie fetalen, plazentaren oder auch lich. Aufgrund ungenügender Datenlage wird ein solches
mütterlichen Ursprungs sein kann (siehe Punkt 8). Entsprechend Screening derzeit jedoch nicht empfohlen.
handelt es sich beim NIPT um ein Screeningverfahren und nicht Auch bei Zwillingsschwangerschaften ist ein NIPT für Trisomie
um einen diagnostischen Test.
21 durchführbar, wenn der Anteil an freier fetaler DNA ausrei-
chend ist. Die Fallzahlen liegen in entsprechenden Studien IIb
Sicherheit
gegenwärtig niedriger als bei Einlingsschwangerschaften, da
IIa Der NIPT ist bei Einlingsschwangerschaften das beste nicht Zwillingschwangerschaften seltener vorkommen.
invasive Verfahren, um eine der häufigsten Trisomien (Trisomie
21, 18 und 13) zu erfassen. Daten grosser Studien zeigten, dass Voraussetzungen der NIPT eine Detektionsrate für Trisomie 21 von > 99% auf- Entscheidend für die Durchführbarkeit des NIPT ist ein ausrei-
weist, bei einer Falschpositivrate von ≤ 0,09%. Diese Studien chender Anteil an freier «fetaler» DNA (ffDNA) an der gesam-
zeigten aber auch, dass der positive prädiktive Wert (PPV) des ten freien DNA im mütterlichen Blut. Der Anteil der ffDNA ist
NIPT für eine Trisomie 21 abhängig vom Ausgangsrisiko war. insbesondere abhängig vom Gestationsalter (GA) und vom
Bei unselektionierten Schwangeren lag er bei 50 bis 81% und Körpergewicht der Schwangeren (im Verhältnis weniger ffDNA
bei «high risk»-Schwangeren (= ETT-Risiko > 1:300, positive bei früherem GA und/oder höherem Gewicht der
Familienanamnese einer Aneuploidie oder vorherige Schwangeren). Zum empfohlenen Zeitpunkt der Durchführung
Schwangerschaft mit einer fetalen Trisomie) bei 94%.
eines NIPT (11+0 bis 13+6 SSW) kann von einem genügenden
Die Testperformance des NIPT für die Trisomien 18 und 13 Anteil an ffDNA ausgegangen werden.
liegt insgesamt niedriger. Aneuploidien der Geschlechts-
chromosomen können mittels NIPT ebenfalls erkannt werden, Kostenübernahme dies mit einer allerdings höheren Falschpositivrate von zirka 1% Seit Juli 2015 werden die Kosten des NIPT zur Risikoabschätzung
IIb bei einer Detektionsrate von rund 90%. Der PPV in dieser der Trisomien 21, 18 und 13 unter bestimmten Voraussetzungen
Gruppe liegt gesamthaft bei etwa 47% (30–67%).
von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP)
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zurückerstattet. Nach 2 Jahren wurde die Kostenübernahme von NIPT neu evaluiert. Die Arbeitsgruppe der Akademie für fetomaternale Medizin (AFMM) und die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) haben erneut zusammen mit Vertretern des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) an dieser Neubeurteilung mitgewirkt. Einzelne Punkte werden hier separat hervorgehoben (Abbildung).
Zusammenfassung der Voraussetzungen zur Durchführung des NIPT
1. Falls die Schwangere ein Trisomie-Screening (Trisomie 21, 18 und 13) wünscht und dieses zulasten der Grundversicherung erfolgen soll, muss als Erstes eine ETT-US entsprechend den Vorgaben der SGUM-GG. (https://www. sgumgg.ch/site/index.php/de/) durchgeführt werden.
2. Bei spontan konzipierten Einlingsschwangerschaften und unauffälliger ETT-US erfolgt als Nächstes die Risikokalkulation mittels des ETT. Bei einem Risikowert für Trisomie 21, 18 oder 13 von ≥ 1:1000 und unauffälligem Ultraschallbefund werden die Kosten des NIPT von der OKP erstattet. Beträgt das Risiko für Trisomie 21, 18 oder 13 ≥ 1:380 am Termin, besteht weiterhin eine Leistungspflicht der OKP für die invasive Diagnostik (CVS, AC). Beträgt das Risiko ≥ 1/10 wird eine Expertenmeinung zum Ausschluss von Fehlbildungen vor dem NIPT empfohlen. Aufgrund des hohen Risikos wird allerdings primär eine invasive Abklärung empfohlen.
3. Eine Ausnahme bilden Schwangerschaften nach ART und Zwillingsschwangerschaften: Aufgrund erhöhter Fehlerquote der PAPP-A- und beta-HCG-Werte im ETT und erhöhter Fehlbildungsraten müssen in der ETT-US Fehlbildungen vor der Durchführung eines NIPT ausgeschlossen und eine Risikokalkulation mittels Alter plus NT für Trisomie 21, 18 und 18 durchgeführt werden. Ergibt diese einen Risikowert für Trisomie 21, 18 oder 13 von ≥ 1:1000 bei normalem Ultraschallbefund, wird ein NIPT empfohlen. Die Kosten hierfür werden bei Einlingsschwangerschaften nach ART von der OKP erstattet, jedoch bei Zwillingen vorerst nicht – eine Kostenübernahme ab 2018 wird beantragt. Beträgt das Risiko für Trisomie 21, 18 oder 13 ≥ 1:380 am Termin, ist die OKP auch bei Zwillingen zur Kostenübernahme einer invasiven Diagnostik (CVS, AC) verpflichtet.
4. Weisen auffällige Ultraschallbefunde auf eine Chromosomenstörung hin, ist ein NIPT primär nicht indiziert, da ein erhöhtes Risiko für Chromosomenstörungen oder nicht chromosomale genetische Erkrankungen, welche nicht von einem NIPT erfasst werden, besteht. Eine Zweitmeinung bei einem Experten (= Schwerpunkttitelträger AFMM oder Tutor/Kursleiter der SGUM-GG) ist indiziert. In diesen Fällen muss primär die Indikation zu einer diagnostischen invasiven Abklärung mit Microarray-Analyse diskutiert werden.
5. Ein NIPT für strukturelle Chromosomenanomalien (Deletionen, Duplikationen) ist technisch möglich, wird aber derzeit von der OKP nicht erstattet. Die bisher vorliegenden Daten weisen auf höhere Falschpositivraten sowie niedrige positiv prädiktive Werte hin (modellierte PPV-Werte im Mittel 18%). Daher wird ein Screening auf strukturelle Chromosomenanomalien momentan nicht empfohlen.
6. Jeder auffällige NIPT-Befund muss durch eine invasive Diagnostik bestätigt werden, bevor beispielsweise ein Schwangerschaftsabbruch diskutiert wird. Wird eine Chorionzottenbiopsie durchgeführt, müssen Zellen des Zottenmesenchyms (auch im pränatalen Schnelltest) untersucht werden.
7. Die Labors müssen die Fraktion der ffDNA im Vergleich zum testspezifischen Grenzwert angeben.
8. Falsch positive NIPT-Resultate (auffälliger NIPT und normaler Karyotyp) bedürfen einer gesonderten Betrachtung, da sie auf einem Mosaizismus in der fetoplazentaren Einheit, einem «vanishing twin» oder anderen seltenen Ursachen (z.B. Mosaizismus bei der Mutter, Tumoren, Transplantationen), beruhen können. Biologisch und/oder technisch bedingt sind falschpositive Befunde häufiger, wenn seltene Chromosomenanomalien (z.B. Deletionen/Duplikationen) oder numerische Anomalien der Geschlechtschromosomen in die Untersuchung eingeschlossen werden.
9. Falls der NIPT kein Resultat nach einmaliger Wiederholung ergeben hat und ein erhöhtes Risiko für Aneuploidien besteht, sollte eine diagnostische invasive Abklärung angeboten und diskutiert werden.
10. Der Arzt, der die Untersuchungen veranlasst, muss die Schwangere nicht direktiv und entsprechend den Vorgaben des Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) beraten. Jede Schwangere muss vor der Durchführung einer pränatalen Diagnostik umfassend über die Möglichkeiten, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Testverfahren (ETT, NIPT, diagnostische invasive Abklärungen inklusive Microarray-Analyse) und deren Testperformance informiert werden sowie eine angemessene (d.h. den konkreten Umständen angepasste) Bedenkzeit erhalten. Die Aufklärung muss auch die Möglichkeit unerwarteter Befunde sowie eine Vereinbarung über deren Mitteilung enthalten. Dieses Gespräch ist zu dokumentieren. Die Schwangere ist vor wie auch nach der Untersuchung explizit über ihr Selbstbestimmungsrecht zu informieren. Nicht zulässig ist, für die Durchführung bereits das vorgängige Einverständnis für allfällige Folgemassnahmen zu verlangen.
11. Die Zustimmung zum NIPT muss schriftlich erfolgen und kann jederzeit widerrufen werden.
12. Die Schwangere hat ein Recht auf Nichtwissen, das heisst, sie kann die Kenntnisnahme von Informationen über das Erbgut des Embryos/Fötus verweigern, jedoch nicht wenn unmittelbar Gefahr für sie und/oder den Embryo/Fötus droht.
Datum des Expertenbriefs: 20.6.2017.
Referenzen: Bei den Autoren. Deklaration von Interessenkonflikten: Y. Vial: Mitglied im Scientific Board von «Gene Support». D. Surbek: Mitglied im International Scientific Advisory Board von «Natera»; Vortrag für «Esperite». S. Tercanli: Mitglied im Scientific Board von «Illumina inc». Alle anderen Autoren haben keine Interessenkonflikte.
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* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasiexpe-
rimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad
A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrol-
lierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete
Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib).
B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen
Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III).
C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen
Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ
guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind
(Evidenzlevel IV).
Good-Practice-Punkt
Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der
Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline
herausgibt.
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