Transkript
EXPERTENBRIEF NR. 49 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG (ERSETZT NR. 38!)
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 49
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Misodel und Misoprostol zur Geburtseinleitung
Die Substanz Misoprostol wird seit 20 Jahren zur Geburtseinleitung im Rahmen eines off label use verwendet. Seit Kurzem existiert mit Misodel® ein Misoprostolpräparat, welches von der Swissmedic zur Geburtseinleitung zugelassen ist. Ziel dieses Expertenbriefes ist es, Empfehlungen zur Unterstützung der Anwendung von Misodel zur Geburtseinleitung zu geben.
Evidenzlevel
Ia Ia Ia Ia/Ib
IV
Daniel Surbek, Irène Hösli, Olivier Irion, Roland Zimmermann, Yvan Vial
Misoprostol zur Geburtseinleitung
Misoprostol ist ein synthetisches Prostaglandin-E1-Analog, das in der Schweiz für die Therapie von Magen- und Duodenalulcera in einer Dosierung von oral 800 μg/Tag zugelassen ist (Cytotec® Tbl. à 200 μg). Aufgrund seiner stark kontraktilen Wirkung auf den Uterus ist es für Schwangere (gemäss Beipackzettel) kontraindiziert (1). Seit vielen Jahren wird das Medikament in der Geburtshilfe im Rahmen eines off label use für die Geburtseinleitung verwendet, da zahlreiche klinische randomisierte Studien und Metaanalysen die bessere Wirksamkeit bei ähnlichem Nebenwirkungsprofil im Vergleich zu Dinoproston (Prostaglandin E2) nachgewiesen haben. Die WHO hat Misoprostol aufgrund des guten WirkungsNebenwirkungs-Profils bei geburtshilflichem Einsatz, der guten Verfügbarkeit und der Haltbarkeit bei Zimmertemperatur auf die Liste der essenziellen Medikamente gesetzt (2). Misoprostol wird sowohl von der FIGO als auch von der ACOG für verschiedene Anwendungen in der Schwangerschaft und postpartal empfohlen (3–5). Unter Misoprostol werden im Vergleich zu Dinoproston bezüglich Nebenwirkungen etwas häufiger Polysystolie, CTG-Veränderungen und mekoniumhaltiges Fruchtwasser beobachtet. Die Häufigkeit schwerer Nebenwirkungen wie Uterusruptur oder neonatale Komplikationen ist jedoch nicht unterschiedlich, ausser bei vorausgegangener Sectio (erhöhtes Risiko der Uterusruptur) (12). Durch die Seltenheit solcher Ereignisse ist diese Aussage aber noch vorläufig (6, 7).
Problematik des Einsatzes für die Geburtseinleitung
Da nur ein Bruchteil der Dosierung von Misoprostol, welche in einer Tablette Cytotec enthalten ist, für die Geburtseinleitung benötigt wird, wird das zu verabreichende Misoprostolpräparat mittels verschiedener Methoden durch Spitalapotheken, aber auch durch geburtshilfliche Abteilungen selber aus den Original-Cytotec-Tabletten mittels Zerkleinerung (sowie Auflösung usw.) für die vaginale, orale oder sublinguale
Verabreichung hergestellt. Es besteht keine standardisierte Methode für diese Herstellung. Misoprostol ist äusserst empfindlich auf Feuchtigkeit. Durch die Zerstörung der Originaltablette ist die Stabilität des Wirkstoffes deshalb nicht mehr gegeben. Der exakte Wirkstoffgehalt der Präparate ist meist nicht geprüft, und damit ist die Pharmakokinetik (insbesondere die Bioverfügbarkeit) unbekannt. Diese Off-label-Anwendung von Misoprostol wird umso problematischer, wenn ein zugelassenes Misoprostolpräparat für die Anwendung bei unreifem Vaginalbefund zur Verfügung steht, was mit Misodel® seit Kurzem der Fall ist.
Misoprostol-Vaginalinsert (Misodel)
Auf dem Schweizer Markt (wie in vielen Ländern weltweit) ist im Oktober 2014 ein neues Misoprostolpräparat eingeführt worden, Misodel®, welches speziell für die Geburtseinleitung entwickelt wurde und von Swissmedic zugelassen ist. Es handelt sich um ein Vaginalinsert mit verzögerter Freisetzung des Wirkstoffes sowie um dieselbe galenische Form, welche beim Arzneimittel Propess® (Dinoproston) seit Jahren zur Geburtseinleitung im Einsatz ist. Enthalten sind 200 μg Misoprostol, welches als Slow-Release-Präparat mit einer durchschnittlichen Freisetzungsrate von 7 μg/Stunde abgegeben wird. Der maximale Plasmaspiegel von Misoprostol wird nach 7 Stunden erreicht. Misodel wird einmalig in die Vagina eingelegt und wird nach maximal 24 Stunden entfernt.
Klinische Unterschiede zwischen Misodel, Propess und Misoprostol vaginal Eine grosse doppelblinde, randomisierte Vergleichsstudie an über 1200 Patientinnen hat gezeigt, dass Misodel im Vergleich zu Propess effizienter ist und eine vaginale Geburt innerhalb klinisch signifikant kürzerer Zeit erreicht wird. Es fanden sich keine Unterschiede in der Rate an Sectiones und vaginal-operativen Entbindungen. Die Polysystolierate und die Rate an mekoniumhaltigem Fruchtwasser war höher unter Misodel. Das neonatale und maternale Outcome war nicht unterschiedlich (13). Eine weitere Studie an 400 Patientinnen in der Schweiz zum Vergleich von Misodel mit vaginalem Misoprostol (25 ųg, 4-stdl.) zur Geburtseinleitung hat ähnliche Ergebnisse gebracht. Bei den Patientinnen, deren Entbindungen mit Misodel
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eingeleitet wurden, fand sich eine signifikant kürzere Dauer bis zur Geburt bei gleichzeitig höherer Rate an Polysystolien. Es liessen sich keine prädiktiven Faktoren der Polysystolie eruieren. Keine Unterschiede waren bei der Sectiorate und der Rate vaginal-operativer Geburten vorhanden; das neonatale Outcome war ebenfalls gleich (14). Eine retrospektive Untersuchung bei 200 Patientinnen mit Misodel im Vergleich zu oral appliziertem Misoprostol (25–50 µg) bestätigte ebenfalls die kürzere Zeitspanne von der Einleitung bis zur Geburt unter Misodel, aber auch eine vierfach höhere Rate an Polysystolien (gemäss Abstract von Redling).
Kriterien zur Entfernung von Misodel Misodel sollte in folgenden Situation entfernt werden: I Geburtsbeginn/Beginn der aktiven Geburtsphase (ab 4 cm
Muttermund-[MM]-Eröffnung) I regelmässige, schmerzhafte Wehentätigkeit (auch vor einer
MM-Eröffnung von 4 cm) I übermässig starke und lang anhaltende Wehen (Dauer-
kontraktionen) I Polysystolie (mehr als 5 Wehen pro 10 Minuten in 3 aufein-
anderfolgenden 10-Minuten-Perioden) I Anomalien der fetalen Herzfrequenz.
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Wirksamkeit, Risiken und Anwendung von Misodel Aufgrund dieser Studien zeigt sich, dass Misodel ein sehr effektives Arzneimittel zur Geburtseinleitung ist, dass aber auch erhöhte Vorsicht geboten ist aufgrund der vermehrten Polysystolien. Auf diese Erfahrung hat auch die Swissmedic bereits im April 2016 mit einer Mitteilung reagiert, in der sie auf die erhöhte Polysystolierate hinweist: www.swissmedic.ch/marktueberwachung/00135/00157/03341/i ndex.html?lang=de Es empfiehlt sich, diese Mitteilung und die Kontraindikationen für Misodel zu beachten und das Mittel ausschliesslich bei gutem fetalem Zustand (normales CTG, keine fetale Wachstumsretardierung) anzuwenden. Zudem sollte der Bishop-Score vor der Einleitung konsequent bestimmt und Misodel ausschliesslich bei einem unreifen Bishop-Score verwendet werden (Score 0–4). Wichtig zu beachten ist der Unterschied in der Eliminationshalbwertszeit. Diese beträgt bei Misodel zirka 30 bis 40 Minuten (bei Propess hingegen nur ca. 3 Minuten). Dies bedeutet, dass Misodel entsprechend frühzeitig entfernt werden muss, um eine Polysystolie zu vermeiden.
Weitere Methoden der Geburtseinleitung Generell sind weitere Methoden zur Geburtseinleitung verfügbar. Dazu gehören insbesondere: I Syntocinon®-Infusion und Amniotomie I Ballonkatheter (z.B. Cook-Katheter®) I andere Prostaglandine (Propess® Vaginalinsert, Prostin®
Vaginalovula). Die Wahl der Methode ist abhängig von der klinischen Situation und der Präferenz des Anwenders.
Zusammenfassende Empfehlungen zur Anwendung
I Misodel® ist ein neues von der Swissmedic zugelassenes Arzneimittel zur Geburtseinleitung. Es ist wirksamer als Dinoprostonpräparate und kann deshalb bei Indikationen wie Terminüberschreitung, vorzeitigem Blasensprung, Gestationsdiabetes, Hypertonie/Präeklampsie (ohne fetale Wachstumsretardierung) als Prostaglandin der Wahl eingesetzt werden.
I Bei der Wahl des Medikamentes zur Geburtseinleitung muss beachtet werden, dass die Wirksamkeit von Misodel® grösser ist und gleichzeitig Polysystolien häufiger vorkommen im Vergleich zu Propess® (Dinoproston) und Misoprostol intravaginal (off-label). Das heisst, dass Misodel nur nach
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* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasiexpe-
rimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad
A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrol-
lierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete
Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib).
B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen
Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III).
C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen
Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ
guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind
(Evidenzlevel IV).
Good-Practice-Punkt
Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der
Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline
herausgibt.
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36 0/7 Schwangerschaftswochen und nur bei unreifem Bishop-Score (0–4) und gutem fetalem Zustand eingesetzt werden sollte. Bei einem Bishop-Score ≥ 5 und in Situationen mit fetaler Beeinträchtigung (insbesondere intrauterine Wachstumsretardierung, Small-for-GestationalAge, Frühgeburtlichkeit und Zwillingsschwangerschaft) ist Misodel® zurzeit nicht empfohlen respektive kontraindiziert. In Fällen, in denen Misodel® nicht geeignet ist, sind Dinoprostonpräparate (Propess® Vaginalinsert, evtl. Prostin® Vaginaltablette), Ballonkatheter oder bei reifem BishopScore die Oxytocineinleitung mit Amniotomie zur Geburtseinleitung empfohlen. I Die fetale Überwachung bei der Verwendung von Misodel sollte sich an die gängigen Empfehlungen (z.B. NICEGuidelines, ACOG-Guidelines, SCOG-Guidelines) bei Geburtseinleitung mit Prostaglandinen halten (siehe Referenz 15–19). Bei Polysystolie ist eine Überwachung mittels Dauer-CTG empfohlen. I Bei vorausgegangener Sectio ist Misodel® aufgrund des erhöhten Rupturrisikos kontraindiziert. Das niedrigste Rupturrisiko in dieser Situation haben der Ballonkatheter (z.B. Foley- oder Cook-Ballonkatheter) oder die OxytocinInfusion mit Amniotomie. Auch mit Dinoproston besteht ein im Vergleich dazu ein erhöhtes Uterusrupturrisiko. Falls Dinoproston (Propess® oder Prostin®) dennoch angewendet wird, sind zusätzliche Vorsichtsmassnahmen und eine vorgängige Aufklärung der Patientin über das im Vergleich zu den anderen Methoden erhöhte Rupturrisiko und den off label use dringend empfohlen. I Prinzipiell ist es empfehlenswert, bei jeder Geburtseinleitung (unabhängig von der Methode) eine schriftliche Einverständniserklärung der Patientin über die Geburtseinleitung, deren Vorteile und Risiken (inklusive Uterusruptur) einzuholen. Die SGGG hat eigens dafür ein Aufklärungsprotokoll erstellt, welches auf der Webseite downloadbar ist.
I Andere für diese Indikation nicht zugelassene Misoprostolpräparate werden zur Geburtseinleitung bei lebendem Fetus und unreifem Vaginalbefund nicht mehr empfohlen. Wer trotzdem Misoprostol im off label use anwenden will, muss sicherstellen, dass das Präparat die geforderte Stabilität hat und dass die Patientin vorgängig
ausführlich über den off label use und die vorhandenen zugelassenen Alternativen (inklusive Misodel) aufgeklärt wird (siehe auch Expertenbrief Nr. 23). I Es muss daran erinnert werden, dass unabhängig vom verwendeten Arzneimittel für Geburtseinleitungen in seltenen Fällen gravierende Nebenwirkungen für Mutter und Kind auftreten können. Die Verwendung von Kontraktionsmitteln soll deshalb immer stationär in Kliniken, in denen jederzeit eine Notsectio möglich ist, und unter entsprechenden Überwachungs- und Vorsichtsmassnahmen erfolgen.
Datum des Expertenbriefs: 5.4.2017.
Interessenkonflikte der Autoren in Zusammenhang mit diesem Expertenbrief: D. Surbek: Referentenhonorare und unrestricted grant für Investigator-initiierte Studie (Ferring). I. Hösli: Referentenhonorare und unrestricted grant für Investigator-initiierte Studie (Ferring). O. Irion: keine. R. Zimmermann: keine. Y. Vial: keine.
Referenzen: 1. Arzneimittelkompendium der Schweiz. Documed AG Basel, 2010. 2. WHO Model list of essential medicines. 16th list, March 2009 (Unedited version – 30 April 2009). 3. Weeks A, Faundes A: Misoprostol in obstetrics and gynecology. Int J Gynaecol Obstet. 2007; 99, Suppl 2: S156-159. 4. Elati A, Weeks AD: The use of misoprostol in obstetrics and gynaecology. BJOG. 2009; 116 Suppl 1: p. 61–69. 5. ACOG Practice Bulletin No. 107: Induction of labor. Obstet Gynecol. 2009. 114 (2 Pt 1): 386–397. 6. Hofmeyr GJ, Gulmezoglu AM, Pileggi C: Vaginal misoprostol for cervical ripening and induction of labour. Cochrane Database Syst Rev, 2010. 10: CD000941. 7. Alfirevic Z, Weeks A: Oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev, 2006: CD001338. 8. Weeks A et al.: Misoprostol for induction of labor with a live fetus. Int J Gynaecol Obstet. 2007; 99 Suppl 2: S 194–197. 9. Surbek D et al.: Off-label-Use von Arzneimitteln in Gynäkologie und Geburtshilfe. Expertenbrief Nr. 23, Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 2007. 10. Dällenbach P et al.: Oral misoprostol or vaginal dinoprostone for labor induction: a randomized controlled trial. Am J Obstet Gynecol 2003;188:162-167. 11. Surbek DV, Bösiger H, Hösli I, Pavic N, Holzgreve W: A double-blind comparison of the safety and efficacy of intravaginal Misoprostol and Prostaglandin E2 to induce labor. Am J Obstet Gynecol 1997; 177: 1018–1023. 12. Surbek DV: Misoprostol for labor induction in term pregnancy. Eur Clinics Obstet Gynaecol 2007; 3: 25–29. 13. Wing DA et al.: Misoprostol vaginal insert and time to vaginal delivery. Obstet Gynecol 2013; 122: 201–209. 14. Bolla D, Weissleder S, Radan A, Gasparri M, Raio L, Mueller M, Surbek D: Efficacy and safety of misoprostol vaginal insert compared to misoprostol vaginal tablets for induction of labor (submitted for publication). 15. National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE): Induction of labour. NICE clinical guideline 70. 2008 (online access). 16. SOGC Clinical Practice Guideline: Induction of Labour. J Obstet Gynaecol Can 2013; 35 (9): S1-18. 17. DGGG Leitlinie: Anwendung von Prostaglandinen in Geburtshilfe und Gynäkologie. AWMF Leitlinien-Register 015 / 031, 2008 (online access), zur Zeit in Überprüfung. 18. ACOG Practice Bulletin Commitee: Induction of Labor. Obstet Gynecol 2009; 114 (2) 386–397. 19. Wing D et al.: Techniques for ripening the unfavorable cervix prior to induction. UpToDate. January 5th 2017 (online access).
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