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Kongressbericht
EAU 2017 – European Association of Urology, London, 24. bis 28. März 2017
Overactive bladder (OAB)
Bei Drang und Nykturie auch nicht-urologische Ursachen abchecken
Dranginkontinenz und Nykturie erzeugen einen grossen Leidensdruck, bei sozialem Rückzug und andauerndem Schlafentzug sind Beeinträchtigungen im Alltag und erhöhtes Sturzrisiko bei älteren Personen häufige Folgen. Nykturie kann ein «Blasenproblem» sein, es können aber auch nicht urologische Ursachen dahinterstecken, die es abzuchecken gilt.
Viele Frauen nehmen bei Symptomen der überaktiven Blase (OAB) wie Dranginkontinenz und Nykturie keine ärztliche Hilfe in Anspruch – man erleidet, erträgt es und zieht sich aus dem sozialen Leben zurück. Ein proaktives Nachfragen seitens des Arztes könnte hier einigen Frauen das Leben wieder leichter machen. Denn jede dritte Frau über 40 Jahre hat mit Symptomen der Blasenkontrolle zu kämpfen, davon sind Drang und Nykturie mit steigendem Alter zunehmend und wurden auch als störendste Symptome angegeben (1).
dies auch in Kombination mit vaginal appliziertem Östrogen (4). Bei Frauen, die ihre körperlichen Aktivitäten wegen der OAB-Symptome eingeschränkt hatten, führte die Gabe des Antimuskarinikums nach zwölf Wochen zu einer signifikanten Reduktion der Einschränkungen, wie eine Untersuchung bei 137 OAB-Patientinnen per Fragebogen zeigte (5). Die aktuellen EAU-Guidelines 2016 (6) empfehlen denn auch bei Frauen Antimuskarinika (Grad A), bei postmenopausalen Frauen mit Harnkontinenz vaginales Östrogen (Grad A).
ausgeschieden (7). Blutdrucksenkung, Ödembekämpfung mit Strümpfen, Diuretika tagsüber oder regelmässiges Beinehochlagern, physische Aktivität und Gewichtsverlust sind hier laut Everaert mögliche unterstützende Massnahmen. Es gibt aber auch Erkrankungen wie Parkinson und Multiple Sklerose, die den zirkadianen Rhythmus beeinträchtigen und die nächtliche ADH-Sekretion reduzieren, was wiederum zu mehr Harnproduktion in der Nacht führt (7). Obstruktive Schlafapnoe ist ebenfalls eine oft übersehene Ursache von nächtlicher Polyurie. Der erhöhte Atemwiderstand führt indirekt zu einer Sekretion atrialer natriuretischer Peptide und reduziertem ADH, was die nächtliche Wasserausscheidung erhöht. Zu untersuchen ist natürlich auch die Flüssigkeitsaufnahme. Wer viel trinkt, scheidet auch viel Flüssigkeit aus. Ein Trinkprotokoll gibt hier Aufschluss (7).
Antimuskarinika als Option bei OAB
Nach der Menopause kommt es infolge Östrogenrückgangs oft zu vaginaler Atrophie und Veränderungen im unteren Harntrakt, die ebenfalls zu Drang, Pollakisurie, Nykturie, Stressinkontinenz und Infektionen führen können (2). Auch bei vaginaler Trockenheit ist die Prävalenzrate für OAB-Symptome erhöht (3). Diesen Frauen helfen zuerst einmal vaginale Feuchtigkeitscremes, Lubrikanzien oder eine lokale Östrogentherapie gegen die vaginalen Symptome, so die Empfehlung von Prof. Montserrat Espuna Pons, Klinik für Urogynäkologie, Universitätsspital Barcelona, am Satellitensymposium von Pierre Fabre anlässlich des EAUKongresses in London. Bei Symptomen der OAB ist laut der Gynäkologin das Antimuskarinikum Fesoterdodin (Toviaz®) eine gute Option. In einer kleinen Studie führte Fesoterodin 4 mg (1. Woche) beziehungsweise 8 mg (2.–12. Woche) bei postmenopausalen Frauen zu einer markanten Verbesserung der OAB-Symptomstärke und der sexuellen Funktion,
Bei Nykturie «in alle Richtungen» denken
Steht die Nykturie im Vordergrund der Beschwerden, sollte auch nach nicht urologischen Ursachen gesucht werden. Sexualhormone beeinflussen beispielsweise das adiuretische Hormon (ADH). Progesteron sorgt für niedrigere ADHSpiegel und damit vermehrte Wasserausscheidung, Östrogen steigert den ADH-Spiegel, was die Wasserexkretion bremst. Eine Hormonersatztherapie in der Menopause könnte bei einer Nykturie unterstützend wirken (7), dies führte Prof. Karel Everaert, Department of Urology, Ghent University Hospital, Belgien, an einer wissenschaftlichen Session am EAU-Kongress aus. Bei kardiovaskulären Patienten mit Hypertonie und venösen Ödemen sowie bei Patienten mit Herz-, Nieren- oder Leberinsuffizienz besteht in aufrechter Position ein zentraler hydrostatischer Druck. Legen sich die Patienten zum Schlafen nieder, fliesst die gestaute Flüssigkeit in das intravaskuläre Kompartiment zurück, das überschüssige Wasser wird via Niere
«Sammelbecken Adipositas»
Bei Adipositas vereinen sich alle erwähnten Ursachen: Adipöse Patienten nehmen viel Proteine und Salz auf, was sie auch durstig macht und viel trinken lässt. Durch den hohen intraabdominalen Druck im Körper ist die Filtration und damit die Diurese «angeheizt». Adipöse Patienten sind in der Regel auch hyperton, schnarchen häufig nachts und haben oft auch Typ-2-Diabetes mellitus – alles diuresefördernde Störungen. Übergewichtige Patienten zeigen zudem mehr Symptome der unteren Harnwege wie beispielsweise eine diabetische Zystopathie.
Screening mit TANGO-Fragebogen
Herauszufinden, ob und welche für die Nykturie klinisch relevanten koexistierenden Erkrankungen vorhanden sind, ist mit einer nur wenige Minuten dauernden Fragebogenbeantwortung sehr einfach geworden. Australische Ärzte haben den Short-Form-Fragebogen TANGO (= Tar-
GYNÄKOLOGIE 3/2017
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Kongressbericht
EAU 2017 – European Association of Urology, London, 24. bis 28. März 2017
TANGO-SF-SCREENING-FRAGEBOGEN
Zutreffendes bitte ankreuzen
(mod. nach [4])
kardial/metabolisch
Meine Knöchel, Füsse oder Beine schwellen tagsüber an. Ich nehme Wassertabletten (z.B. Lasix). Ich habe eine Nierenkrankheit. Ich nehme Blutdrucktabletten. Mir wird oft schwindlig, wenn ich aufstehe. Ich habe hohen Blutzucker oder Diabetes. Es ist schwierig, meinen Blutdruck stabil zu halten. Ich schlafe 5 Stunden oder weniger pro Nacht. Ich würde meine Schlafqualität als schlecht bezeichnen. Ich brauche mehr als 30 Minuten, um einzuschlafen. Ich habe wegen meiner Blase Schwierigkeiten durchzuschlafen. Ich habe nachts oft Schmerzen.
Schlaf
Man sagt, dass ich in der Nacht laut schnarche oder dass mein Atem stoppt.
Innerhalb von 3 Std. nach dem Zubettgehen muss ich aufstehen, um zu urinieren. Ich verspüre plötzlichen Harndrang an den meisten Tagen. Mindestens einmal in der Woche passiert ein Harndrangunglück.
Harnwege
Wohlbefinden
Ich muss mich oft anstrengen oder pressen, um das Urinieren in Gang zu bringen. (nur für Männer) Ich habe eine vergrösserte Prostata. Im Allgemeinen würde ich sagen, dass meine Gesundheit nicht gut ist. Beim Autofahren, Essen oder bei sozialer Aktivität werde ich oft schläfrig. Ich bin in den letzten 3 Monaten einmal gestürzt. Ich freue mich nicht mehr so auf Dinge, wie ich es früher tat.
Abbildung: Der TANGO-Fragebogen zeigt schnell, welche Patientinnen zu welcher Fachdisziplin überwiesen werden müssen (modifiziert nach [8]).
Quellen: Satellitensymposium «Dealing with complex OAB patient profiles – in or of EAU guidelines» (Veranstalter: Laboratoires Pierre Fabre), anlässlich des EAU 2017. «Treatment of nocturia, what really works»; Session anlässlich des EAU 2017.
Referenzen: 1. De Ridder D et al.: Overactive bladder symptoms,
stress urinary incontinence and associated bother in women aged 40 and above; a Belgian epidemiological survey. Int J Clin Pract 2013; 67: 198–204. 2. Calleja-Agius J et al.: The urogenital system and the menopause. Climacteric 2015; 18: 18–22. 3. Juliato CR et al.: Subjective urinary urgency in middle age women: A population-based study. Maturitas 2016; 85: 82–87. 4. Chugtai B et al.: The concomitant use of fesoterodine and topical vaginal estrogen in the management of overactive bladder and sexual dysfunction in postmenopausal women. Post Reprod Health 2016; 22: 34–40. 5. Chu CM et al.: The Impact of Treatment of Overactive Bladder on Physical Activity Limitations. J Womens Health 2016; 25: 801–805. 6. EAU Guidelines 2016, www.uroweb.org/guidelines. Letzter Zugriff: 30.3.17. 7. Van Kerrebroeck P et al.: Terminology, Epidemiology, Etiology, and Pathophysiology of Nocturia. Neurourol Urodyn 2014; 33 Suppl: S2–5. 8. Bower W et al.: TANGO – a screening tool to identify comorbidities on the causal pathway of nocturia. BJU Int 2017 Jan 11; Epub ahead of print.
get Aetiology of Nocturia to Guide optimal Outcomes) entwickelt und validiert, der durch Patienten ausgefüllt wird. Aus 22 einfach formulierten Aussagen aus 4 Indikationsgebieten (kardial/metabolisch, Schlaf, Harnwege und Wohlbefinden) kreuzt die Patientin/der Patient die zutreffenden an (Abbildung). Das ermöglicht beispielsweise die Entdeckung der Notwendigkeit eines Schlafassessments, einer Untersuchung auf Diabetes, einer Schmerzintervention oder einer Depressionsabklärung – alles Faktoren, die die
nächtliche Urinspeicherung beeinflussen, so die Begründung der Entwickler. Patienten, die mehr als einmal in der Nacht «unterwegs sind», haben eine hohe Morbidität, die mit den Erkenntnissen aus TANGO mehrgleisig angegangen werden kann (8). «Mit diesem Fragebogen weiss man auf einen Blick, welche Patienten man zu welcher Fachdisziplin weiterweisen muss. Das spart viel Zeit», so resümiert Everaert abschliessend. L
Valérie Herzog
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